Donnerstag, 31. März 2011

Durch die Höllenkreise des Kongo

Tages Anzeiger, 31.März 2011

Von Martin Ebel

Ein Land so gross wie Westeuropa, verheert vom Krieg: Andrea Böhms meisterhafte Reportage berichtet von katastrophalen Zuständen, aber auch von tatkräftigen, mutigen Menschen.

Einen Pulitzer-Preis für Reportagen gibt es im deutschsprachigen Raum nicht. Sonst wäre Andrea Böhms Buch ein heisser Kandidat dafür. Die Journalistin, Mitglied des politischen Ressorts der «Zeit», hat etwas getan, was in der aktualitätsversessenen Hektik des Berufsalltags kaum noch möglich scheint: Sie ist drangeblieben. An einem unbequemen Thema. Über Jahre, mit Ausdauer und Aufwand, konsequent und empathisch.

Auf eigene Faust erforscht

Von 2002 bis 2010 ist sie immer wieder in den Kongo gereist, in eines der kaputtesten Länder der Welt. 1900 mal 2100 Kilometer in der Fläche, bettelarm – auf dem Human-Development-Index der UNO steht es auf dem vorletzten Platz. Und war in den letzten 15 Jahren Schauplatz zweier verheerender Kriege mit fünf Millionen Toten und einer viel grösseren Zahl an Verstümmelten, Vergewaltigten, Traumatisierten. Dabei ist das Land reich an Bodenschätzen: Gold und Diamanten, Kupfer, Kobalt und Seltene Erden. Aber die haben erst die belgischen Kolonialherren ausgebeutet, dann die einheimischen Ausbeuter: die Regimes von Mobutu und von Kabila (dem Älteren). Sie steckten die Profite in die eigene Tasche oder bezahlten damit die ausländischen Truppen, die ihre brüchige Herrschaft gegen Aufständische oder andere Ausländer verteidigen sollten. Der ganze Osten ist immer noch unsicheres Gebiet; Rebellen, Banden, aber auch reguläre Armeeeinheiten (der Übergang ist fliessend) überfallen, wenn der Sold ausbleibt, einfach ein Dorf.

Der Kongo: ein Horror, der das normale europäische Verständnis und Einfühlungsvermögen weit übersteigt. Andrea Böhm hat sich ihm immer wieder ausgesetzt. Nicht im Schlepptau und Schutz internationaler Organisationen, sondern auf eigene Faust, mit Fahrern, Lotsen und Vermittlern – hier ein Pfarrer, dort eine Krankenschwester, hier ein Menschenrechtsaktivist. Sie ist nach Mbuji-Mayi gefahren, eine Millionenstadt in der Provinz Kasai, wo Halbwüchsige mit blossen Händen nach Diamanten graben; nach Butembo im Osten, wo sie einen mysteriösen «Kindergeneral» gesucht und gefunden hat; nach Bukavu in ein Spital, in dem vergewaltigte Frauen behandelt werden; nach Kamituga in der Provinz Süd-Kivu, wo sie einen Kandidaten fürs Nationalparlament auf dem Wahlkampf begleitete.

500 Stimmen gegen ein Dach

Dieser Jean-Claude Kibala ist eine der vielen farbigen Figuren, denen wir bei der Lektüre begegnen. Ein schwarzer Ingenieur, der sich im Exil, im deutschen Troisdorf, eine Existenz aufgebaut hatte, plötzlich aber von Heimweh und Wahlkampffieber ergriffen wurde und nun von Dorf zu Dorf fährt, im Gepäck T-Shirts aus China, Schultafeln und Fussball-Trikots. «Die Leute jubelten und hielten die Hand auf. Das Übliche», kommentiert Andrea Böhm. Nicht ungewöhnlich auch, dass der Kandidat 15 junge Mütter freikauft, die im Krankenhaus festgehalten werden, weil sie ihre Geburtskosten nicht bezahlen können. Oder dass ein Methodistenpfarrer 500 Stimmen anbietet – gegen ein neues Wellblechdach für seine Kirche.

Kibala verliert zwar die Wahl, wird aber Vizegouverneur der ganzen Provinz. Sein Jahresbudget: 10 Millionen Dollar, so viel, wie die Kleinstadt Troisdorf für die Sanierung ihrer Sportanlagen ausgegeben hat. Kibalas täglicher Kampf um ein Stück mehr Recht, Ordnung, Legalität, Sicherheit, gegen die schreiende Armut, die Korruption; die kleinen Fortschritte und die ständigen Rückschläge, «dieser ganze alltägliche Kreislauf des Irrsinns»: Das ist, wenn Böhm es beschreibt, zum Lachen und zum Weinen zugleich. Denn der Autorin ist es nicht darum zu tun, ein Schreckenskabinett möglichst spektakulär auszustatten und dem Lustschauder des westlichen Lesers feilzubieten. Sie verschweigt nichts – aber sie konzentriert sich auf Menschen, die in all dem Elend mehr wollen als «se débrouiller», sich durchwursteln: die etwas bewegen wollen. Wie Honorine Munyole, eine Polizeimajorin, «klein, gedrungen, markantes Kinn, breites Kreuz, kräftige Stimme, dazu ein hennagefärbter Lockenkopf», die in Bukavu Vergewaltigungsopfer betreut – in einer Polizeistation, der es an allem fehlt, an Streifenwagen, Computern, Funkgeräten, Aktenordnern, sogar an Papier.Oder Félicien Mbikayi, der die wilden «Creuseurs» in der grössten Diamantenmine der Provinz Kasai zu überzeugen versucht, sich von ihren blutsaugerischen «Sponsors» zu lösen und zu Genossenschaften zusammenzuschliessen. Andrea Böhm begleitet ihn in die Mondlandschaft des «Polygon», wo sich konzessionierte und wilde Schürfer Schusswechsel liefern, und in die «freie» Zone daneben: «Hier wurde nicht geschossen, hier starb man leise.» In 30 Meter tiefen Löchern, wenn die Wände einstürzten oder die Sauerstoffzufuhr unterbrochen wurde. Munyole oder Mbikayi versuchen das Unmögliche – weil die Alternative, die Hoffnungslosigkeit, für sie keine ist. Man liest das mit Staunen, wachsendem Respekt und etwas Beschämung.

Ein Überangebot an Hilfe

Andrea Böhm ist mutig, aufmerksam und professionell. Sie ist aber auch hochreflektiert, was die Gefahren des eigenen Berufsstandes angeht. Immer ist sie bemüht, den Versuchungen des Voyeurismus nicht nachzugeben. Als die Massenvergewaltigungen im Ost-Kongo in die Schlagzeilen gerieten – endlich hatten die Journalisten in dieser Region ein Thema gefunden, das das westliche Publikum interessierte –, wurde das Panzi-Spital in Bukavu zu einer «Pilgerstätte der Empathie». Auch Promis gaben sich dort die Ehre. In Bukavu, lesen wir, gibt es heute ein Überangebot an Hilfe für Vergewaltigungsopfer. Aber, wie ein Gesprächspartner trocken bemerkt, viele nicht vergewaltigte Kongolesen, die auf andere Weise traumatisiert sind.

Dieses Land wächst jedem Beobachter über den Kopf. Andrea Böhm aber hat ihren Stoff – das, was sie sagen und zeigen will – souverän im Griff. Dazu gehört auch die ganze schauerliche neuere Geschichte des riesigen Landes, das der belgische König Leopold II. über zwanzig Jahre wie eine Privatkolonie betrieb, was ein Viertel der Bevölkerung das Leben kostete: vermutlich das grausamste Kolonialregime, das es je gab. Andrea Böhm erinnert an den schwarzen Missionar William Henry Sheppard, der die Gräueltaten dokumentierte und für einen internationalen Aufschrei sorgte.

Auch die Schweiz verdiente mit

Sie erinnert an Patrick Lumumba, den ersten frei gewählten Regierungschef des unabhängigen Kongo, der 1961, mit Billigung Belgiens und der USA, von eigenen Landsleuten gefoltert und ermordet wurde. Sie lobt den ersten UNO-Einsatz von 1960 bis 1964, der das Land vorläufig befriedete und ein Auseinanderfallen verhinderte, und begleitet auch mit Sympathie einen Trupp pakistanischer Blauhelme, die heute im Ostkongo auf verlorenem Posten stehen. Sie vergisst aber auch nicht, dass die beiden Kongo-Kriege (1996/97 und 1998–2003) eine direkte Folge des Völkermordes in Ruanda waren, an der die internationale Gemeinschaft Mitschuld trägt.

Auch darum geht es der Autorin: Der Kongo ist nicht ein schwarzes Loch, das uns nichts angeht. Er war schon immer im Fadenkreuz der Weltpolitik. Die Atombombe, die Hiroshima traf, wurde mit Uran aus dem Kongo angereichert. Mobutu wollte in den 70er-Jahren mit einer deutschen Firma ein eigenes Raketenprogramm aufziehen. Die gigantischen Profite der Rohstoffausbeutung wurden über Schweizer Konten verschoben. Und so weiter: Andrea Böhms grossartige Reportage führt in eine fremde, erschreckende Welt – in der auch wir unsere Finger drinhaben.

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