Montag, 26. September 2011

Noch mehr ist nicht genug

Artikel der Zeit: http://www.zeit.de/2011/39/Wachstum

Glücklicher macht das Wachstum uns längst nicht mehr. Wichtig wäre eine Debatte über Lebensqualität.

Catherine Austin Fitts misst Lebensqualität an einem Kinderlächeln. Ein warmer Sommertag, ein Gesicht mit strahlenden Augen, die Zunge leckt am Eis. Man braucht nicht lange nach Klischees vom Glück zu suchen: Dieses Bild zeigt eines. Für die Präsidentin der Investmentfirma Solari aber ist es mehr, sie hat daraus den Popsicle-Index entwickelt, benannt nach dem in den USA so beliebten Wassereis. Sie fragt die Einwohner von Stadtvierteln: Glauben Sie, dass ein Kind hier gefahrlos allein ein Eis kaufen kann? Je mehr Nachbarn das positiv sehen, desto höher ist der Index – und desto lebenswerter die Gegend.

Der Popsicle-Index ist eine Spielerei, und doch hat er einen ernsten Kern. Damit Kinder allein zur Eisdiele spazieren können, muss in einem Viertel vieles stimmen. Es muss einen Laden geben. Man muss zu Fuß hinlaufen können, ohne überfahren zu werden. Die Gegend sollte sicher sein. Und Familien müssen sich das Wohnen hier überhaupt leisten können. Ein kleines Eis lässt also erstaunliche Rückschlüsse auf die Lebensqualität zu.

So wie es gute und schlechte Viertel gibt, gibt es auch glücklichere Nationen und weniger glückliche. Denn Lebensqualität, Wohlgefühl oder das, was schon die alten Griechen als »gutes Leben« verstanden, ist mitnichten nur vom Zufall oder den Genen abhängig. Es braucht dafür einen gewissen Wohlstand, aber viel weniger, als viele meinen. Es hat mit Chancen, Bildung, Gesundheit und einer heilen Umwelt zu tun. Und es kommt auf die Verteilung an, gleichere Gesellschaften sind glücklicher als sehr ungleiche. Politik spielt also eine viel umfassendere Rolle für das Glück der Menschen als bislang angenommen. Nur erwähnt das in der politischen Debatte kaum jemand.

Lebensglück gesunken

Sicher, wir debattieren in diesen Tagen endlich wieder über Ungleichheit und Gerechtigkeit. Doch Glück und Politik? Das ist ein Tabu. Und selbst wenn man stattdessen von Lebensqualität spricht, gilt das bestenfalls als weiches Thema. In welchen Ländern die Menschen zufrieden leben, ist meist nur eine Meldung für die bunten Seiten. Hart sind hingegen Zahlen wie Einkommensverteilung oder Wachstumsraten. Die kann man messen, die gestatten Vergleiche. Und wenn eine Volkswirtschaft boomt, schwingt da auch immer mit: Hoppla, jetzt geht es besser. Wachstum ist zum Synonym für gutes Leben geworden.

Das hat fatale Folgen: Mit dem Hinweis darauf, dass wir wettbewerbsfähiger werden müssen, wurden hierzulande Schulzeiten verkürzt, Autobahnen gebaut und Kohlekraftwerke verteidigt. Mit dem Hinweis aufs Wachstum verteidigen Politiker fast jede Maßnahme – so als ob alles andere dann ganz automatisch gut wird. Dabei kann das Gegenteil richtig sein. Zwar hilft ein höheres Sozialprodukt armen Ländern. Doch dass es uns automatisch zufriedener macht, kann man mit gutem Recht bezweifeln. Umfragen belegen eher das Gegenteil. Das Lebensglück der Deutschen, so sagen die meisten Studien, ist in den vergangenen Jahrzehnten gesunken.

Wirtschaftsboom hat dem Land nicht gutgetan

Überraschend ist das nicht: Was nützt der Boom, wenn die Jobs immer stressiger werden, der Druck auf den Einzelnen immer höher? Was nützt der Wohlstand, wenn er vor allem denen da oben zugutekommt und unten die prekären Jobs boomen? Was, wenn wir genau wissen, dass wir unsere Umwelt und die Staatsfinanzen ruinieren, und Angst haben müssen, das spätestens für unsere Kinder das »gute Leben« immer schwieriger zu finden sein wird? Wir alle fühlen doch, dass da etwas schiefläuft. Auch deswegen steht die Gerechtigkeitsfrage stellvertretend für all das Unwohlsein wieder im Raum.

Erschreckt stellen wir fest, dass sich die Schere zwischen Arm und Reich in den vergangenen Jahren weit geöffnet hat. Mitnichten hat der Wirtschaftsboom allen im Land gutgetan.
Und so wird zum ersten Mal seit Langem wieder über höhere Steuern für die Reichen geredet und über die Lebensverhältnisse der Armen. Das ist gut so, nur greift die Debatte leider nicht weit genug. Denn Gerechtigkeit ist weit mehr als bloß ein bisschen zusätzliche Umverteilung oder ein paar neue Steuern.

Die Briten Richard Wilkinson und Kate Picket, die nach den Zusammenhängen von Wohlstand, Gleichheit und Glück forschen, belegen: Tatsächlich sind in gleicheren Gesellschaften mehr Menschen mit ihrem Leben zufriedener als in ungleichen. Länder wie die USA sind also selbst in Boomzeiten mitnichten das Modell einer guten Gesellschaft. Das liegt vor allem an der ungerechten Einkommensverteilung, allerdings ist der Zusammenhang viel spektakulärer als gemeinhin angenommen. Starke Ungleichheit belastet die Armen in reichen Gesellschaften nicht nur, weil sie wenig haben. Mindestens so entscheidend ist, dass sie weniger als die anderen haben. Dabei zählen zum Weniger auch immaterielle Werte: eine schlechtere Gesundheit, weniger Bildung oder das Gefühl, nicht dazuzugehören.

Wir nähern uns unweigerlich dem Umwelt-GAU

Interessant ist auch: Diese Ungleichheit ist nicht nur für die Armen anstrengend, sondern auch für die Mittelschicht und sogar für die Reichen – so absurd das im ersten Augenblick scheinen mag. Doch je mehr Gesellschaften auseinanderklaffen, desto mehr wetteifern ihre Bürger darum, viel zu besitzen. Sie geraten in die Tretmühle: jedes Jahr ein bisschen reicher, aber zunehmend gestresster, aber kein bisschen zufriedener. Man kann das in den USA leicht beobachten. Kein anderes Land ist freundlicher zu denen, die es »schaffen«. Wer bezahlen kann, dem stehen die Türen zu den besten Unis offen, zum Leben im richtigen Stadtviertel in einem tollen Haus. Doch verliert jemand seinen Job, dann fällt er schnell und tief: Weg sind nicht nur Haus und Auto, sondern auch die Schule für die Kinder, die Altersvorsorge und die Krankenkasse. So etwas stresst.

Jahrelang galt genau das übrigens als erstrebenswert: Zeichneten sich dynamische Gesellschaften nicht gerade dadurch aus, dass sie durchlässig nach oben und nach unten waren? »Wir sind unglaublich entspannt, wenn Leute stinkreich werden«, sagte Peter Mandelson, der wichtigste Stratege der britischen Labourpartei unter Tony Blair, und brachte damit doch nur den Zeitgeist zum Ausdruck. Reichtum für die da oben war gut, denn nach unten würde schon genug durchfallen, und wachsen würde die Wirtschaft dadurch auch besser.

Was folgt daraus?

Das Problem ist eben nur: Weder haben die so geschaffenen Wachstumsraten die Menschen viel zufriedener gemacht, noch haben sie uns bisher ein Wirtschaftsmodell beschert, das sicher und zukunftsfähig ist. Im Gegenteil: Die Finanzkrise hat deutlich gezeigt, wie wackelig ein Wohlstandsmodell ist, wenn es vor allem auf möglichst großen Zuwachs setzt und auf einen Boom an den Börsen.

Was daraus folgt? Sicher kein Aufruf zur Askese und schon gar nicht an die da unten. Doch wir sollten schon grundsätzlich über die Kriterien sprechen, die in Deutschland möglichst vielen Menschen ein gutes und sicheres Leben ermöglichen – statt stereotyp das Mantra vom »Immer mehr« zu wiederholen.

Die Debatte darüber könnte uns dann ganz nebenbei auch noch bei einem anderen drängenden Problem helfen: beim Entzug der Politiker von der Wachstumsdroge. Bisher brauchten die Regierungen hohe Wachstumsraten wie Ertrinkende das Rettungsboot. Weil sie glauben, nur ein wachsender Haushalt sei ein guter Haushalt. Weil auch sie »immer mehr« mit »immer besser« verwechselt haben. Leider haben wir alle dabei nur verdrängt, dass durch dieses Modell ganz offensichtlich der Globus ruiniert wird. Das ist zwar nicht neu, aber in letzter Zeit wird es offensichtlich. Wir werden zwar nominell noch reicher, aber in Wirklichkeit ärmer. Jede Ölpest ist gut für die Wirtschaft, weil danach das Bruttosozialprodukt steigt. Dabei wachsen wir uns quasi in den Ruin, unser Wirtschaftswunder lebt auf Pump, ökologisch gesehen. Wir ruinieren das Klima, wir schröpfen die Böden und fischen die Meere leer. Und bisher hat es noch niemand geschafft, unser Wachstum wirklich grün zu machen. Es ist auch zweifelhaft, ob das überhaupt möglich ist.

Vor dem Sparen zurückschrecken

Der Klimaberater der Bundeskanzlerin, Hans Joachim Schellnhuber, hält die Hoffnung auf grünes Wachstum für »hochgradig naiv«. Und der Oldenburger Wirtschaftswissenschaftler Nico Paech, einer der wenigen seiner Zunft, die die ökologische Frage mitdenken, spricht von einer »Utopie«. Man müsse sich nur die Zahlen anschauen. Danach verbrauchen wir mit unserem heutigen Lebensstil im Jahr mehr als zwei Welten, und eine Trendwende sei nicht in Sicht. Folglich nähern wir uns unweigerlich dem Umwelt-GAU, beim Klima allemal, aber nicht nur dort. Trotzdem ist das Nachdenken über »weniger« eines der letzten Tabus, unter Ökonomen sowieso, aber auch unter Politikern.

Weniger: Wer das Wort sagt, der müsste erklären, wo und bei wem gespart werden soll. Kein Wunder also, dass die Spitzenpolitiker aller Parteien davor zurückschrecken, selbst die der Grünen. Denn sie können dieses Risiko nur wagen, wenn sie neue Worte dafür finden, wie das Leben dann trotzdem interessant, neu und lebenswert bleibt. Womit wir wieder bei der Verteilungsdebatte wären. Wenn es stimmt, dass materieller Wohlstand unsere Gesellschaften nicht mehr glücklicher macht und sie zugleich in den ökologischen Ruin treibt, warum dann nicht an Alternativen arbeiten?

Die SPD versucht das zaghaft mit einer Fortschrittswerkstatt, bei den Grünen schwappt die Debatte immer mal wieder hoch, und im Bundestag arbeitet dazu nun eine Enquetekommission. Interessanter noch ist jedoch, was im Kleinen, im echten Leben geschieht – beispielsweise in vielen Städten. Da fahren junge Leute heute schon viel weniger Auto und wollen trotzdem mehr Mobilität. Durch Carsharing, neue Kombinationen von Elektroautos und die Bahn bekommen sie genau das: mehr und weniger zugleich. Das Beispiel könnte, denkt man es weiter, zu einer ganz neuen Debatte über privaten Besitz und kollektive Nutzung führen. Kombiniert man »Haben« und »Nutzen« neu, könnten Menschen mit wenig Eigentum trotzdem mehr genießen: in Gemeinschaftsgärten, Bibliotheken, durch Tauschringe und neue Verkehrskonzepte. Das mag utopisch klingen, im Kleinen vielleicht niedlich wirken, im Großen unmöglich.

Aber das meiste Neue hat so begonnen. Durch Zweifel an der Gegenwart.

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