Von Roman Schürmann
Plötzlich müssen wir hinschauen: Jean Duflots Bericht über die Revolte der afrikanischen Landarbeiter im süditalienischen Rosarno macht Zusammenhänge sichtbar, die alle beunruhigen sollten.
Rosarno ist eine kleine Stadt in Kalabrien, ganz im Süden von Italien. Die wirtschaftliche Grundlage bilden von jeher die Produktion von Zitrusfrüchten und der Olivenanbau. In den letzten zwanzig Jahren wurden dazu immer mehr leicht auszubeutende Männer aus Osteuropa, dem Maghreb und aus Afrika südlich des Sahel eingesetzt; seit 2009 steckt die süditalienische Zitrusfrüchteproduktion in der Krise.
Ab dem 7. Januar 2010 tauchte Rosarno in den Schlagzeilen der Weltpresse auf. Nachdem ein Afrikaner mit Schussverletzungen ins Spital eingeliefert worden war, versammelten sich Hunderte von afrikanischen Arbeitern, um gegen diesen Gewaltakt zu protestieren. «Rasch ging die Kundgebung über in ungeordnete gewalttätige Handlungen», schreibt der französische Journalist und Schriftsteller Jean Duflot in seinem Bericht über die Ereignisse von Rosarno, den er im Auftrag des Europäischen BürgerInnenforums verfasst hat. Die Polizeikräfte, die zunächst mit grosser Härte gegen die Demonstrierenden vorgingen, mussten diese bald vor Einheimischen schützen, die mit Eisenstangen und Gewehren bewaffnet waren.Bis in die Nacht des nächsten Tages jagten sie rund um Rosarno alle dunkelhäutigen Menschen: «Raus aus der Stadt, ihr beschissenen Neger! Genug der Affen!» Die Behörden beschlossen, die Arbeiter einzusammeln und wegzuschaffen. Insgesamt gab es über siebzig teilweise schwer Verletzte, die grosse Mehrzahl davon Afrikaner.
Die Anhäufung von Angst
Duflot versucht nicht nur, die Ereignisse möglichst präzise zu rekonstruieren, sondern beschäftigt sich auch mit der zwiespältigen Rolle der Medien. Und fragt dann, wie es zur Revolte von Rosarno kommen konnte. Unmittelbarer Auslöser, so Duflot, waren die elenden Lebensbedingungen der Landarbeiter, die faktisch als Sklaven gehalten wurden. Die Afrikaner verdienten rund zwanzig Euro pro Tag (falls sie Arbeit fanden), konnten sich meist nur eine Mahlzeit täglich leisten und mussten mit primitivsten Unterkünften vorliebnehmen, in denen sie zusammengepfercht hausten. Viele wurden krank und liessen sich nicht behandeln; sie waren der Brutalität der Unternehmer und ihrer Handlanger ausgeliefert und lebten in der permanenten Angst, keine Arbeit zu finden oder von der Polizei kontrolliert, interniert oder ausgewiesen zu werden und ärmer als zuvor in ihre Herkunftsländer zurückzukehren. «War es», fragt Duflot, «diese chronische Anhäufung von Angst, die letztlich in rasende Wut umschlug?»
Eine gesamteuropäische Strategie
Wichtiger scheint Duflot dann aber, die strukturellen Gründe für den Aufstand und die darauf folgende Hetzjagd zu eruieren. Der Hauptteil seiner Untersuchung geht deshalb weit über Rosarno hinaus. Ausgehend von seinen Analysen zur Rolle des Rassismus, zur ’Ndrangheta – der weltweit operierenden, immer mächtigeren kalabresischen Mafia – sowie zur italienischen und EU-Migrationspolitik erkennt Duflot eine gesamteuropäische Strategie: Zwar werden sogenannt illegale ImmigrantInnen vom Gesetz immer stärker ausgegrenzt, aber «angesichts der geringen tatsächlichen Effizienz der Polizei- und Gerichtsmassnahmen stellt sich die Frage, ob der Unterdrückungsapparat nicht vor allem darauf abzielt, prekarisierte Arbeitskräfte zu schaffen, die dann leicht und billig ausbeutbar sind». Ein Landarbeiter aus Sierra Leone sagt: «Sie wollen Sklaven, die den Mund halten.»
Und sobald die Arbeiter nicht mehr gebraucht werden, geben sie ideale Sündenböcke ab. Mit dem Auffliegen eines betrügerischen Systems zur Abschöpfung von EU-Subventionen 2008 in Süditalien und der Rezession 2009 im Gefolge der Finanzkrise war der Anbau von Zitrusfrüchten in Rosarno im Umfeld der immer härteren globalen Konkurrenz kaum mehr profitabel.
«Orangen fallen nicht vom Himmel» von Jean Duflot ist ein nüchterner und erschreckender Bericht, der die komplexen Gründe miteinander in Beziehung setzt. Dadurch gelingt es ihm, zu zeigen, wie dringlich es ist, sich für die auch hierzulande bedrohten Rechte und Freiheiten einzusetzen, die für alle Menschen gelten sollten.
WOZ vom 15.09.2011
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