Die WOZ-Wahlserie (2)
Sicherheit demokratisieren!
Von Katrin Meyer
Die Philosophin Katrin Meyer erklärt, wie sich der konservative und der liberale Sicherheitsbegriff ergänzen. Und wie die Linke aus dieser doppelten Umzingelung ausbrechen könnte.
«Der Mythos der sicheren Schweiz ist überholt», so lautet das Fazit einer von den kantonalen Polizeikommandanten beauftragten Opferbefragung vom August 2011. Sie zeigt, dass sich die Schweiz in Hinsicht auf Kriminalität und Sicherheit nur noch im europäischen Mittelfeld bewegt. Die Forderungen der StudienmacherInnen und -auftraggeberInnen, wen wunderts, decken sich: Sie kritisieren das milde Strafrecht und fordern eine Aufstockung der Polizei.
Dieses Beispiel ist nur eines unter vielen. Das Ausmessen der Ängste der Bevölkerung und die statistische Erfassung von Verbrechen mitsamt den manchmal abenteuerlichen Interpretationen ihrer Ursachen und Korrelationen sind das tägliche Geschäft von Medien, Behörden und Politik. Und dies gilt nicht nur für die Schweiz, sondern für die westliche Politik generell.
Sicherheit ist in der Gegenwart eine der grundlegenden, viele meinen: die grundlegende Aufgabe der westlichen Staaten geworden. Diese Aufgabe ist kein Produkt des Zeitgeistes, sondern lässt sich bis zu den Ursprüngen moderner Staatlichkeit zurückverfolgen. Im 17. Jahrhundert formulierte der englische Philosoph Thomas Hobbes als einer der Ersten, dass die Aufgabe des Staates nicht mehr darin liege, einem (göttlichen) Gerechtigkeitsprinzip Genüge zu tun, sondern darin, den Bürgerkrieg zu verhindern und Leib, Leben und Eigentum der (männlichen) Untertanen zu schützen. Der Staat lässt sich nach Hobbes nur dadurch rechtfertigen, dass er Ruhe und Ordnung herzustellen vermag. Seither sind der Respekt vor Law and Order und die Angst vor Bürgerkrieg und Anarchie zentrale Bausteine jeder staatlichen Politik.
Die beiden Extreme
Die Legitimation des Staates durch seine Sicherheitsaufgabe kommt historisch in zwei Extremen vor: einer maximal-absolutistischen und einer liberal-minimalistischen. Die eine Variante mündet im illiberalen Staat, in dem die Freiheitsrechte des Individuums dem staatlichen Monstrum des «Leviathans» (Hobbes) geopfert werden. Demnach dürfen, wenn Gefahr droht, liberale Grundrechte wie der Datenschutz, die Versammlungs- und Pressefreiheit oder Grundsätze der Verhältnismässigkeit der Strafe aufgehoben werden, denn im Namen der Sicherheit herrscht der Staat im permanenten Ausnahmezustand. Diese Entwicklung, die Hobbes gedanklich vorbereitet hat, bestimmt die konservative Sicherheitspolitik bis heute. Einschlägig dafür sind in der Schweiz die Eingrenzungen, Zwangsausschaffungen, nächtlichen Ausgangssperren, Demonstrationsverbote und vieles mehr, das im Namen der Sicherheit gegen Arme und Schutzlose, gegen Kranke, Junge und politisch Aufmüpfige aufgeboten wird. Kulminationspunkt dieser Massnahmen ist der omnipräsente nationalistische Diskurs, der alles Fremde mit einer potenziellen Gefahr gleichsetzt und alles Gefährliche «verfremdet».
Das andere Extrem mündet in einem Minimalstaat, in dem die Aufgabe des Staates nur noch darin besteht, das Gewaltmonopol aufrechtzuerhalten, um Delikte gegen das Eigentum zu ahnden und die Vertragsfreiheit zu schützen. Der US-amerikanische Philosoph Robert Nozick meint in diesem Sinn, der Staat sei nichts anderes als eine Schutzorganisation, bei der die BürgerInnen über Steuerabgaben «Sicherheitsleistungen» beziehen können. Der Staat soll also gerade nicht in die liberalen Freiheitsrechte der Individuen eingreifen, sondern beschränkt sich als Sicherheitsanbieter auf die Dienstleistung der Armee und der Justiz. Nozicks Konzeption des Minimalstaates, die in den siebziger Jahren erschien, ist mittlerweile neoliberal weiterentwickelt worden. Demnach muss der Staat nicht mehr selbst eine Armee und eine Polizei unterhalten, sondern er kann die Schutzleistungen seinerseits bei privaten Sicherheitsfirmen und Söldnerheeren kaufen.
Im Zusammenspiel
Wenn sich eine politische Partei, in den Worten von Antonio Gramsci, dadurch hegemonial und mehrheitsfähig macht, dass sie unterschiedliche Interessen zusammenbinden und durch ein übergeordnetes Prinzip anführen kann, dann dürfte wohl «Sicherheit» im Moment ein solches hegemoniales Konzept sein. So ist es das Merkmal der westlichen und auch der Schweizer Sicherheitspolitik, dass sich der illiberale und der liberale Sicherheitsbegriff bestens verbinden lassen, auch wenn sich an einzelnen Punkten Reibungsflächen ergeben. Im Zusammenspiel beider etabliert sich ein Staatsgefüge, das stark und minimalistisch zugleich ist. Stark ist der Sicherheitsstaat in Bezug auf das souveräne Recht, über das Gewaltmonopol zu verfügen und zum Schutz von Leben und Eigentum notfalls auch brachial einzusetzen; minimalistisch ist er insofern, als dabei die ökonomische Freiheit derjenigen, die über Kapital verfügen, nicht eingeschränkt wird. Diese ökonomische Freiheit ist sicherheitstheoretisch paradox, weil sie erlaubt, vitale Bedürfnisse von Menschen zugunsten der Gewinnmaximierung zu missachten. Der deregulierte Kapitalismus produziert demnach aus sich selbst, wie es die Berliner Geschlechterforscherin Katharina Pühl nennt, die «Entgarantierung und Prekarisierung» von sozialer Sicherheit, die wiederum den illiberalen Staat als Hüter von Recht und Ordnung auf den Plan ruft.
Die Linke ist durch diese doppelte Umzingelung durch einen illiberalen und liberalen Sicherheitsdiskurs völlig überrumpelt. Dies zeigt sich am hilflosen Sicherheitspapier der SP Schweiz, in dem aus den rechten Sicherheitsdiskursen einzelne repressive Massnahmen wie Videoüberwachung und mehr Polizei herausgepickt und mit der Idee einer präventiven Sicherheitspolitik durch Integrations- und Therapiemassnahmen verbunden werden. Dieser unkritische Glaube an die Prävention klammert nicht nur die Gewalt solcher Normierungs- und Normalisierungsprozesse völlig aus, sondern er hält auch an einem traditionellen Sicherheitsbegriff fest, der staatliche Massnahmen durch den (präventiven) Schutz und die Verteidigung vor feindlichen Individuen legitimiert.
Was also kann die Linke den hegemonialen Sicherheitsdiskursen entgegenhalten, wenn sie sich nicht aus den Diskursen zurückziehen und das Feld den Falken und SystemschützerInnen überlassen will, die sich gegenseitig den Ball zuspielen? Im Zentrum steht die Aufgabe, den Begriff der Sicherheit neu zu bestimmen. Dazu möchte ich zwei Denkachsen vorschlagen.
Die Verletzbarkeit anerkennen
Die erste Perspektive verbleibt im traditionellen Verständnis von Sicherheit als Gefahrenabwehr, verschiebt aber die Aufmerksamkeit auf strukturelle Gefahrenlagen. Sicherheit bedeutet in einer linken, globalen und egalitären Perspektive primär Schutz vor Ausbeutung, ökologischer Zerstörung, rassistischer und sexistischer Gewalt und Unrechtspolitik generell. Gerade das gegenwärtige ökonomische System trägt aber zur Lösung dieser Probleme nichts bei, sondern verschärft sie, weil der Finanzmarkt riskantes Handeln systematisch belohnt. Wenn gemäss Niklas Luhmann Gefahren von Risiken dadurch unterschieden sind, dass Letztere ein Effekt des Handelns oder Unterlassens, Erstere aber nicht beeinflussbare Bedrohungen sind, dann besteht der grosse Trick des kapitalistischen Systems darin, dass es alle Gefahren in gewinnträchtige Risiken transformiert. Dabei gilt: Je riskanter eine Anlage ist, desto höher steigt das Gewinnpotenzial, wobei für Verluste wiederum Rückversicherungen einstehen. Weil es also möglich ist, an jeder Nahrungsmittelknappheit und an jedem AKW-Unfall Geld zu verdienen, wird das auf Gewinnmaximierung ausgerichtete System angeregt, Bedrohungslagen nicht zu überwinden, sondern zu bewirtschaften und auszubeuten. Eine linke Sicherheitspolitik muss sich dagegen wehren. Staaten dürfen nicht zu billigen Rückversicherungen für die Risikospekulation werden und Menschen dieser Spekulation ausliefern. Das Wirtschaftssystem ist so zu gestalten, dass es die Verletzbarkeit menschlichen Lebens anerkennt und dem, worauf spekuliert werden darf, Grenzen setzt.
Verlässlichkeit statt Verteidigung
Die zweite Perspektive auf Sicherheit, derer sich die Linke annehmen sollte, konzentriert sich auf das Konzept von Sicherheit selbst. Demnach sollte aus einer demokratischen Perspektive Sicherheit nicht nur als ein Zustand der Verteidigung, im Sinne der Abwehr von Gefahr, sondern auch als ein Verhältnis der Verlässlichkeit und des Vertrauens gedeutet werden. Sicher ist nicht nur, wer sich gegen Gefahren wehren, sondern vor allem auch, wer sich auf etwas verlassen kann. Dies bedeutet, die Prämissen des klassischen Sicherheitsdenkens um 180 Grad zu kehren.
Seit Thomas Hobbes gilt die These, dass sich aus der unreglementierten Begegnung zwischen Menschen Streit, Krieg und Chaos entwickeln. Jedes Individuum ist primär allein und jeder andere Mensch ist ein potenzieller Feind. Nicht zuletzt die feministische Philosophie hat kräftig an diesen Thesen gerüttelt. Denn damit Menschen überhaupt zu Individuen werden, die sich vor anderen schützen können, sind sie zuerst auf andere angewiesen. Die anderen Menschen sind nicht primär die Feinde, sondern jene, auf die man sich verlassen können muss, um überhaupt eine handlungsfähige Person zu werden.
Damit sich Vertrauen herausbilden kann, ist es aber wiederum nötig, dass Menschen miteinander zu tun haben. In diesem Sinn ist jede Ausweitung der demokratischen Praxis ein Beitrag zu einer Sicherheitspolitik. In den hegemonialen Diskursen ist dieses Sicherheitsverständnis derzeit nicht aktuell. Im Gefolge der militanten Rechten hätschelt die Schweizer Bevölkerung vielmehr ihre Feindbilder und rüstet sich innerlich und äusserlich auf. Demokratie wird missverstanden als das Recht einer Gruppe, ihr Hab und Gut mit allen Mitteln gegen andere zu verteidigen. Wenn Sicherheit aber darin besteht, sich auf andere verlassen und anderen vertrauen zu können, dann führt kein Weg daran vorbei, demokratisches Handeln aus dem staatlich-nationalistischen Korsett zu befreien und eine nicht staatliche Politik zu fördern. Was anders könnte Sicherheit bedeuten? Worauf wäre sonst noch Verlass, wenn nicht darauf, dass sich Vertrauen herstellt, wenn Menschen egalitär miteinander umgehen und sich gleiche Macht zugestehen?
Katrin Meyer
Die Philosophin Katrin Meyer (49) lehrt an den Universitäten St. Gallen und Luzern und arbeitet für das Zentrum Gender Studies der Universität Basel. Sie forscht gegenwärtig über normative Theorien von Macht und Gewalt, über Postdemokratie und Sicherheit. Meyer ist Mitglied der Menschenrechtsgruppe Augenauf Basel.
Vor den Parlamentswahlen hat die WOZ sechs Autorinnen und Wissenschaftler gebeten, eine mögliche linke Politik zu beschreiben – frei in der Frage und Form.
WOZ vom 15.09.2011
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