Jon is a farmer from northeastern Thailand. He founded the Pun Pun Center for Self-reliance, an organic farm outside Chiang Mai, with his wife Peggy Reents in 2003. Pun Pun doubles as a center for sustainable living and seed production, aiming to bring indigenous and rare seeds back into use. It regularly hosts training on simple techniques to live more sustainably. Outside of Pun Pun, Jon is a leader in bringing the natural building movement to Thailand, appearing as a spokesperson on dozens of publications and TV programs for the past 10 years. He continually strives to find easier ways for people to fulfill their basic needs. For more information visit http://www.punpunthailand.org
Me and the Society
Mittwoch, 10. April 2019
Sonntag, 17. März 2019
I AM - Doku about what it means to be human (by Tom Shadyac)
Zeigt ähnliches Mindset wie Charles Eisenstein vertritt.
Director Tom Shadyac speaks with intellectual and spiritual leaders about what's wrong with our world and how we can improve both it and the way we live in it.
Director Tom Shadyac speaks with intellectual and spiritual leaders about what's wrong with our world and how we can improve both it and the way we live in it.
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Freitag, 26. Oktober 2018
Charles Eisenstein - New Story
Sacred Economics traces the history of money from ancient gift economies to modern capitalism, revealing how the money system has contributed to alienation, competition, and scarcity, destroyed community, and necessitated endless growth. Today, these trends have reached their extreme - but in the wake of their collapse, we may find great opportunity to transition to a more connected, ecological, and sustainable way of being.
This short contains some visuals from the upcoming feature doc Occupy Love http://occupylove.org
and here an another video "Charles Eisenstein Full-length Interview from Living the Change":
We hope you get as much from this interview as we did! Below are a list of questions we asked Charles:
1:06 - What are the 'old story' and 'new story' that you describe in your writing?
14:37 - Where does the sense that a better world is possible come from?
19:16 - What guides us in the space between stories to creating the new story?
21:11 - How did the world get to where it is now?
28:20 - Do you think advancements in technology can solve the problems we're facing?
33:50 - Do you see the current money system as a symptom of separation?
37:50 - What could an alternative system look like? Would the current system need to collapse to make way for the new?
43:24 - Can individual action create big change?
48:14 - What is the wound of separation and how do we see it expressed in society?
54:32 - What do you advise people to do in times of not knowing what to do?
1:01:33 - Can doing nothing take you to a place of knowing what to do?
1:06:39 - When you imagine the new story, what does it look like?
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Mittwoch, 3. Januar 2018
Everything you think you know about addiction is wrong | Johann Hari
What really causes addiction — to everything from cocaine to smart-phones? And how can we overcome it? Johann Hari has seen our current methods fail firsthand, as he has watched loved ones struggle to manage their addictions. He started to wonder why we treat addicts the way we do — and if there might be a better way. As he shares in this deeply personal talk, his questions took him around the world, and unearthed some surprising and hopeful ways of thinking about an age-old problem.
https://www.ted.com/talks/johann_hari_everything_you_think_you_know_about_addiction_is_wrong
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Mittwoch, 27. Dezember 2017
Neoliberalismus - Die Idee, die die Welt verschlingt
Original auf Freitag.de: https://www.freitag.de/autoren/the-guardian/die-idee-die-die-welt-verschlang
Die Idee, die die Welt verschlingt
Neoliberalismus
Er ist die herrschende Ideologie unserer Zeit – eine, die den
Gott des Marktes verehrt und uns das nimmt, was uns menschlich macht
Foto: Chris Hondros/Getty Images
Im Sommer 2016 beendeten Wissenschaftler des Internationalen Währungsfonds eine lange und erbitterte Debatte über den Neoliberalismus.
Sie räumten ein, dass er existiert. Drei führende Ökonomen des IWF –
eine Organisation, die nicht gerade dafür bekannt ist, mit linken
Analysen vorzupreschen – veröffentlichten einen Bericht,
in dem sie erstmals die Zweckdienlichkeit des Neoliberalismus in Frage
stellten. Sie trugen so dazu bei, die Vorstellung zu begraben, dass der
Ausdruck nicht mehr sei denn ein verleumderischer politischer
Kampfbegriff ohne analytische Wirkmacht. Der Bericht kritisierte zaghaft
eine „neoliberale Agenda“, welche Ökonomien auf der ganzen Welt zu
Deregulierung dränge, nationale Märkte zur Öffnung für Handel und
Kapital zwinge und fordere, dass Regierungen sich selbst durch
Austerität und Privatisierung klein schrumpfen. Die Autoren belegten
statistisch die Ausbreitung neoliberaler Politik seit 1980 – und deren
Korrelation mit schwachem Wachstum, dem Auf und Ab der Boom-Bust-Zyklen und nicht zuletzt steigender Ungleichheit.
Neoliberalismus ist ein altes Wort, das zunächst in den 1930er Jahren aufkam. Jedoch wird der Begriff nun wiederbelebt, um die derzeit vorherrschende Politik zu beschreiben
– oder präziser: das bisschen Denk-Bandbreite, das unsere Politik noch
erlaubt. Nach der Finanzkrise 2008 bot der Neoliberalismus so eine
Möglichkeit, einen Verantwortlichen für das Debakel jenseits politischer
Parteien an sich zu benennen: ein Establishment, das seine Autorität
willfährig an den Markt verkauft hatte.
Für
einige US-Demokraten und Anhänger der Labour-Partei in Großbritannien
war dies eine geradezu groteske Prinzipienverletzung. Bill Clinton und
Tony Blair, so hieß es, hätten die traditionelle Verpflichtung der
Linken, insbesondere gegenüber den Arbeitern, aufgegeben. Stattdessen
wandten sie sich nun einer globalen Finanzelite zu, die sich wie im
Selbstbedienungsladen bereichert hatte. So legten sie den Grundstein für
ein verheerendes Anwachsen der Ungleichheit.
Eine Brille, mit der man die Welt sehen kann
In
den vergangenen Jahren – in denen die Debatte mit zunehmend
schmutzigeren Mitteln geführt wurde – ist der Begriff Neoliberalismus zu
einer rhetorischen Waffe geworden, einer Möglichkeit für jeden links
der Mitte, jene anzuschwärzen, die sich auch nur ein bisschen rechts von
ihm bewegten. Es ist kein Wunder, dass die politische Mitte die
Zuschreibung „neoliberal“ als bedeutungslose Beleidigung empfindet: sie
ist es, auf die sie am ehesten zutrifft. Aber Neoliberalismus sollte für
Linke mehr sein als eine bequeme – wenn auch gerechtfertigte –
Verhöhnung des politischen Gegners. Auf gewisse Weise ist er auch eine
Brille, ein Art, die Welt zu sehen.
Blickt
man durch ihre Linsen, sieht man klarer, wie die von Thatcher und Reagan
ach so verehrten politischen Vordenker dazu beigetragen haben, das
Ideal der Gesellschaft als allumfassenden Markt – und nicht etwa als
Polis, einen zivilgesellschaftlichen Bereich oder eine Art Familie – zu
prägen. Es ist ein Bild vom Menschen als Gewinn-und-Verlust-Rechner –
und eben nicht als Inhaber unveräußerlicher Rechte und Pflichten. Ziel
war freilich, den Wohlfahrtsstaat abzubauen, jede Verpflichtung zur
Vollbeschäftigung über Bord zu werfen, Steuern immer weiter zu senken
und fleißig zu deregulieren. Aber „Neoliberalismus“ ist weit mehr als
eine klassische rechte Wunschliste. Er war und ist ein Werkzeug, die
gesellschaftliche Realität zu ordnen und unseren Status als Individuen
neu zu denken.
Ein weiterer Blick zeigt,
dass der freie Markt – genau wie der Wohlfahrtsstaat – eine menschliche
Erfindung ist. Man erkennt, wie allgegenwärtig wir heute dazu gedrängt
werden, uns als Individuen zu verstehen, die für ihr Glück
eigenverantwortlich sind. Wie selbstverständlich uns mit auf den Weg
gegeben wird, dass wir miteinander konkurrieren und uns anpassen müssen.
Man erkennt ebenfalls das Ausmaß, in dem eine Logik, die sich früher
auf die vereinfachte Darstellung von Warenmärkten auf einer Tafel
beschränkte (Wettbewerb, perfekte Information, rationales Verhalten),
mittlerweile auf die gesamte Gesellschaft angewandt wird – bis sie unser
ganzes Leben beherrscht. „Verkauf dich immer richtig“ ist Leitspruch
der Selbstverwirklichung geworden.
Der Freie Markt – blutleerer Inbegriff der Effizienz
„Neoliberalismus“
ist also nicht einfach eine Bezeichnung für marktorientierte Politik
oder den nächsten faulen Kompromiss mit dem Finanzkapitalismus, den
abgehalfterte sozialdemokratische Parteien eingehen. Der Begriff
bezeichnet die Prämisse, die sich still und leise in unser Leben
geschlichen hat und bestimmt, was wir tun und glauben: dass nämlich
Wettbewerb das einzig legitime Organisationsprinzip menschlichen
Handelns ist.
Keine Sekunde nachdem der IWF
den Neoliberalismus als Realität zertifiziert und so die
Scheinheiligkeit des Marktes entlarvt hatte, standen Populisten und
Authoritaristen schon auf der Matte. In den USA verlor Hillary Clinton,
die Archetypin einer Neoliberalen, die Wahl – gegen einen Mann, der
gerade genug wusste, um vorgeben zu können, den Freihandel zu hassen.
Taugt also die Brille des Neoliberalismus nicht mehr? Kann sie uns noch
irgendwie helfen zu verstehen, was in der Politik schief läuft? Gegen
die Kräfte der Globalisierung wird plumper Nationalismus wieder in
Stellung gebracht – und das auf krudeste Weise. Was könnten der
militante Provinzialismus von Brexit-Großbritannien und das
Trump-Amerika mit neoliberaler Rationalität zu tun haben? Welche
Verbindung könnte zwischen dem Präsidenten – einem freilaufenden Irren –
und dem blutleeren Inbegriff der Effizienz – besser bekannt als freier
Markt – bestehen?
Nicht nur, dass der freie
Markt bloß eine Handvoll Gewinner und im Gegensatz dazu eine Heerschar
an Verlierern produziert – und sich diese Verlierer auf Rache sinnend
dem Brexit und Trump zugewandt haben. Von Beginn an gab es auch eine
vorprogrammierte Beziehung zwischen dem utopischen Ideal des freien
Marktes und der dystopischen Gegenwart, in der wir uns heute befinden;
zwischen dem Markt als einzigem Wertgeber und Freiheitswächter und dem
aktuellen Abstieg hin zum Postfaktischen und Illiberalismus.
Die Möglichkeit, eine neue Welt zu erfinden
Will
man die stagnierende Debatte über Neoliberalismus vorwärtsbringen, muss
man damit anfangen, das Ausmaß seiner kumulativen Wirkung auf uns alle,
unabhängig unseres politischen Standpunkts, ernst zu nehmen. Und das
erfordert eine Rückkehr zu seinen Ursprüngen, die nichts mit Bill oder
Hillary Clinton zu tun haben. Es gab einmal eine Gruppe von Leuten, die
sich als Neoliberale bezeichneten. Sie taten dies mit Stolz und ihr
Ansporn war nichts weniger als eine komplette Revolution des Denkens.
Der Prominenteste von ihnen, Friedrich Hayek,
hätte nicht damit gerechnet, dass er eine Position auf dem politischen
Spektrum abstecken, Entschuldigungen für die Superreichen suchen oder an
den Ecken der Mikroökonomie herumschrauben würde.
Er
glaubte, er würde das Problem der Moderne lösen: das Problem des
objektiven Wissens. Für Hayek ermöglichte der Markt nicht nur den Handel
mit Gütern und Dienstleistungen, er offenbarte Wahrheit. Wie konnte
Hayeks Zielsetzung in ihr Gegenteil umschlagen – die
bewusstseinsverändernde Möglichkeit, dass – dank unserer gedankenlosen
Verehrung des freien Marktes – die Wahrheit komplett aus dem
öffentlichen Leben vertrieben werden könnte?
Als
Friedrich Hayek 1936 die Idee kam, wusste er mit der Überzeugung einer
„plötzlichen Erleuchtung“, dass er auf etwas Neues gestoßen war. „Wie
kann die Kombination aus Einzelteilen an Wissen, die in verschiedenen
Köpfen existieren“, schrieb er, „zu Ergebnissen führen, die – wenn man
sie gezielt herbeiführen wollte, ein Wissen auf übergeordneter Ebene
erfordern würde, über das kein Einzelner verfügen kann?“
Hier
ging es nicht um eine technische Frage von Zinsraten oder
Deflationskrisen, nicht um eine reaktionäre Polemik gegen Kollektivismus
oder den Wohlfahrtsstaat, sondern um die Möglichkeit, eine neue Welt zu
erfinden. Hayek erkannte, dass der Markt als eine Art Bewusstsein
verstanden werden konnte.
Foto: Hulton Archive/Getty Images
Neoliberalismus ist Adam Smith ohne Bedenken
Adam Smiths „unsichtbare Hand“
hatte uns bereits das moderne Konzept des Markts eröffnet – als eine
autonome Sphäre für menschliches Handeln und daher potenziell als
Objekt, das man wissenschaftlich durchdringen kann. Aber Smith war bis
zum Ende seines Lebens ein Moralist des 18. Jahrhunderts. Er dachte, der
Markt sei nur im Licht individueller Tugend zu rechtfertigen, und seine
Sorge war, dass eine Gesellschaft, die durch nichts als vollständiges
Eigeninteresse regiert wird, überhaupt keine Gesellschaft ist.
Neoliberalismus ist Adam Smith ohne Bedenken.
Dass
Hayek als Ahnherr des Neoliberalismus gilt – einer Denkschule, die
alles auf die Wirtschaft reduziert – ist angesichts der Tatsache, dass
er ein solch mittelmäßiger Ökonom war, ein wenig paradox. Eigentlich war
er nichts weiter als ein junger, unbedeutender Wiener Technokrat, als
er an die London School of Economics berufen wurde, um mit John Maynard Keynes in Cambridge zu wetteifern oder dessen aufsteigenden Stern möglicherweise sogar ein wenig in den Schatten zu stellen.
Der Plan ging nach hinten los, denn Hayek konnte Keynes nicht im Geringsten das Wasser reichen. Keynes’ General Theory of Employment, Interest and Money,
veröffentlicht 1936, wurde als Meisterwerk gefeiert und dominierte die
öffentliche Debatte, insbesondere unter jungen, in der Ausbildung
befindlichen englischen Ökonomen, für die der brillante, schneidige und
sozial gut vernetzte Keynes auch ein gewisses Schönheitsideal
darstellte. Am Ende des Zweiten Weltkrieges hatten sich viele prominente
Anhänger der Theorie des freien Marktes Keynes Denkweise angeschlossen
und räumten ein, dass dem Staat bei der Führung einer modernen
Volkswirtschaft möglicherweise doch eine Rolle zukommen könne. Die
ursprüngliche Aufregung über Hayek war verfolgen. Seine befremdliche
Vorstellung, man könne eine Wirtschaftskrise überwinden, indem man
einfach überhaupt nichts unternehme, war sowohl theoretisch als auch
praktisch diskreditiert. Später räumte er selbst ein, er würde sich
wünschen, die Arbeiten, in denen er Keynes kritisiert hatte, würden
vergessen werden.
Hayeks Denken durchdringt die Welt
Hayek
gab eine seltsame Figur ab: ein hochaufgeschossener, aufrechter
Professor mit breitem Akzent, der einen hochgeschnittenen Tweed trug und
darauf bestand, mit „von Hayek“ angesprochen zu werden, aber hinter
seinem Rücken mit dem Spitznamen „Mr Fluctooations“ bedacht wurde. Im
Jahr 1936 war er ein Wissenschaftler ohne Portfolio und ohne absehbare
Zukunft. Und dennoch leben wir heute in Hayeks Welt, so wie wir einst in
der von Keynes lebten. Der Clinton-Berater und ehemalige Präsident der
Harvard University, Lawrence Summers, sagte einmal, Hayeks Konzeption
des Preissystems als kollektiver Verstand sei „eine so durchdringende
und originelle Idee wie sie die Mikroökonomie im 20. Jahrhundert
hervorgebracht“ habe und „die wichtigste Einzelheit, die man heute in
einem Kurs über Ökonomie lernen“ könne. Und das ist sogar noch
untertrieben. Keynes hat den Kalten Krieg weder hervorgerufen noch
vorhergesagt, doch sein Denken durchdrang jeden Aspekt der Welt des
Kalten Krieges. Und in gleicher Weise ist Hayeks Denken in jeden Aspekt
der Welt nach 1989 eingedrungen.
Hayeks
Weltsicht war absolut: eine Art, die gesamte Realität nach dem Modell
der wirtschaftlichen Konkurrenz zu gestalten. Das beginnt bei der
Annahme, dass fast die gesamte – wenn nicht die gesamte – menschliche
Aktivität eine Form der ökonomischen Berechnung darstelle und somit an
die übergeordneten Konzepte von Wohlstand, Wert, Tausch, Kosten – und
insbesondere dem Preis angepasst werden könne. Preise sind ein Mittel,
um knappe Ressourcen effizient bereitzustellen, entsprechend dem Bedarf
und dem Nutzen, wie sie durch Angebot und Nachfrage geregelt werden.
Damit das Preissystem effizient funktioniert, müssen die Märkte frei und
wettbewerbsorientiert sein. Seitdem Smith sich die Wirtschaft als
autonome Sphäre vorgestellt hat, existiert die Möglichkeit, dass der
Markt nicht nur ein Teil der Gesellschaft sein könnte, sondern die
Gesellschaft als Ganzes. In solch einer Gesellschaft müssen Männer und
Frauen nur ihrem Eigeninteresse folgen und um rare Güter konkurrieren.
Durch Wettbewerb „wird es möglich“, wie der Soziologe Will Davies schreibt, „festzustellen, wer und was wertvoll ist“.
Was
jeder, der mit der Geschichte vertraut ist, als notwendiges Bollwerk
gegen Tyrannei und Ausbeutung begreift – eine prosperierende
Mittelschicht und Zivilgesellschaft; freie Institutionen; allgemeines
Wahlrecht; Gedanken-, Versammlungs-, Religions- und Pressefreiheit; die
grundsätzliche Anerkennung der menschlichen Würde – nahm in Hayeks
Gedanken keinen besonderen Platz ein. Er baute in den Neoliberalismus
die Annahme ein, dass der Markt allen nötigen Schutz gegen die einzige
wirkliche politische Gefahr bietet: den Totalitarismus. Um diesen zu
verhindern, muss der Staat Hayek zufolge nichts weiter tun, als den
Markt frei zu halten.
Der letzte Punkt steht
für das „Neo“ in Neoliberalismus und stellt eine entscheidende
Veränderung des älteren Glaubens an einen freien Markt und einen
möglichst schlanken Staat dar, der als „klassischer Liberalismus“
bekannt ist. Im klassischen Liberalismus wollten die Kaufleute
lediglich, dass der Staat sie in Ruhe lässt – laissez-nous faire. Der
Neoliberalismus hingegen vertritt die Auffassung, der Staat müsse aktiv
an der Organisation einer Marktwirtschaft mitwirken. Die Bedingungen,
die einen freien Markt zulassen, müssen politisch gewonnen und der Staat
so umgestaltet werden, dass er den Bestand des freien Marktes dauerhaft
gewährleistet.
Schmollend in Cambridge
Das
ist aber noch nicht alles: Jeder Aspekt demokratischer Politik, von der
Wahlentscheidung der Bürgerinnen und Bürger bis hin zu den
Entscheidungen der Politiker, muss einer rein ökonomischen Analyse
unterworfen werden. Der Gesetzgeber ist dazu verpflichtet, die als
natürlich unterstellten Handlungen auf dem Marktplatz nicht zu stören
und darf sie auf keinen Fall verzerren. So stellt der Staat idealerweise
einen festen, neutralen und rechtlich umfassenden Rahmen bereit,
innerhalb dessen die Marktkräfte spontan wirken können. Die bewusste
Lenkung durch eine Regierung ist nie dem „automatischen Mechanismus der
Anpassung“ vorzuziehen – d. h. dem Preissystem, das nicht nur effizient
ist, sondern auch die Freiheit vergrößert oder die Möglichkeit für
Männer und Frauen, bezüglich ihres Lebens freie Entscheidungen zu
treffen.
Während Keynes zwischen London und
Washington hin- und her flog, um die Nachkriegsordnung zu gestalten, saß
Hayek schmollend in Cambridge. Dorthin war er während der Evakuierungen
des Krieges geschickt worden und beklagte sich darüber, von
„Ausländern“ umgeben zu sein, an „Orientalen aller Art“ und „Europäern
praktisch aller Nationalitäten“ bestehe kein Mangel, doch nur sehr
wenige von ihnen seien „wirklich intelligent“.
Hayek
saß in England fest, ohne Einfluss oder Ansehen, und konnte sich nur
mit seiner Idee trösten, einer Idee so groß, dass sie Keynes und allen
anderen Intellektuellen eines Tages den Boden unter den Füßen wegziehen
würde. Sich selbst überlassen funktioniere das Preissystem wie eine Art
Bewusstsein – und nicht nur irgendein Bewusstsein, sondern ein
allwissendes Bewusstsein: der Markt berechne, was Individuen nicht zu
fassen vermögen. Der amerikanische Journalist Walter Lippmann wandte
sich als intellektueller Mitstreiter in einem Brief an Hayek: „Kein
menschlicher Geist hat je das gesamte Schema der Gesellschaft verstanden
… Am ehesten kann ein Geist seine eigene Version dieses Schemas
verstehen, etwas wesentlich Dünneres, das zur Realität in etwa in
demselben Verhältnis steht wie eine Silhouette zu einer Person.“
Das
ist eine große erkenntnistheoretische Behauptung – dass der Markt eine
Form des Wissens darstelle, die die Möglichkeiten eines jeden
individuellen Verstandes radikal übersteige. Solch ein Markt ist weniger
eine menschliche Erfindung, die manipuliert werden kann wie jede
andere, als vielmehr eine Kraft, die studiert und beschwichtigt wird.
Ökonomie ist keine Technik mehr – wofür Keynes sie hielt –, mit der man
erstrebenswerte gesellschaftliche Ziele wie Wachstum oder
Währungsstabilität erreicht. Das einzige gesellschaftliche Ziel besteht
im Fortbestand des Marktes. In seiner Allwissenheit konstituiert der
Markt die einzig legitime Form von Wissen, mit dem verglichen alle
anderen Formen der Reflexion unvollständig sind, im doppelten Sinne: Sie
erfassen nur ein Bruchstück des Ganzen und stehen immer im Dienste
eines Partialinteresses. Unsere individuellen Werte sind immer
persönlich oder reine Meinungen; kollektiv konvertiert der Markt sie in
Preise oder objektive Tatsachen.
„Sie ist so wunderbar“
Nachdem
er bei der London School of Economics ausgeschieden war, hatte Hayek
nie wieder eine dauerhafte Anstellung, die nicht von privaten Geldgebern
finanziert worden wäre. Selbst seine konservativen Kollegen an der
University of Chicago – dem weltweiten Epizentrum für liberalistischen
Widerspruch in den 1950er Jahren – betrachteten Hayek als ein
reaktionäres Sprachrohr, einen „stockkonservativen Mann“ mit einem
„stockkonservativen Sponsor“, wie einer es einmal formulierte. Als ihn
1972 ein Freund in Salzburg besuchte, wo er mittlerweile lebte, fand er
einen älteren Herrn, der sich in Selbstmitleid erging und glaubte, sein
Lebenswerk sei vergebens gewesen. Niemand kümmerte sich um das, was er
geschrieben hatte.
Es gab allerdings
Zeichen der Hoffnung: Hayek war Barry Goldwaters politischer
Lieblingsphilosoph und angeblich schätzte ihn sogar Ronald Reagan sehr.
Und dann war da Margaret Thatcher. Gegenüber jedem, der es hören wollte,
schwärmte sie von Hayek und versprach, seine Philosophie des freien
Marktes mit einem Revival viktorianischer Werte zu vereinen: Familie,
Gemeinschaft, harte Arbeit.
Hayek traf 1975
privat auf Thatcher, in einem Augenblick, in dem sie, gerade zur
Oppositionsführerin im britischen Unterhaus ernannt, sich darauf
vorbereitete, seine große Idee in die Tat umzusetzen. Sie hockten 30
Minuten im Institute for Economic Affairs in der Londoner Lord North
Street zusammen. Danach fragte ein Mitarbeiter Thatchers Hayek besorgt,
was er denke. Was sollte er sagen? Zum ersten Mal in vierzig Jahren
spiegelte die Macht Friedrich von Hayek das Bild zurück, das er selbst
von sich hatte – das eines Mannes, der Keynes besiegen und die Welt
verändern könnte.
Er antwortete: „Sie ist so wunderbar.“
Foto: Keystone/Getty Images
Die ganze Gesellschaft als Markt
Hayeks
große Idee ist eigentlich gar keine großartige Idee – solange man sie
nicht gehörig aufbläst. Organische, spontane, elegante Prozesse die, wie
eine Million Finger auf einem Ouija-Brett, koordinieren, um etwas zu
schaffen, was ansonsten ungeplant wäre. Angewandt auf einen aktuellen
Markt – einen für Schweinebäuche oder Getreide-Futures – handelt es sich
bei dieser Beschreibung um wenig mehr als eine Binsenweisheit. Sie kann
erweitert werden, um zu beschreiben, wie verschiedene Märkte, in Form
von Waren und Arbeit und sogar von Geld selbst jenen Teil der
Gesellschaft bilden, der als „die Wirtschaft“ bekannt ist. Das ist
weniger banal, aber noch immer inkonsequent. Ein Keynesianer akzeptiert
diese Beschreibung gern. Was aber, wenn wir es einen Schritt weiter
aufblasen? Was, wenn wir unterstellen, die ganze Gesellschaft sei eine
Art von Markt?
Je mehr Hayeks Idee sich
ausweitet, desto reaktionärer wird sie, je mehr versteckt sie sich
hinter der Behauptung ihrer wissenschaftlichen Neutralität – und desto
mehr erlaubt es der Ökonomie, sich mit dem intellektuellen Trend zu
verbinden, der im Westen seit dem 17. Jahrhundert prägend ist. Der
Aufstieg der modernen Wissenschaft hat zu einem Problem geführt: Wenn
die Welt vollständig Naturgesetzen unterworfen ist, was bedeutet es
dann, Mensch zu sein? Ist ein menschliches Wesen einfach ein Objekt in
der Welt, wie jedes andere auch? Es scheint keine Möglichkeit zu geben,
die subjektive, innere Perspektive des Menschen in die Natur zu
integrieren, wie die Wissenschaft sie versteht – als etwas Objektives,
dessen Gesetzmäßigkeiten wir durch Beobachtung ergründen.
Alles
an der politischen Nachkriegskultur kam John Maynard Keynes und einer
erweiterten Rolle des Staates bei der Führung der Wirtschaft entgegen.
Doch alles an der akademischen Nachkriegskultur begünstigte Hayeks Große
Idee. Vor dem Krieg hatte selbst der konservativste Ökonom den Markt
als ein Mittel zum Zweck betrachtet, der effizienten Verteilung knapper
Güter. Seit den Zeiten Adam Smiths Mitte des 17. Jahrhunderts und bis
hin zu den Gründungsvätern der Chicago School
in den Nachkriegsjahren war der Glaube allgemein verbreitet, dass die
ultimativen Zwecke der Gesellschaft und des Lebens in der
nicht-ökonomischen Sphäre angesiedelt sind.
Dieser
Weltsicht zufolge werden Fragen nach der Wertigkeit politisch und
demokratisch beantwortet, nicht ökonomisch – durch moralische Reflexion
und öffentliche Debatten. Der klassisch-moderne Ausdruck für diese
Auffassung geht auf den Essay Ethics and the Economic von Frank
Knight aus dem Jahr 1922 zurück, der zwei Jahrzehnte vor Hayek nach
Chicago gekommen war. „Die rationale ökonomische Kritik von Werten führt
zu Ergebnissen, die dem gesunden Menschenverstand widerstreben”,
schreibt Knight. „Der homo oeconomicus ist das egoistische,
rücksichtslose Objekt, das wir moralisch verurteilen.“
Von der hoffnungslosen menschlichen Beschränktheit zur majestätischen Objektivität der Wissenschaft
Ökonomen
hatten seit 200 Jahren mit der Frage gerungen, wie sie die Werte
begründen sollten, auf denen eine ansonsten durch und durch kommerzielle
Gesellschaft jenseits des bloßen Egoismus und der Berechnung
organisiert ist. Knight und seine Kollegen Henry Simons und Jacob Viner
verweigerten sich Franklin D Roosevelt und den Markt-Interventionen des
New Deal. Sie etablierten die University of Chicago als die rigorose
intellektuelle Heimat der Ökonomie des freien Marktes, die sie bis heute
geblieben ist. Simons, Viner und Knight begannen ihre Karrieren jedoch
alle, bevor das konkurrenzlose Prestige der Atomphysik enorme Geldsummen
in das Universitätssystem lockte und den “exakten“ Wissenschaften in
der Nachkriegszeit zu einem Boom verhalf. Sie beteten weder Gleichungen
noch Modelle an, sondern machten sich über nicht-wissenschaftliche
Fragen Gedanken. Am ausdrücklichsten dachten sie über Fragen des Wertes
nach, bei denen der Wert völlig vom Preis unterschieden war.
Simons,
Viner und Knight waren nicht nur weniger dogmatisch als Hayek, oder
eher bereit, dem Staat zu verzeihen, dass er Steuern erhebt und sie
wieder ausgibt. Hayek war ihnen intellektuell nicht überlegen. Aber sie
erkannten als erstes Prinzip an, dass die Gesellschaft nicht dasselbe
ist wie der Markt und Preis nicht dasselbe ist wie Wert.
Hayek
war derjenige, der uns zeigte, wie wir von der hoffnungslosen
menschlichen Beschränktheit zur majestätischen Objektivität der
Wissenschaft gelangen. Hayeks große Idee fungiert als Verbindungsglied
zwischen unserer subjektiven menschlichen Natur und der Natur selbst.
Dabei stellt sie jeden Wert, der nicht als Preis ausgedrückt werden kann
– als Urteil des Marktes – auf die gleiche unsichere Basis, macht sie
zu nichts anderem als einer bloßen Meinung, Vorliebe, Folklore oder
Aberglauben.
Mehr als jeder andere, selbst
als Hayek selbst, war es der große Chicagoer Nachkriegsökonom Milton
Friedman, der dabei half, Regierungen und Politiker von der Wirkmacht
von Hayeks großer Idee zu überzeugen. Zuvor brach er allerdings mit
einer zwei Jahrhunderte alten Tradition und erklärte, die Ökonomie sei
„im Prinzip unabhängig von jeder ethischen Position oder normativem
Urteil“, „eine ‘objektive’ Wissenschaft, in genau dem Sinn wie alle
Naturwissenschaften“. Traditionelle, normative Werte betrachtete er als
mangelhaft, bei ihnen handelte es sich um „Unterschiede, um die die
Menschen letzten Endes nur kämpfen können“. Mit anderen Worten: Es gibt
den Markt und es gibt den Relativismus.
Eine aufgeblasene Idee
Märkte
mögen menschliche Reproduktionen natürlicher Systeme sein, und wie das
Universum selbst, hat niemand sie erschaffen, und sie haben keinen Wert.
Doch Hayeks Idee auf jeden Aspekt unseres Lebens anzuwenden, negiert
das, was uns ausmacht. Sie tritt das, was am Menschen am menschlichsten
ist – unser Bewusstsein und unser Wille – an Algorithmen und Märkte ab
und lässt uns nachahmend und zombiehaft zurück, die geschrumpften
Idealisierungen ökonomischer Modelle. Hayeks Idee aufzublasen und das
Preissystem radikal zu etwas sozial Allwissendem aufzuwerten, bedeutet,
die Bedeutung unserer individuellen Fähigkeit zur Vernunft radikal
abzuwerten – unsere Fähigkeit, unsere Taten und Vorstellungen zu
begründen und zu bewerten.
Dies führt dazu,
dass die öffentliche Sphäre – der Raum, in dem wir Gründe anführen und
die Begründungen anderer infrage stellen – aufhört, ein Raum zu sein, in
dem debattiert wird, und zu einem Markt von Klicks, Likes und Retweets
verkommt. Das Internet ist die persönliche Vorliebe, vervielfältigt
durch Algorithmen – ein pseudo-öffentlicher Raum, der lediglich die
Stimme widerhallen lässt, die sich bereits in unserem Kopf befindet.
Anstatt eines Raums, in dem diskutiert wird, in dem wir – als
Gesellschaft – einen Weg zum Konsens suchen, haben wir es mit einem
Apparat der gegenseitigen Affirmation zu tun, der banal als „Marktplatz
der Ideen“ bezeichnet wird. Was aussieht, als wäre es etwas Öffentliches
und Übersichtliches, ist in Wahrheit nur die Verlängerung unserer
eigenen, bereits bestehenden Meinungen und Ansichten, während die
Autorität der Institutionen und Experten durch die aggregierte Logik von
Big Data ersetzt wurde. Wenn wir uns der Welt durch eine Suchmaschine
nähern, haben die Ergebnisse eine Reihenfolge, wie der Google-Gründer es
ausdrückt, „rekursiv” – durch eine unendliche Zahl individueller
Nutzer, die wie ein Markt funktionieren, unablässig und in Echtzeit.
Wenn
man die unglaublich praktischen Aspekte der digitalen Technologie
einmal beiseite lässt, unterschied eine frühere und humanistischere
Tradition, die jahrhundertelang die dominierende war, stets zwischen
unseren Geschmäckern und Vorlieben – die Begierden, die Ausdruck im
Markt finden – und unserer Fähigkeit, über diese Vorlieben nachzudenken,
was es uns erlaubt, Werte zu begründen und zum Ausdruck zu bringen.
„Ein
Geschmack ist nahezu definiert als eine Vorliebe, über die man nicht
diskutiert“, hat der Philosoph und Ökonom Albert O Hirschman einmal
geschrieben. „Ein Geschmack, über den man mit anderen oder sich selbst
streitet, hört dadurch auf, ein Geschmack zu sein – und verwandelt sich
in einen Wert.“
Foto: Scott Olson/Getty Images
Wir entscheiden, wer und was wir sind
Hirschman
machte einen Unterschied zwischen jenem Teil des eigenen Selbst, das
als Konsument agiert, und dem, der Gründe bereitstellt. Der Markt
spiegelt wider, was Hirschman die Vorlieben nannte, die „die Akteure
offenbaren, wenn sie Waren und Dienstleistungen erstehen“. Doch, so
Hirschman weiter, verfügen Männer und Frauen gleichzeitig über die
„Fähigkeit, von ihren ‘offenbarten’ Bedürfnissen, ihrem Willen und ihren
Vorlieben zurückzutreten, um sich zu fragen, ob sie wirklich wollen,
was sie sich da wünschen und diese Vorlieben wirklich lieben“. Wir
formen unser Selbst und unsere Identität auf der Grundlage dieser
Fähigkeit zur Reflexion. Die Anwendung der individuellen reflexiven
Fähigkeiten nennt man Verstand, die kollektive Anwendung dieser
Fähigkeiten Vernunft; die Anwendung von Vernunft zur Formulierung von
Gesetzen und politischen Auseinandersetzung heißt Demokratie. Wenn wir
Gründe für unsere Taten und Überzeugungen anführen, bringen wir uns
selbst hervor: individuell und kollektiv, wir entscheiden, wer und was
wir sind.
Der Logik von Hayeks großer Idee
zufolge sind diese Ausdrucksformen menschlicher Subjektivität
bedeutungslos, solange sie nicht durch den Markt ratifiziert wurden –
wie Friedman sagte, sie sind nichts außer Relativismus, jede so gut wie
irgendeine andere. Wenn die einzig objektive Wahrheit vom Markt bestimmt
wird, haben alle anderen Werte den Status bloßer Meinungen, alles
andere ist relativistische heiße Luft. Doch Friedmans „Relativismus“ ist
ein Vorwurf, der gegen jede Behauptung gerichtet werden kann, die auf
der menschlichen Vernunft basiert. Es ist eine unsinnige Beleidigung, da
alle humanistischen Zwecke auf eine Art „relativ“ sind, wie die
Wissenschaften dies nicht sind. Sie sind relativ zu dem privaten
Zustand, ein Bewusstsein zu besitzen, und der allgemeinen und
öffentlichen Notwendigkeit, nachzudenken und zu verstehen, selbst wenn
wir keinen wissenschaftlichen Beweis erwarten können. Wenn unsere
Debatten nicht mehr länger durch die Erörterung von Gründen gelöst
werden, dann bestimmen die Launen der Macht über das Ergebnis.
An
dieser Stelle treffen der Triumph des Neoliberalismus und der
politische Albtraum, in dem wir heute leben, zusammen. Hayeks großes
Projekt, wie er es zuerst in den 1930ern und 1940ern verstand, war
ausdrücklich darauf ausgerichtet, einen Rückfall ins politische Chaos
und den Faschismus zu verhindern. Doch die große Idee war in
Wirklichkeit stets dieses Gräuel, das darauf wartete, einzutreten. Sie
ging, von Anfang an, schwanger mit der Sache, die sie angeblich
verhindern wollte. Wenn man die Gesellschaft nur noch als gigantischen
Markt begreift, führt das zu einem öffentlichen Leben, das auf Gezänk
über bloße Meinungen verkommt, bis die Menschen sich schließlich einem
starken Mann zuwenden, als vermeintlich letztem Ausweg, ihre ansonsten
scheinbar unlösbaren Probleme zu bewältigen.
Ein zweifelhaftes Paradies
1989
klopfte ein US-amerikanischer Reporter bei dem mittlerweile 90-jährigen
Hayek an die Tür, der inzwischen in einer Wohnung in der Freiburger
Urachstrasse lebte. Die beiden Männer setzten sich in ein sonniges
Zimmer, dessen Fenster zu den Bergen hinausgingen, und Hayek, der sich
von einer Lungenentzündung erholte, zog sich während ihres Gesprächs
eine Decke über die Beine.
Dies war nicht
mehr länger der Mann, der sich einst darin gesuhlt hatte, dass er gegen
Keynes das Nachsehen hatte. Thatcher hatte ihm erst in einem Ton von
millenarischem Triumph geschrieben. Nichts von dem, was sie und Reagan
erreicht hätten, „wäre möglich gewesen, ohne die Werte und
Überzeugungen, die uns auf den rechten Weg gebracht und uns die richtige
Richtung gewiesen haben“. Hayek freute sich nun über das, was er
geleistet hatte, und war optimistisch, was die Zukunft des Kapitalismus
angeht. Der Journalist schrieb: „Insbesondere sieht Hayek eine größere
Wertschätzung für den Markt unter der jüngeren Generation. Heute gehen
arbeitslose Jugendliche in Algier und Rangun nicht für einen zentral
geplanten Wohlfahrtsstaat auf die Straße, sondern für Möglichkeiten: die
Freiheit zu kaufen und zu verkaufen – Jeans, Autos, was auch immer – zu
den Preisen, die der Markt bestimmt.“
30
Jahre später leben wir in einem Paradies, das auf Hayeks großer Idee
errichtet wurde. Je mehr die Welt so eingerichtet werden kann, dass sie
einem idealen Markt ähnelt, der lediglich vom perfekten Wettbewerb
regiert wird, desto mehr gesetzmäßiger und „wissenschaftlicher“ wird das
menschliche Verhalten insgesamt. Jeden Tag streben wir danach – das
muss uns niemand mehr sagen – wie vereinzelte, diskrete, anonyme Käufer
und Verkäufer; und jeden Tag behandeln wir den Wunsch, mehr zu sein als
nur Konsumenten, als Nostalgie oder Elitismus.
Was
als neue Form intellektueller Autorität begann – verwurzelt in einer
zutiefst unpolitischen Weltsicht – verwandelte sich schnell in eine
ultra-reaktionäre Politik. Was nicht quantifizierbar ist, darf nicht
real sein, sagt der Ökonom. Und wie misst man die Vorteile der
Grundwerte der Aufklärung – namentlich kritisches Denken, persönliche
Autonomie und demokratisches Selbstbestimmung? Wenn wir die Vernunft
verwerfen, weil sie immer an Subjektivität gebunden bleibt, und die
Wissenschaft zum einzigen Vermittler sowohl des Realen als auch des
Wahren machen, schaffen wir eine Lücke, die von der Pseudowissenschaft
dankend gefüllt wird.
Die Autorität der
Professorin, des Reformers, der Gesetzgeberin oder des Juristen erwächst
diesen nicht aus dem Markt, sondern aus humanistischen Werten wie
Gemeinschaftsgefühl, Bewusstsein oder dem Wunsch nach Gerechtigkeit.
Lange bevor die Trump-Regierung damit begann, sie herabzusetzen, hatten
sie an Strahlkraft verloren. Sicherlich besteht eine Verbindung zwischen
ihrer wachsenden Irrelevanz und der Wahl Trumps, einer Kreatur, die
allein von ihren Launen regiert wird, einem Mann, der weder Prinzipien
oder Überzeugungen braucht, um mit sich im Reinen zu sein. Ein Mann ohne
Bewusstsein, der die totale Abwesenheit der Vernunft repräsentiert,
regiert die Welt – oder ruiniert sie zumindest. Als erfahrener
Manhattaner Immobilenhai weiß er aber immerhin, dass seine Sünden erst
noch auf dem Markt bestraft werden müssen.
Stephen Metcalf ist Kolumnist des Slate Magazines und Host des Podcasts Culture Gabfest
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Im Kapitalismus gibts keine Demokratie
Original aus der WOZ: https://www.woz.ch/-840f
Essay
«Unter den heutigen Verhältnissen könnten wir tausend Mal beschliessen, dass es weniger Ungleichheit geben soll. Es würde sich nichts ändern»
Vergessen wir die Revolution, meinte der französische Philosoph
Geoffroy de Lagasnerie vor drei Wochen an dieser Stelle: Die
Verhältnisse seien dafür viel zu diffus geworden. Falsch, entgegnet Raul
Zelik, und plädiert für die Gemeingüter als Gegenmacht. Eine Replik.
Von Raul Zelik
In «Snowpiercer», der Verfilmung einer französischen Graphic Novel durch den südkoreanischen Regisseur Bong Joon Ho, rast ein Zug mit hoher Geschwindigkeit über eine eisbedeckte Erde. Ausserhalb der Waggons ist das Überleben unmöglich geworden, drinnen vegetieren die Fahrgäste in Elend, Gewalt und Dunkelheit – zumindest in den hinteren Waggons. Die Reisenden im vorderen Zugteil geniessen, wie sich im Verlauf des Films zeigt, alle Annehmlichkeiten des guten Lebens.
Die dystopische Geschichte über die Eisenbahn als Klassengesellschaft fasziniert natürlich auch deshalb, weil uns die düsteren Bilder bestens vertraut sind. Die Fahrgäste der hinteren Waggons werden massakriert, wenn sie versuchen, nach vorne zu gelangen, niemand kann aussteigen. Und dann ist da noch diese Maschine, die nicht zum Stehen kommen darf. Es scheint nur eine Frage der Zeit, bis eine Katastrophe sie zum Entgleisen bringen wird.
Walter Benjamin notierte, auf der Flucht vor den Nazis, ein ganz ähnliches Bild, das als Vorarbeit zu seinen geschichtsphilosophischen Thesen gilt, aber auch als Skizze zu «Snowpiercer» hätte geschrieben worden sein können: «Marx sagt, die Revolutionen sind die Lokomotiven der Weltgeschichte. Aber vielleicht ist dem gänzlich anders. Vielleicht sind die Revolutionen der Griff des in diesem Zuge reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse.»
Wer stürmt den Maschinenraum?
Tatsächlich ist diese Frage heute, hundert Jahre nach der Russischen Revolution, schwieriger zu beantworten denn je: Was bedeutet das – die Revolution? Ist sie der Aufstand, der den Leuten aus dem hinteren Zugteil Zugang zu den Waggons der ersten Klasse verschafft? Geht es darum, wie die Unterdrückten in «Snowpiercer» mantraartig wiederholen, die Kontrolle über den Maschinenraum zu erlangen? Oder ist die Revolution eigentlich erst das, was sie dann daraus machen? Und was sollte das sein: Gilt es, die Lebensverhältnisse anzugleichen und die Türen zwischen den Waggons auszuhängen oder, wie Benjamin in seinen Skizzen schreibt, die Maschine zum Stillstand zu bringen?Früher war viel deutlicher, wo die Reise der Befreiung hingeht. Die Gleise in die Zukunft schienen verlegt, der Streit um Reform und Revolution kreiste um die Frage, wie dem Fortschritt Geltung verschafft werden könne. Während ReformistInnen auf ein Bündnis mit dem Kapital und seinem Staat setzten, sozusagen einvernehmlich mit der ersten Klasse zu LokomotivführerInnen ernannt werden wollten, propagierten die RevolutionärInnen den gewaltsamen Sturm der Lokomotive – bis Walter Benjamin mit seinem Einwand kam: Vielleicht ist die rasende Bewegung das Problem, vielleicht gilt es, die Maschine zu stoppen und aus der Geschichte auszusteigen.
«Snowpiercer» liefert sogar eine Erklärung dafür. Als Curtis, der Anführer der Aufständischen, im Maschinenraum ankommt, heisst es vom bisherigen Wächter des Zuges, genau das sei der Plan gewesen. Die regelmässigen Aufstände seien nur ein Instrument, um Überflüssige zu töten und somit das ökologische Gleichgewicht an Bord zu wahren. Nun sei es Curtis’ Aufgabe, den Zug in Bewegung zu halten. Und draussen ziehen die Ruinen untergegangener Städte vorbei, die aussehen, als hätte jemand, wie Walter Benjamin einst schrieb, «Trümmer auf Trümmer gehäuft» und sie den Menschen «vor die Füsse geschleudert».
«Es gibt keine Gesellschaft»
Der französische Philosoph Geoffroy de Lagasnerie hat in seinem grossen Essay vor drei Wochen von der Unmöglichkeit einer Revolution gesprochen (siehe WOZ Nr. 47/2017). Er sieht allerdings keine rasende Maschine, sondern nur eine völlig unübersichtliche Welt – sozusagen einen Ozean sozialer Verhältnisse. «Das Wichtigste, was wir in den siebziger Jahren von Foucault gelernt haben, ist, dass die Macht zerstreut ist», schreibt er. «Es gibt keine grundlegende Einheit der Gesellschaft. Es gibt nicht einmal eine Gesellschaft.» So behauptet er und kommt zum Schluss: «Selbst wenn wir ein System radikal umgestalten, bleiben andere Systeme intakt, in weiteren Sphären der sozialen Welt kann es sogar zu Rückschritten kommen. Unter diesem Gesichtspunkt wäre selbst die Abschaffung des Kapitalismus nicht revolutionär, denn sie würde nicht notwendigerweise auch andere Herrschaftssysteme zum Verschwinden bringen, die ebenso real sind.»De Lagasneries Beschreibung ist durchaus repräsentativ in einer Zeit, in der Gesellschaftskritik eher mit Foucault als mit Marx assoziiert wird. Und sie macht auch genau das Problem dieser Orientierung deutlich. Trotz de Lagasneries Plädoyer für soziale Bewegungen ist sein Text streckenweise Neoliberalismus pur: Dass es keine Gesellschaft gebe, war eine der Lieblingsthesen Margaret Thatchers, die daraus das Mandat für eine totale Macht des Markts ableitete. An jenen Stellen hingegen, an denen de Lagasnerie das politische Engagement verteidigt, klingt er beinahe naiv. Fast wie ein junger Autonomer, der erstaunt feststellt, dass ihn die Stalinisten belogen haben und auch im Sozialismus Frauen unterdrückt wurden: Es gibt verschiedene Unterdrückungsverhältnisse – und sie lassen sich gar nicht aus einem Hauptwiderspruch ableiten?
Alles so schön ähnlich hier
Es gebe «keinen zentralen Knotenpunkt der Herrschaft», schreibt de Lagasnerie. Mag sein. Genauso wahr ist allerdings, dass die ökonomischen Strukturen, die wir Kapitalismus nennen, die Gesellschaft auf eine grundlegende und einzigartige Weise prägen. Heute betonen Individuen vor allem ihre religiöse, ethnische, sexuelle oder Was-auch-immer-Identität, doch das ändert nichts daran: Noch nie waren die Lebensweisen global so vereinheitlicht wie heute. Ausgerechnet zu einer Zeit, in der wir in erster Linie unsere Differenz erkennen und selbst GesellschaftswissenschaftlerInnen nur noch verwirrende Mannigfaltigkeit konstatieren, hat sich zum ersten Mal in der Geschichte ein echtes Weltsystem etabliert. Der fundamentalistische saudische Scheich, die Versicherungsagentin aus dem Mittleren Westen der USA, die chinesische Führungskraft und der schwule Hipster aus Berlin sind sich in ihrer Lebensweise überraschend ähnlich. Der Stoff ihrer Kleider kommt aus denselben Textilfabriken Bangladeschs, sie stehen morgens und abends jeweils eine Stunde im Stau (die einen im SUV, die anderen vielleicht schon im Elektroauto), dazwischen bedienen sie ihr Smartphone oder hocken vor einem Computer, den chinesische Fabrikarbeiter vermutlich im Auftrag eines US-Konzerns hergestellt haben.Selbstverständlich variiert diese Lebensweise je nach Klassenzugehörigkeit, Geschlecht und Hautfarbe enorm. Wer dunkler geboren wird, putzt eher die Scheiben des SUV, als hinter dem Lenkrad zu sitzen. Doch klassen-, geschlechter- und hautfarbenübergreifend wirken identische Kräfte: Immer mehr Alltagshandlungen folgen dem Kalkül einer «Investition», immer mehr soziale Beziehungen entsprechen dem Tausch. Und auch unsere Umgebung wird von dieser mächtigen Grundstruktur transformiert. Innenstädte werden so gestaltet, dass sie den möglichst zügigen Umschlag des Kapitals erlauben, und noch die letzten Winkel des Planeten werden als Fernreiseziele oder Rohstofflager in Wert gesetzt.
Wie falsch de Lagasneries These von den diffus gewordenen Verhältnissen ist, beweist schon der Verlauf der Krise ab 2008. Ein Finanzcrash in den USA stürzte Hunderte Millionen Menschen weltweit in Armut. Natürlich hat de Lagasnerie wiederum recht, wenn er schreibt, dass auch Kommunismus homophob sein kann und es deswegen eine eigenständige politische Praxis zur Bekämpfung von Homophobie braucht. Doch von einem globalen Homophobiezyklus, der an ganz unterschiedlichen Orten der Welt Hungersnöte und Massenmigration in Gang setzt, hat man sicher noch nichts gehört. Wer nicht erkennt, dass der Kapitalismus eine alles durchfräsende Struktur ist, kann als Progressiver nur scheitern. Wenn de Lagasnerie uns auffordert, uns zwar zu engagieren, aber ohne etwas Gemeinsames zu verfolgen, weil es dieses Gemeinsame nicht gibt, dann propagiert er letztlich, den Kapitalismus zu ignorieren, der eine Weltgesellschaft geschaffen hat, uns aber zunehmend als einsame Seelen zurücklässt.
Die Macht des Kapitals
Wie aber ändern wir etwas an dieser Grundstruktur, von der ich behaupte, dass sie weiterhin zentral ist? Zunächst einmal sollte man sich daran erinnern, dass die These der Linken nicht lautete, mit der Abschaffung des Eigentums (an Produktionsmitteln!) werde jegliche Unterdrückung verschwinden. Die These war, dass die Eigentumsfrage einen entscheidenden Hebel darstellt. Solange miteinander konkurrierendes Kapital sich verwerten muss und solange die BesitzerInnen grosser Vermögen ihr privates Interesse mit Macht durchsetzen, können wir viele grundlegende Dinge nicht verändern. Es ist nämlich die Macht des Kapitals, die uns daran hindert, unser Zusammenleben kooperativer und freier zu gestalten.Marx behauptete, dass die Kulturgeschichte der Menschheit erst mit dem Kommunismus richtig beginne. Aus heutiger Perspektive müsste man wohl hinzufügen, dass die Geschichte auch dann alles andere als harmonisch verlaufen würde. Auch dann noch müssten wir unsere Geschlechterrollen infrage stellen, Produktionsweisen ändern, uns über Formen des Konsums streiten. Dann erst recht! Allerdings hätten wir dann auch die Möglichkeit, etwas zu gestalten.
De Lagasnerie stellt das selbst am Rande fest, wenn er schreibt: «Wir fühlen uns jeden Tag machtloser.» Wir fühlen uns nicht nur so, wir sind es auch, denn das Kapital entscheidet. Unter den heutigen Verhältnissen könnten wir tausend Mal beschliessen, dass es weniger Ungleichheit geben soll. Es würde sich nichts ändern. Denn unter den heutigen Verhältnissen ist nicht entscheidend, was demokratische Mehrheiten wollen, sondern was Profit erwirtschaftet.
Was also ist dann die Revolution? Die Geschichte des sozialistischen Lagers beweist, dass Verstaatlichung vieles verändert – vieles leider allerdings nicht zum Besseren. Der ermächtigte Staat, in dem die Kontrolle über Politik und Ökonomie zusammengeführt wurde, hat sich als schreckliche Machtinstanz erwiesen, und die Gruppen, die diesen Staat lenkten, wurden fast überall zu einer Art herrschender Klasse. Vergesellschaftung muss also mehr sein als Verstaatlichung, mehr als ein Rechtsakt, durch den Privat- in Gemeineigentum überführt wird, nämlich ein lang andauernder Prozess, in dem die Gesellschaft die reale demokratische Kontrolle über das ökonomische Leben erlangt. Und zwar auch, um die Fahrtrichtung zu ändern oder jene Maschine, die heute ein Zug ist, in etwas anderes umzubauen.
Der ethische Kern der Linken
Was wäre konkret zu tun? Ich denke, es gibt zunächst einmal einen ethischen Kern linker Politik, den wir nicht herleiten können. Wir finden richtig, was Menschen gleichberechtigter und das Leben solidarischer macht. Deswegen ist es Aufgabe linker Praxis, sich immer und überall dafür einzusetzen, dass Unterdrückung verschwindet und freie Kooperation zunimmt. Gegen Rassismus, die Zuschreibung von Geschlechteridentitäten, für Zuneigung und Solidarität. Etwas Einfaches, das schwer zu machen ist, wie es bei Brecht heisst.Neben diesem ethischen Kern, den linke Politik durchaus mit religiösen Strömungen teilt, geht es ausserdem um eine Gegenmacht gegen jene ökonomische Grundstruktur, die unser Leben, unsere Umwelt, unsere Verhaltensweisen und unser Begehren auf unsichtbare, aber doch so wirkungsvolle Weise formt. Diese Gegenmacht ist nicht in erster Linie die Partei, die den Staat erobert, oder die bewaffneten Truppen, die den Lokomotivführer erschiessen. Es ist die Ausbreitung demokratischer Gemeingüter in den verschiedensten Facetten. Deswegen liegt de Lagasnerie erneut falsch, wenn er Commons und Klassenkampf in seinem Text in Widerspruch setzt. Commons, also Gemeingüter, sind und waren immer Ausdruck von Klassenkampf. Die Verteidigung des kollektiven Jagdrechts im Wald gegen den Adel, von der die Geschichte Robin Hoods erzählt, ist ein simples Beispiel dafür.
Aber natürlich geht es nicht nur um Allmende – in der Natur oder im Internet. Gemeingüter haben viele Formen: Produktionsgenossenschaften, MieterInnenprojekte, die den Immobilienmärkten Wohnraum entziehen, Bürgervereine, die die Energieversorgung ihrer Kleinstadt in die eigene Hand nehmen – das alles können erste Ansätze sein. Und natürlich spielt auch der Staat eine Rolle bei der Ausbreitung dieser Macht. Das Projekt eines «Infrastruktursozialismus», der Bildung, Gesundheit, öffentlichen Nahverkehr und Energie für alle zur Verfügung stellt, wäre eine viel wirkungsvollere Strategie zur Durchsetzung der allgemeinen Teilhabe als das Grundeinkommen, über das heute so viel diskutiert wird und das uns dann doch nur als vereinzelte, vermeintlich freie KonsumentInnen zurücklässt.
Wäre die Stärkung von Gemeingütern gegen das Kapital nicht Reformismus? Die grosse Diskussion des 20. Jahrhunderts kreiste um die Frage, wie Linke zu LokomotivführerInnen werden. Die entscheidende Frage des 21. Jahrhunderts lautet, wie die vielen den Zug gemeinsam zu kontrollieren lernen und umbauen. Diese Gegenmacht entsteht an vielen Orten, betrifft auch die Maschinenräume, aber eben längst nicht nur. Und sie ist das Ergebnis einer Strategie, die notwendigerweise zugleich evolutionär und revolutionär ist. Aber auch das wusste die intelligentere Linke eigentlich schon einmal.
Es ist nicht wahr, dass die Lage unüberschaubar geworden ist. Wir sind machtlos geworden. Weil das Kapital siegt. Es läge an uns, daran etwas zu ändern, bevor sich das Kapital zu Tode gesiegt hat – und uns mit ihm.
Der WOZ-Autor Raul Zelik ist Schriftsteller und Politikwissenschaftler in Berlin und Vorstandsmitglied der deutschen Partei Die Linke.
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Mittwoch, 7. Dezember 2016
Brexit und Trump dank Bigdata
Originalartikel: Das Magazin N°48 – 3. Dezember 2016
https://www.dasmagazin.ch/2016/12/03/ich-habe-nur-gezeigt-dass-es-die-bombe-gibt/
Ich habe nur gezeigt, dass es die Bombe gibt
Der Psychologe Michal
Kosinski hat eine Methode entwickelt, um Menschen anhand ihres
Verhaltens auf Facebook minutiös zu analysieren. Und verhalf so Donald
Trump mit zum Sieg.
Am 9. November gegen 8.30
Uhr erwacht Michal Kosinski in Zürich im Hotel Sunnehus. Der 34-jährige
Forscher ist für einen Vortrag am Risikocenter der ETH angereist, zu
einer Tagung über die Gefahren von Big Data und des sogenannten
digitalen Umsturzes. Solche Vorträge hält Kosinski ständig, überall auf
der Welt. Er ist ein führender Experte für Psychometrik, einen
datengetriebenen Nebenzweig der Psychologie. Als er an diesem Morgen den Fernseher einschaltet, sieht er, dass die Bombe geplatzt ist: Entgegen den Hochrechnungen aller führenden Statistiker ist Donald J. Trump gewählt worden.
Lange betrachtet Kosinski Trumps Jubelfeier und die
Wahlergebnisse der einzelnen Bundesstaaten. Er ahnt, dass das Ergebnis
etwas mit seiner Forschung zu tun haben könnte. Dann atmet er tief durch
und schaltet den Fernseher aus.
Am gleichen Tag versendet eine bis dahin
kaum bekannte britische Firma mit Sitz in London eine Pressemitteilung:
«Wir sind begeistert, dass unser revolutionärer Ansatz der
datengetriebenen Kommunikation einen derart grundlegenden Beitrag zum
Sieg für Donald Trump leistet», wird ein Alexander James Ashburner Nix
zitiert. Nix ist Brite, 41 Jahre alt und CEO von Cambridge Analytica. Er
tritt stets im Massanzug und mit Designerbrille auf, die leicht
gewellten blonden Haare nach hinten gekämmt.
Der nachdenkliche Kosinski, der gestriegelte Nix, der
breit grinsende Trump – einer hat den digitalen Umsturz ermöglicht,
einer hat ihn vollführt, einer davon profitiert.
Wie gefährlich ist Big Data?
Jeder, der nicht die letzten fünf Jahre auf dem Mond
gelebt hat, kennt den Begriff «Big Data». Big Data bedeutet auch, dass
alles, was wir treiben, ob im Netz oder ausserhalb, digitale Spuren
hinterlässt. Jeder Einkauf mit der Karte, jede Google-Anfrage, jede
Bewegung mit dem Handy in der Tasche, jeder Like wird gespeichert.
Besonders jeder Like. Lange war nicht ganz klar, wozu diese Daten gut
sein sollen – ausser dass in unserem Facebook-Feed Blutdrucksenker
beworben werden, weil wir grad «Blutdruck senken» gegoogelt haben.
Unklar war auch, ob Big Data eine grosse Gefahr oder ein grosser Gewinn
für die Menschheit ist. Seit dem 9. November kennen wir die Antwort.
Denn hinter Trumps Onlinewahlkampf und auch hinter der Brexit-Kampagne
steckt ein und dieselbe Big-Data-Firma: Cambridge Analytica mit ihrem
CEO Alexander Nix. Wer den Ausgang der Wahl verstehen will – und was auf
Europa in den nächsten Monaten zukommen könnte –, muss mit einem
merkwürdigen Vorfall an der britischen Universität Cambridge im Jahr
2014 beginnen. Und zwar an Kosinskis Department für Psychometrik.
Psychometrie, manchmal auch Psychografie
genannt, ist der wissenschaftliche Versuch, die Persönlichkeit eines
Menschen zu vermessen. In der modernen Psychologie ist dafür die
sogenannte Ocean-Methode zum Standard geworden. Zwei Psychologen war in
den 1980ern der Nachweis gelungen, dass jeder Charakterzug eines
Menschen sich anhand von fünf Persönlichkeitsdimensionen messen lässt,
den Big Five: Offenheit (Wie aufgeschlossen sind Sie gegenüber
Neuem?), Gewissenhaftigkeit (Wie perfektionistisch sind Sie?),
Extraversion (Wie gesellig sind Sie?), Verträglichkeit (Wie
rücksichtsvoll und kooperativ sind Sie?) und Neurotizismus (Sind Sie
leicht verletzlich?). Anhand dieser Dimensionen kann man relativ genau
sagen, mit was für einem Menschen wir es zu tun haben, also welche Bedürfnisse und Ängste er hat, und aber auch, wie er
sich tendenziell verhalten wird. Das Problem aber war lange Zeit die
Datenbeschaffung, denn zur Bestimmung musste man einen komplizierten,
sehr persönlichen Fragebogen ausfüllen. Dann kam das Internet. Und
Facebook. Und Kosinski.
Für den Warschauer Studenten Michal
Kosinski begann ein neues Leben, als er 2008 an der ehrwürdigen
Cambridge University in England aufgenommen wurde: am Zentrum für
Psychometrie, im Cavendish Laboratory, dem ersten Psychometrie-Labor
überhaupt. Mit einem Studienkollegen stellte Kosinski eine kleine App
ins damals noch überschaubare Facebook: Auf MyPersonality, so hiess die
Applikation, konnte man eine Handvoll psychologischer Fragen aus dem
Ocean-Fragebogen ausfüllen («Lassen Sie sich bei Stress leicht aus der
Ruhe bringen?» – «Neigen Sie dazu, andere zu kritisieren?»). Als
Auswertung erhielt man sein «Persönlichkeitsprofil» – eigene Ocean-Werte
–, und die Forscher bekamen die wertvollen persönlichen Daten. Statt,
wie erwartet, ein paar Dutzend Studienfreunde hatten schnell Hunderte,
Tausende, bald Millionen ihre innersten Überzeugungen verraten.
Plötzlich verfügten die beiden Doktoranden über den grössten jemals
erhobenen psychologischen Datensatz.
Das Verfahren, das Kosinski mit seinen Kollegen über die
nächsten Jahre entwickelt, ist eigentlich recht einfach. Zuerst legt man
Testpersonen einen Fragebogen vor. Das ist das Onlinequiz. Aus ihren
Antworten kalkulieren die Psychologen die persönlichen Ocean-Werte der
Befragten. Damit gleicht Kosinskis Team dann alle möglichen anderen
Onlinedaten der Testpersonen ab: was sie auf Facebook gelikt, geshared
oder gepostet haben, welches Geschlecht, Alter, welchen Wohnort sie
angegeben haben. So bekommen die Forscher Zusammenhänge. Aus einfachen
Onlineaktionen lassen sich verblüffend zuverlässige Schlüsse ziehen. Zum
Beispiel sind Männer, die die Kosmetikmarke MAC
liken, mit hoher Wahrscheinlichkeit schwul. Einer der besten
Indikatoren für Heterosexualität ist das Liken von Wu-Tang Clan, einer
New Yorker Hip-Hop-Gruppe. Lady-Gaga-Follower wiederum sind mit sehr
hoher Wahrscheinlichkeit extrovertiert. Wer Philosophie likt, ist eher
introvertiert.
Kosinski und sein Team verfeinern die
Modelle unablässig. 2012 erbringt Kosinski den Nachweis, dass man aus
durchschnittlich 68 Facebook-Likes eines Users vorhersagen kann, welche
Hautfarbe er hat (95-prozentige Treffsicherheit), ob er homosexuell ist
(88-prozentige Wahrscheinlichkeit), ob Demokrat oder Republikaner (85
Prozent). Aber es geht noch weiter: Intelligenz, Religionszugehörigkeit,
Alkohol-, Zigaretten- und Drogenkonsum lassen sich berechnen. Sogar, ob
die Eltern einer Person bis zu deren 21. Lebensjahr zusammengeblieben
sind oder nicht, lässt sich anhand der Daten ablesen. Wie gut ein Modell
ist, zeigt sich daran, wie gut es vorhersagen kann, wie eine Testperson
bestimmte Fragen beantworten wird. Kosinski geht wie im Rausch immer
weiter: Bald kann sein Modell anhand von zehn Facebooks-Likes eine
Person besser einschätzen als ein durchschnittlicher Arbeitskollege. 70
Likes reichen, um die Menschenkenntnis eines Freundes zu überbieten, 150
um die der Eltern, mit 300 Likes kann die Maschine das Verhalten einer
Person eindeutiger vorhersagen als deren Partner. Und mit noch mehr
Likes lässt sich sogar übertreffen, was Menschen von sich selber zu
wissen glauben. Am Tag, als Kosinski diese Erkenntnisse publiziert,
erhält er zwei Anrufe. Eine Klageandrohung und ein Stellenangebot. Beide
von Facebook.
Nur für Freunde sichtbar
Facebook hat inzwischen die
Unterscheidung zwischen öffentlichem und privatem Posten eingeführt. Im
«privaten» Modus können nur die eigenen Freunde sehen, was man likt.
Aber das bleibt kein Hindernis für Datensammler: Während Kosinski stets
das Einverständnis der Facebook-User erfragt, verlangen viele Onlinequiz
heute den Zugang zu privaten Daten als Vorbedingung für
Persönlichkeitstests. (Wer keine grosse Sorge um die eigenen Daten hat
und sich selbst anhand seiner Likes auf Facebook einschätzen lassen
will, kann das auf Kosinskis Seite applymagicsauce.com machen und anschliessend seine Ergebnisse mit denen eines «klassischen» Ocean-Fragebogens vergleichen: discovermyprofile.com/personality.html.)
Aber es geht nicht nur um die Likes auf
Facebook: Kosinski und sein Team können inzwischen Menschen allein
anhand des Porträtfotos den Ocean-Kriterien zuordnen. Oder anhand der
Anzahl unserer Social-Media-Kontakte (ein guter Indikator für
Extraversion). Aber wir verraten auch etwas über uns, wenn wir offline
sind. Der Bewegungssensor zeigt zum Beispiel, wie schnell wir das
Telefon bewegen oder wie weit wir reisen (korreliert mit emotionaler
Instabilität). Das Smartphone, stellt Kosinski fest, ist ein gewaltiger
psychologischer Fragebogen, den wir konstant bewusst und unbewusst
ausfüllen. Vor allem aber, und das ist wichtig zu verstehen,
funktioniert es auch umgekehrt: Man kann nicht nur aus Daten
psychologische Profile erstellen, man kann auch umgekehrt nach
bestimmten Profilen suchen – etwa: alle besorgten Familienväter, alle
wütenden Introvertierten. Oder auch: alle unentschlossenen Demokraten.
Was Kosinski genau genommen erfunden hat, ist eine Menschensuchmaschine.
Immer deutlicher erkennt Kosinski das Potenzial – aber auch die Gefahr seiner Arbeit.
Das Netz erschien ihm immer wie ein
Geschenk des Himmels. Er will ja eigentlich zurückgeben, teilen, sharen.
Daten sind kopierbar, sollen doch alle etwas davon haben. Es ist der
Geist einer ganzen Generation, der Beginn eines neuen Zeitalters ohne
die Grenzen der physischen Welt. Aber was passiert, fragt sich Kosinski,
wenn jemand seine Menschensuchmaschine missbraucht, um Menschen zu
manipulieren? Er beginnt, alle seine wissenschaftlichen Arbeiten mit
Warnungen zu versehen. Mit seinen Methoden könnten «das Wohlergehen, die
Freiheit oder sogar das Leben von Menschen bedroht» werden. Aber
niemand scheint zu verstehen, was er meint.
In dieser Zeit, Anfang 2014, tritt ein junger
Assistenzprofessor namens Aleksandr Kogan an Kosinski heran. Er habe
eine Anfrage eines Unternehmen, das sich für Kosinskis Methode
interessiere. Die Facebook-Profile von zehn Millionen US-Nutzern sollen
psychometrisch vermessen werden. Zu welchem Zweck, das könne er nicht
sagen, es gebe strenge Geheimhaltungsauflagen. Kosinski will erst
zusagen, es geht um sehr viel Geld für sein Institut, zögert dann aber.
Schliesslich rückt Kogan mit dem Namen der Firma heraus: SCL – Strategic
Communications Laboratories. Kosinski googelt die Firma: «Wir sind eine
weltweit agierende Wahl-Management-Agentur», liest er auf der
Unternehmenswebsite. SCL bieten Marketing auf Basis eines
psycho-logischen Modells. Schwerpunkt: Wahlbeeinflussung.
Wahlbeeinflussung? Verstört klickt sich Kosinski durch die Seiten. Was ist das für eine Firma? Und was haben diese Leute in den USA vor?
Was Kosinski zu diesem Zeitpunkt nicht
weiss: Hinter SCL verbirgt sich ein kompliziertes Firmenkonstrukt mit
Ablegern in Steuerparadiesen – wie die Panama Papers und
Wikileaks-Enthüllungen zeigen. Manche haben bei Umstürzen in
Entwicklungsländern mitgewirkt, andere entwickelten für die Nato
Methoden zur psychologischen Manipulation der Bevölkerung in
Afghanistan. Und mittlerweile sind SCL auch die Mutterfirma von
Cambridge Analytica, jener ominösen Big-Data-Bude, die für Trump und
Brexit den Onlinewahlkampf organisierte.
Kosinski weiss davon nichts, aber er ahnt
Ungutes. «Die Sache begann zu stinken», erinnert er sich. Bei seinen
Nachforschungen entdeckt er, dass Aleksandr Kogan heimlich eine Firma
registriert hat, die mit SCL Geschäfte macht. Aus einem Dokument, das
dem «Magazin» vorliegt, geht hervor, dass SCL Kosinskis Methode durch
Kogan kennenlernte. Plötzlich dämmert Kosinski, dass Kogan sein
Ocean-Modell kopiert oder nachgebaut haben könnte, um es der
Wahlbeeinflussungsfirma zu verkaufen. Sofort bricht er den Kontakt zu
ihm ab und informiert den Institutsleiter. Innerhalb der Universität
entfacht sich ein komplizierter Konflikt. Das Institut sorgt sich um
seinen Ruf. Aleksandr Kogan zieht erst einmal nach Singapur, heiratet
und nennt sich fortan Dr. Spectre. Michal Kosinski wechselt an die
Stanford University in den USA.
Ein Jahr lang ist es ziemlich ruhig,
dann, im November 2015, verkündet die radikalere der beiden
Brexit-Kampagnen, «leave.eu», getragen von Nigel Farage, sie habe eine
Big-Data-Firma beauftragt, ihren Wahlkampf online zu unterstützen:
Cambridge Analytica. Kernkompetenz der Firma: neuartiges Politmarketing,
sogenanntes Mikrotargeting – auf Basis des psychologischen
Ocean-Modells.
Kosinski bekommt Mails, was er damit zu
tun habe – bei den Stichworten Cambridge, Ocean und Analytics denken
viele zuerst an ihn. Zum ersten Mal hört er von der Firma. Entsetzt
schaut er auf die Website. Sein Albtraum ist wahr geworden: Seine
Methodik wird im grossen Stil für politische Zwecke eingesetzt.
Nach dem Brexit im Juli prasseln Beschimpfungen auf ihn
ein: Schau nur, was du getan hast, schreiben Freunde und Bekannte.
Überall muss Kosinski erklären, dass er mit dieser Firma nichts zu tun
hat.
Erst Brexit, dann Trump
Zehn Monate später. Es ist der 19. September 2016, die
US-Wahl rückt näher. Gitarrenriffs erfüllen den dunkelblauen Saal des
New Yorker Grand Hyatt Hotels, Creedence Clearwater Revival: «Bad Moon
Rising». Der Concordia Summit ist eine Art Weltwirtschaftsforum in
Klein. Entscheidungsträger aus aller Welt sind eingeladen, unter den
Gästen befindet sich auch Bundesrat Schneider-Ammann. «Bitte heissen Sie
Alexander Nix, Chief Executive Officer von Cambridge Analytica,
willkommen», verkündet eine sanfte Frauenstimme aus dem Off. Ein
schlanker Mann im dunklen Anzug betritt die Bühnenmitte. Es herrscht
gebannte Stille. Viele hier wissen: Das ist Trumps neuer Digital-Mann.
«Bald werden Sie mich Mr. Brexit nennen», hatte Trump einige Wochen
zuvor etwas kryptisch getwittert. Politikbeobachter hatten zwar auf die
inhaltliche Ähnlichkeit zwischen Trumps Agenda und jener des rechten
Brexit-Lagers verwiesen. Die wenigsten aber hatten den Zusammenhang mit
Trumps kürzlichem Engagement einer weithin unbekannten Marketingfirma
bemerkt: Cambridge Analytica.
Trumps Digitalkampagne hatte davor mehr oder minder aus
einer Person bestanden: Brad Parscale, einem Marketingunternehmer und
gescheiterten Start-up-Gründer, der Trump für 1500 Dollar eine
rudimentäre Website aufgebaut hatte. Der 70-jährige Trump ist kein
Digitaltyp, auf seinem Arbeitstisch steht nicht einmal ein Computer. So
etwas wie eine E-Mail von Trump gibt es nicht, hat seine persönliche
Assistentin einmal verraten. Sie selber habe ihn zum Smartphone
überredet – von dem aus er seither unkontrolliert twittert.
Hillary Clinton hingegen verliess sich
auf das Erbe des ersten Social-Media-Präsidenten, Barack Obama. Sie
hatte die Adresslisten der Demokratischen Partei, sammelte Millionen
über das Netz, bekam Unterstützung von Google und Dreamworks. Als im
Juni 2016 bekannt wurde, dass Trump Cambridge Analytica angeheuert
hatte, rümpfte man in Washington die Nase. Ausländische Gecken in
Massanzügen, die Land und Leute nicht verstehen? Seriously?
«Es ist mein Privileg, vor Ihnen, verehrte Zuhörer, über
die Macht von Big Data und der Psychografie im Wahlkampf zu sprechen.»
Hinter Alexander Nix erscheint das Logo von Cambridge Analytica – ein
Gehirn, zusammengesetzt aus ein paar Netzwerkknoten, wie eine Landkarte.
«Vor ein paar Monaten war Cruz noch einer der weniger beliebten
Kandidaten», sagt der blonde Mann mit diesem britischen Zungenschlag,
der Amerikanern dasselbe Gefühl einjagt wie vielen Schweizern
Hochdeutsch, «nur 40 Prozent der Wähler kannten seinen Namen.» Alle im
Saal haben den Blitzaufstieg des konservativen Senators Cruz
mitbekommen. Es war einer der seltsamsten Momente des Wahlkampfes. Der
letzte grosse innerparteiliche Gegner Trumps, der aus dem Nichts
gekommen war. «Wie also hat er das geschafft?», fährt Nix fort. Ende
2014 war Cambridge Analytica in den US-Wahlkampf eingestiegen, zunächst
als Berater des Republikaners Ted Cruz, finanziert vom verschwiegenen
US-Softwaremilliardär Robert Mercer. Bisher, so Nix, seien Wahlkampagnen
nach demografischen Konzepten geführt worden, «eine lächerliche Idee,
wenn Sie drüber nachdenken: Alle Frauen erhalten die gleiche Nachricht,
bloss weil sie das gleiche Geschlecht haben – oder alle Afroamerikaner,
wegen ihrer Rasse?» So dilettantisch arbeitet das Kampagnenteam von
Hillary Clinton, das braucht Nix hier gar nicht zu erwähnen, es
unterteilt die Bevölkerung in vermeintlich homogene Gruppen – genauso
wie all die Meinungsforschungsinstitute es taten, die Clinton bis
zuletzt als Gewinnerin sahen.
Stattdessen klickt Nix weiter zur nächsten Folie: fünf
verschiedene Gesichter, jedes Gesicht entspricht einem
Persönlichkeitsprofil. Es ist das Ocean-Modell. «Wir bei Cambridge
Analytica», sagt Nix, «haben ein Modell entwickelt, das die
Persönlichkeit jedes Erwachsenen in den USA berechnen kann.» Jetzt ist
es absolut still im Saal. Der Erfolg des Marketings von Cambridge
Analytica beruhe auf der Kombination dreier Elemente: psychologische
Verhaltensanalyse nach dem Ocean-Modell, Big-Data-Auswertung und
Ad-Targeting. Ad-Targeting, das ist personalisierte Werbung, also
Werbung, die sich möglichst genau an den Charakter eines einzelnen
Konsumenten anpasst.
Nix erklärt freimütig, wie seine Firma
das macht (der Vortrag ist auf Youtube frei einsehbar). Aus allen
möglichen Quellen kauft Cambridge Analytica persönliche Daten:
Grundbucheinträge, Bonuskarten, Wählerverzeichnisse,
Clubmitgliedschaften, Zeitschriftenabonnements, medizinische Daten. Nix
zeigt die Logos global tätiger Datenhändler wie Acxiom und Experian – in
den USA sind quasi alle persönlichen Daten käuflich zu erwerben. Wenn
man wissen will, wo zum Beispiel jüdische Frauen wohnen, kann man diese
Informationen einfach kaufen. Inklusive Telefonnummern. Nun kreuzt
Cambridge Analytica diese Zahlenpakete mit Wählerlisten der
Republikanischen Partei und Onlinedaten wie Facebook-Likes – dann
errechnet man das Ocean-Persönlichkeitsprofil: Aus digitalen
Fussabdrücken werden plötzlich reale Menschen mit Ängsten, Bedürfnissen,
Interessen – und mit einer Wohnadresse.
Das Vorgehen ist identisch mit den Modellen, die Michal
Kosinski entwickelt hatte. Auch Cambridge Analytica verwendet IQ-Quiz
und andere kleine Ocean-Test-Apps, um an die aussagekräftigen
Facebook-Likes von Usern zu gelangen. Und Cambridge Analytica macht
genau das, wovor Kosinski gewarnt hatte: «Wir haben Psychogramme von
allen erwachsenen US Bürgern – 220 Millionen Menschen», Nix öffnet den
Screenshot, «so sehen unsere Kontrollzentren aus. Lassen Sie mich
zeigen, was wir damit tun.» Ein digitales Cockpit erscheint. Links
Diagramme, rechts eine Karte von Iowa, wo Cruz überraschend viele
Stimmen im Vorwahlkampf gesammelt hatte. Darauf Hunderttausende kleiner
Punkte, rot und blau. Nix grenzt die Kriterien ein: Republikaner – die
blauen Punkte verschwinden; «noch nicht überzeugt» – wieder verschwinden
Punkte; «männlich» und so weiter. Am Schluss erscheint ein einzelner
Name, darunter Alter, Adresse, Interessen, politische Neigung. Wie
bearbeitet Cambridge Analytica nun eine solche Person mit politischen
Botschaften?
In einer anderen Präsentation zeigt Nix am Beispiel des
Waffengesetzes zwei Versionen, wie man psychografisch durchleuchtete
Wähler ansprechen kann: «Für einen ängstlichen Menschen mit hohen
Neurotizismus-Werten verkaufen wir die Waffe als Versicherung. Sehen Sie
links das Bild dazu: die Hand eines Einbrechers, die eine Scheibe
einschlägt.» Die rechte Seite zeigt einen Mann und ein Kind im
Sonnenuntergang, beide mit Flinten in einem Feld, offensichtlich bei der
Entenjagd: «Das ist für konservative Typen mit hoher Extraversion.»
Wie man Clinton-Wähler von der Urne fernhält
Trumps auffällige Widersprüche, seine oft kritisierte
Haltungslosigkeit und die daraus resultierende ungeheure Menge an
unterschiedlichen Botschaften entpuppen sich plötzlich als sein grosser
Vorteil: Jedem Wähler seine Botschaft. «Trump agiert wie ein perfekt
opportunistischer Algorithmus, der sich nur nach Publikumsreaktionen
richtet», notiert bereits im August die Mathematikerin Cathy O’Neil. Am
Tag der dritten Präsidentschaftsdebatte zwischen Trump und Clinton
versendet Trumps Team 175 000 verschiedene Variationen seiner Argumente,
vor allem via Facebook. Die Botschaften unterscheiden sich meist nur in
mikroskopischen Details, um den Empfängern psychologisch optimal zu
entsprechen: verschiedene Titel, Farben, Untertitel, mit Foto oder mit
Video. Die Feinkörnigkeit der Anpassung geht hinunter bis zu
Kleinstgruppen, erklärt Nix im Gespräch mit «Das Magazin». «Wir können
Dörfer oder Häuserblocks gezielt erreichen. Sogar Einzelpersonen.» In
Miamis Stadtteil Little Haiti versorgte Cambridge Analytica Einwohner
mit Nachrichten über das Versagen der Clinton-Stiftung nach dem Erdbeben
in Haiti – um sie davon abzuhalten, Clinton zu wählen. Das ist eines
der Ziele: potenzielle Clinton-Wähler – hierzu gehören zweifelnde Linke,
Afroamerikaner, junge Frauen – von der Urne fernzuhalten, ihre Wahl zu
«unterdrücken», wie ein Trump-Mitarbeiter erzählt. In sogenannten dark posts,
das sind gekaufte Facebook-Inserate in der Timeline, die nur User mit
passendem Profil sehen können, werden zum Beispiel Afroamerikanern
Videos zugespielt, in denen Hillary Clinton schwarze Männer als
Raubtiere bezeichnet.
«Meine Kinder», beendet Nix seinen Vortrag am Concordia
Summit, «werden sich so etwas wie ein Werbeplakat mit der gleichen
Nachricht für alle, ja das ganze Konzept eines Massenmediums, nicht mehr
erklären können. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit und kann
Ihnen sagen, dass wir mittlerweile für einen der beiden verbliebenen
Kandidaten arbeiten.» Dann verlässt er die Bühne.
Wie gezielt die amerikanische Bevölkerung bereits in
diesem Moment von Trumps digitalen Truppen massiert wird, ist nicht
erkennbar – weil sie selten breit im Mainstream-TV attackieren, sondern
meist personalisiert auf Social Media oder im Digitalfernsehen. Und
während sich das Clinton-Team auf Basis demografischer Hochrechnungen in
Sicherheit wiegt, entsteht in San Antonio im Sitz der
Trump-Digitalkampagne ein «zweites Hauptquartier», wie
Bloomberg-Journalist Sasha Issenberg nach einem Besuch überrascht
notiert. Das Cambridge-Analytica-Team, angeblich nur ein Dutzend Leute,
hatte im Juli von Trump etwa 100 000 Dollar erhalten, im August bereits
250 000 Dollar, fünf Millionen im September. Insgesamt, so sagt Nix,
habe man etwa 15 Millionen Dollar eingenommen.
Und die Massnahmen der Firma sind
radikal: Ab Juli 2016 wird für Trump-Wahlhelfer eine App bereitgestellt,
mit der sie erkennen können, welche politische Einstellung und welchen
Persönlichkeitstyp die Bewohner eines Hauses haben. Wenn Trumps Leute an
der Tür klingeln, dann nur bei jenen, die die App als empfänglich für
seine Botschaften einstuft. Die Wahlhelfer haben auf den
Persönlichkeitstyp des Bewohners angepasste Gesprächsleitfaden bereit.
Die Reaktion wiederum geben die Wahlhelfer in die App ein – und die
neuen Daten fliessen zurück in den Kontrollraum von Cambridge Analytica.
Die Firma unterteilt die US-Bevölkerung in 32
Persönlichkeitstypen, man konzentriert sich nur auf 17 Staaten. Und wie
Kosinski festgestellt hatte, dass Männer, die MAC Cosmetic liken, sehr
wahrscheinlich schwul sind, fand Cambridge Analytica heraus, dass eine
Vorliebe für US-gefertigte Autos das beste Anzeichen für mögliche
Trump-Wähler ist. Unter anderem solche Erkenntnisse zeigen nun Trump,
welche Botschaften ziehen und wo genau am besten. Die Entscheidung, dass
er sich in den letzten Wochen auf Michigan und Wisconsin konzentriert,
geschieht auf Basis einer Datenauswertung. Der Kandidat wird zum
Umsetzungsinstrument eines Modells.
Was macht Cambridge Analytica in Europa?
Aber wie gross war der Einfluss der psychometrischen
Methoden auf den Ausgang der Wahl? Cambridge Analytica will auf Anfrage
keine Belege für die Wirksamkeit der Kampagne liefern. Und es ist gut
möglich, dass die Frage nicht zu beantworten ist. Und doch gibt es
Anhaltspunkte: Da ist die Tatsache, dass Ted Cruz dank der Hilfe von
Cambridge Analytica aus dem Nichts zum schärfsten Konkurrenten Trumps in
den Primaries aufstieg. Da ist die Zunahme der ländlichen Wählerschaft.
Da ist der Rückgang der Stimmenabgabe durch Afroamerikaner. Auch der
Umstand, dass Trump so wenig Geld ausgab, könnte sich mit der
Effektivität persönlichkeitsbasierter Werbung erklären. Und auch, dass
er drei Viertel seines Marketingbudgets in den Digitalbereich steckte.
Facebook erwies sich als die ultimative Waffe und der beste Wahlhelfer,
wie ein Trump-Mitarbeiter twitterte. Das dürfte beispielsweise in
Deutschland der AfD gefallen, die mehr Facebook-Freunde hat als CDU und
SPD zusammen.
Es ist also keineswegs so, wie oft behauptet wird, dass
die Statistiker diese Wahl verloren haben, weil sie mit ihren Polls so
danebenlagen. Das Gegenteil ist richtig: Die Statistiker haben die Wahl
gewonnen. Aber nur jene mit der neuen Methode. Es ist ein Treppenwitz
der Geschichte, dass Trump oft über die Wissenschaft schimpfte, aber
wohl dank ihr die Wahl gewonnen hat.
Ein anderer grosser Gewinner heisst
Cambridge Analytica. Ihr Vorstandsmitglied Steve Bannon, Herausgeber der
ultrarechten Onlinezeitung «Breitbart News», ist gerade zu Donald
Trumps Chefstrategen ernannt worden. Marion Maréchal-Le Pen, aufstrebende Front-National-Aktivistin und Nichte der Präsidentschaftskandidatin, twitterte bereits, dass sie seine Einladung zur Zusammenarbeit annehme,
und auf einem internen Firmenvideo steht über dem Mitschnitt einer
Besprechung «Italy». Alexander Nix bestätigt, dass er auf Kundenakquise
sei, weltweit. Es gebe Anfragen aus der Schweiz und Deutschland.
All das hat Kosinski von seinem Büro in Stanford aus
beobachtet. Nach der US-Wahl steht die Universität kopf. Kosinski
antwortet auf die Entwicklungen mit der schärfsten Waffe, die einem
Forscher zur Verfügung steht: mit einer wissenschaftlichen Analyse.
Zusammen mit seiner Forscherkollegin Sandra Matz hat er eine Reihe von
Tests durchgeführt, die bald veröffentlicht werden. Erste Ergebnisse,
die dem «Magazin» vorliegen, sind beunruhigend: Psychologisches
Targeting, wie Cambridge Analytica es verwendete, steigert die
Clickraten von Facebook-Anzeigen um über 60Prozent. Die sogenannte
Conversion-Rate, also wie stark Leute – nachdem sie die persönlich
zugeschnittene Werbung gesehen haben – auch danach handeln, also einen
Kauf tätigen oder eben wählen gehen, steigerte sich um unfassbare 1400
Prozent*.
Die Welt hat sich gedreht. Die Briten verlassen die EU, in
Amerika regiert Donald Trump. Begonnen hat alles mit einem Mann, der
eigentlich vor der Gefahr warnen wollte. Bei dem jetzt wieder diese
Mails eintreffen, die ihn anklagen. «Nein», sagt Kosinski leise und
schüttelt den Kopf, «das hier ist nicht meine Schuld. Ich habe die Bombe
nicht gebaut. Ich habe nur gezeigt, dass es sie gibt.»
*Die genannte Studie bezieht sich auf eine Vergleichsreihe: Ein Konsum-Produkt wurde online beworben. Verglichen wurde die
Reaktion auf zwei unterschiedliche Ansprachen: Eine genau auf den
Charakter des Konsumenten angepasste Werbung mit einer dem Charakter
widersprechenden Werbung. Die Steigerung der Conversionrate liegt bei
genau angepasster Werbung bei 1’400 Prozent gegenüber dem Charakter
widersprechender Werbung.
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