Überwältigende Solidarität in Südkorea
Von Hoo Nam Seelmann
Geografie kann, blickt man auf die gegenwärtige Krise in Japan, etwas Schicksalhaftes für eine Nation haben. Auf mehreren tektonischen Platten liegend, ist Japan den unvorhersehbaren Bewegungen aus der Tiefe der Erde unmittelbar ausgesetzt. Das Leben mit der bebenden Erde hat die Japaner eine bewundernswert stoische Haltung gegenüber Naturkatastrophen gelehrt, die das Überleben in der unsicheren Heimat ermöglicht. Obwohl nur eine schmale Meerenge Korea von Japan trennt, blieb Korea demgegenüber ganz von Erdbeben verschont. Das vorgelagerte Japan schirmt Korea zudem von schweren Taifunen ab, die Jahr für Jahr über den Pazifik ziehen. Dass geografische und kulturelle Nähe Betroffenheit und Solidarität steigert, ist ein oft beobachtetes Phänomen. So liess das unfassbare Leid der Nachbarn die Koreaner tief erschüttert zurück. Japan, ein asiatischer Riese, dessen wirtschaftlicher Aufstieg das Potenzial Ostasiens ahnen liess und die Nachbarn inspirierte, strauchelt.
Die Welle der Hilfsbereitschaft setzte in Korea sogleich ein, kaum dass die Katastrophe bekanntwurde. Als erstes Land schickte Korea einen grossen Suchtrupp mit Hunden ins Krisengebiet. Die koreanische Regierung will den höchsten Betrag bereitstellen, den sie je für ein anderes Land als Katastrophenhilfe aufgeboten hat. Zahlreiche Sammelaktionen sind angelaufen, und mehrere religiöse und zivile Hilfsgruppen haben sich auf den Weg gemacht, um Verschüttete zu bergen und Überlebenden zu helfen. Studenten schwärmten in Seoul aus, um auf den Strassen Spenden zu sammeln. Der koreanische Filmstar Bae Yong Jun, der durch koreanische Fernsehserien in Japan als «Yon-sama» zu grosser Bekanntheit gelangt ist, spendete eine Million Franken. Etliche koreanische Pop-Gruppen, Filmstars und Sportler folgten seinem Beispiel. Die grosse Anteilnahme und die Hilfsbereitschaft der Koreaner zeigen, wie nah sich die Menschen in den beiden Ländern inzwischen gekommen sind.
Dass dies nicht immer so war, wissen sowohl die Koreaner als auch die Japaner. Dunkle Erinnerungen an ein anderes Beben tauchen auf. Am 1. September 1923 um 11 Uhr 58 bebte im Grossraum Tokio - Yokohama die Erde. Es wurde die Stärke 7,9 gemessen. Die meisten Häuser, da sie nicht erdbebensicher gebaut waren, stürzten sofort ein. Was jedoch dieses Beben verheerend machte, war das Feuer, das sich im Nu über Tokio ausbreitete. Es war Mittagszeit, und man kochte überall mit Gas. Mit berstenden Gasleitungen und offenen Feuern an den Herden verwandelte sich die ganze Stadt in ein einziges Flammenmeer.
150 000 Menschen kamen damals ums Leben, und die Mehrzahl davon verbrannte. Korea war zu dieser Zeit bereits seit dreizehn Jahren eine Kolonie Japans, und viele Koreaner lebten unter schwierigsten Bedingungen in Japan. Die Krise spitzte sich dramatisch zu, da das Feuer sich nicht schnell löschen liess. Die Infrastruktur Tokios war weitgehend zerstört. Darum konnte die nötige Hilfe die Menschen nicht erreichen. Sie irrten verängstigt, hungernd und durstend umher. Die völlig überforderte Regierung fürchtete, die Wut der Menschen könnte sich gegen den Kaiser und die Obrigkeit richten. Die innenpolitische Lage war durch die gestiegene Abgabenlast ohnehin sehr angespannt.
In dieser explosiven Situation kamen Gerüchte auf, die Koreaner legten Feuer, vergifteten Brunnen und raubten die hilflosen Japaner aus. Die Koreaner nützten, so wurde kolportiert, die Not der Japaner aus und zettelten einen Aufstand an, um die Unabhängigkeit ihres Landes zu erreichen. Mit rasender Geschwindigkeit wurden diese völlig haltlosen Gerüchte von offizieller Seite in Umlauf gebracht, um die Wut der verzweifelten Japaner abzulenken. Die Parole lautete nun überall: «Tötet die Koreaner!»
Eine grausame Jagd auf die ahnungslosen Koreaner begann. Im Raum Tokio - Yokohama lebten damals abgesondert in Baracken rund 20 000 Koreaner. Da die meisten erst vor kurzem nach Japan gekommen waren, sprachen sie kaum Japanisch. Auch sie flohen vor dem Feuer, gerieten aber in eine noch tödlichere Falle. Überall wurden Bürgerwehren errichtet, die jeden Koreaner, den sie aufgriffen, auf grausamste Art umbrachten. Innerhalb von nur einer Woche kamen so 7000 Koreaner ums Leben, die nicht einmal begriffen hatten, was ihnen geschah. Die komplizierte Psyche der Menschen in Extremsituationen und das politische Kalkül im Zeitalter des Kolonialismus wirkten auf fatale Weise bei der Entstehung dieser Tragödie inmitten eines grossen Bebens zusammen.
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