Mittwoch, 7. Dezember 2016

Brexit und Trump dank Bigdata

Originalartikel: Das Magazin N°48 – 3. Dezember 2016 https://www.dasmagazin.ch/2016/12/03/ich-habe-nur-gezeigt-dass-es-die-bombe-gibt/

Ich habe nur gezeigt, dass es die Bombe gibt

Der Psychologe Michal Kosinski hat eine Methode entwickelt, um Menschen anhand ihres Verhaltens auf Facebook minutiös zu analysieren. Und verhalf so Donald Trump mit zum Sieg.
Am 9. November gegen 8.30 Uhr erwacht Michal Kosinski in Zürich im Hotel Sunnehus. Der 34-jährige Forscher ist für einen Vortrag am Risikocenter der ETH angereist, zu einer Tagung über die Gefahren von Big Data und des sogenannten digitalen Umsturzes. Solche Vorträge hält Kosinski ständig, überall auf der Welt. Er ist ein führender Experte für Psychometrik, einen datengetriebenen Nebenzweig der Psychologie. Als er an diesem Morgen den Fernseher einschaltet, sieht er, dass die Bombe geplatzt ist: Entgegen den Hochrechnungen aller führenden Statistiker ist Donald J. Trump gewählt worden.
Lange betrachtet Kosinski Trumps Jubelfeier und die Wahlergebnisse der einzelnen Bundesstaaten. Er ahnt, dass das Ergebnis etwas mit seiner Forschung zu tun haben könnte. Dann atmet er tief durch und schaltet den Fernseher aus.
Am gleichen Tag versendet eine bis dahin kaum bekannte britische Firma mit Sitz in London eine Pressemitteilung: «Wir sind begeistert, dass unser revolutionärer Ansatz der datengetriebenen Kommunikation einen derart grundlegenden Beitrag zum Sieg für Donald Trump leistet», wird ein Alexander James Ashburner Nix zitiert. Nix ist Brite, 41 Jahre alt und CEO von Cambridge Analytica. Er tritt stets im Massanzug und mit Designerbrille auf, die leicht gewellten blonden Haare nach hinten gekämmt.
Der nachdenkliche Kosinski, der gestriegelte Nix, der breit grinsende Trump – einer hat den digitalen Umsturz ermöglicht, einer hat ihn vollführt, einer davon profitiert.

Wie gefährlich ist Big Data?
Jeder, der nicht die letzten fünf Jahre auf dem Mond gelebt hat, kennt den Begriff «Big Data». Big Data bedeutet auch, dass alles, was wir treiben, ob im Netz oder ausserhalb, digitale Spuren hinterlässt. Jeder Einkauf mit der Karte, jede Google-Anfrage, jede Bewegung mit dem Handy in der Tasche, jeder Like wird gespeichert. Besonders jeder Like. Lange war nicht ganz klar, wozu diese Daten gut sein sollen – ausser dass in unserem Facebook-Feed Blutdrucksenker beworben werden, weil wir grad «Blutdruck senken» gegoogelt haben. Unklar war auch, ob Big Data eine grosse Gefahr oder ein grosser Gewinn für die Menschheit ist. Seit dem 9. November kennen wir die Antwort. Denn hinter Trumps Onlinewahlkampf und auch hinter der Brexit-Kampagne steckt ein und dieselbe Big-Data-Firma: Cambridge Analytica mit ihrem CEO Alexander Nix. Wer den Ausgang der Wahl verstehen will – und was auf Europa in den nächsten Monaten zukommen könnte –, muss mit einem merkwürdigen Vorfall an der britischen Universität Cambridge im Jahr 2014 beginnen. Und zwar an Kosinskis Department für Psychometrik.
Psychometrie, manchmal auch Psychografie genannt, ist der wissenschaftliche Versuch, die Persönlichkeit eines Menschen zu vermessen. In der modernen Psychologie ist dafür die sogenannte Ocean-Methode zum Standard geworden. Zwei Psychologen war in den 1980ern der Nachweis gelungen, dass jeder Charakterzug eines Menschen sich anhand von fünf Persönlichkeitsdimensionen messen lässt, den Big Five: Offenheit (Wie aufgeschlossen sind Sie gegenüber Neuem?), Gewissenhaftigkeit (Wie perfektionistisch sind Sie?), Extraversion (Wie gesellig sind Sie?), Verträglichkeit (Wie rücksichtsvoll und kooperativ sind Sie?) und Neurotizismus (Sind Sie leicht verletzlich?). Anhand dieser Dimensionen kann man relativ genau sagen, mit was für einem Menschen wir es zu tun haben, also welche Bedürfnisse und Ängste er hat, und aber auch, wie er sich tendenziell verhalten wird. Das Problem aber war lange Zeit die Datenbeschaffung, denn zur Bestimmung musste man einen komplizierten, sehr persönlichen Fragebogen ausfüllen. Dann kam das Internet. Und Facebook. Und Kosinski.
Für den Warschauer Studenten Michal Kosinski begann ein neues Leben, als er 2008 an der ehrwürdigen Cambridge University in England aufgenommen wurde: am Zentrum für Psychometrie, im Cavendish Laboratory, dem ersten Psychometrie-Labor überhaupt. Mit einem Studienkollegen stellte Kosinski eine kleine App ins damals noch überschaubare Facebook: Auf MyPersonality, so hiess die Applikation, konnte man eine Handvoll psychologischer Fragen aus dem Ocean-Fragebogen ausfüllen («Lassen Sie sich bei Stress leicht aus der Ruhe bringen?» – «Neigen Sie dazu, andere zu kritisieren?»). Als Auswertung erhielt man sein «Persönlichkeitsprofil» – eigene Ocean-Werte –, und die Forscher bekamen die wertvollen persönlichen Daten. Statt, wie erwartet, ein paar Dutzend Studienfreunde hatten schnell Hunderte, Tausende, bald Millionen ihre innersten Überzeugungen verraten. Plötzlich verfügten die beiden Doktoranden über den grössten jemals erhobenen psychologischen Datensatz.
Das Verfahren, das Kosinski mit seinen Kollegen über die nächsten Jahre entwickelt, ist eigentlich recht einfach. Zuerst legt man Testpersonen einen Fragebogen vor. Das ist das Onlinequiz. Aus ihren Antworten kalkulieren die Psychologen die persönlichen Ocean-Werte der Befragten. Damit gleicht Kosinskis Team dann alle möglichen anderen Onlinedaten der Testpersonen ab: was sie auf Facebook gelikt, geshared oder gepostet haben, welches Geschlecht, Alter, welchen Wohnort sie angegeben haben. So bekommen die Forscher Zusammenhänge. Aus einfachen Onlineaktionen lassen sich verblüffend zuverlässige Schlüsse ziehen. Zum Beispiel sind Männer, die die Kosmetikmarke MAC liken, mit hoher Wahrscheinlichkeit schwul. Einer der besten Indikatoren für Heterosexualität ist das Liken von Wu-Tang Clan, einer New Yorker Hip-Hop-Gruppe. Lady-Gaga-Follower wiederum sind mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit extrovertiert. Wer Philosophie likt, ist eher introvertiert.
Kosinski und sein Team verfeinern die Modelle unablässig. 2012 erbringt Kosinski den Nachweis, dass man aus durchschnittlich 68 Facebook-Likes eines Users vorhersagen kann, welche Hautfarbe er hat (95-prozentige Treffsicherheit), ob er homosexuell ist (88-prozentige Wahrscheinlichkeit), ob Demokrat oder Republikaner (85 Prozent). Aber es geht noch weiter: Intelligenz, Religionszugehörigkeit, Alkohol-, Zigaretten- und Drogenkonsum lassen sich berechnen. Sogar, ob die Eltern einer Person bis zu deren 21. Lebensjahr zusammengeblieben sind oder nicht, lässt sich anhand der Daten ablesen. Wie gut ein Modell ist, zeigt sich daran, wie gut es vorhersagen kann, wie eine Testperson bestimmte Fragen beantworten wird. Kosinski geht wie im Rausch immer weiter: Bald kann sein Modell anhand von zehn Facebooks-Likes eine Person besser einschätzen als ein durchschnittlicher Arbeitskollege. 70 Likes reichen, um die Menschenkenntnis eines Freundes zu überbieten, 150 um die der Eltern, mit 300 Likes kann die Maschine das Verhalten einer Person eindeutiger vorhersagen als deren Partner. Und mit noch mehr Likes lässt sich sogar übertreffen, was Menschen von sich selber zu wissen glauben. Am Tag, als Kosinski diese Erkenntnisse publiziert, erhält er zwei Anrufe. Eine Klageandrohung und ein Stellenangebot. Beide von Facebook.

Nur für Freunde sichtbar
Facebook hat inzwischen die Unterscheidung zwischen öffentlichem und privatem Posten eingeführt. Im «privaten» Modus können nur die eigenen Freunde sehen, was man likt. Aber das bleibt kein Hindernis für Datensammler: Während Kosinski stets das Einverständnis der Facebook-User erfragt, verlangen viele Onlinequiz heute den Zugang zu privaten Daten als Vorbedingung für Persönlichkeitstests. (Wer keine grosse Sorge um die eigenen Daten hat und sich selbst anhand seiner Likes auf Facebook einschätzen lassen will, kann das auf Kosinskis Seite  applymagicsauce.com machen und anschliessend seine Ergebnisse mit denen eines «klassischen» Ocean-Fragebogens vergleichen: discovermyprofile.com/personality.html.)
Aber es geht nicht nur um die Likes auf Facebook: Kosinski und sein Team können inzwischen Menschen allein anhand des Porträtfotos den Ocean-Kriterien zuordnen. Oder anhand der Anzahl unserer Social-Media-Kontakte (ein guter Indikator für Extraversion). Aber wir verraten auch etwas über uns, wenn wir offline sind. Der Bewegungssensor zeigt zum Beispiel, wie schnell wir das Telefon bewegen oder wie weit wir reisen (korreliert mit emotionaler Instabilität). Das Smartphone, stellt Kosinski fest, ist ein gewaltiger psychologischer Fragebogen, den wir konstant bewusst und unbewusst ausfüllen. Vor allem aber, und das ist wichtig zu verstehen, funktioniert es auch umgekehrt: Man kann nicht nur aus Daten psychologische Profile erstellen, man kann auch umgekehrt nach bestimmten Profilen suchen – etwa: alle besorgten Familienväter, alle wütenden Introvertierten. Oder auch: alle unentschlossenen Demokraten. Was Kosinski genau genommen erfunden hat, ist eine Menschensuchmaschine.
Immer deutlicher erkennt Kosinski das Potenzial – aber auch die Gefahr seiner Arbeit.
Das Netz erschien ihm immer wie ein Geschenk des Himmels. Er will ja eigentlich zurückgeben, teilen, sharen. Daten sind kopierbar, sollen doch alle etwas davon haben. Es ist der Geist einer ganzen Generation, der Beginn eines neuen Zeitalters ohne die Grenzen der physischen Welt. Aber was passiert, fragt sich Kosinski, wenn jemand seine Menschensuchmaschine missbraucht, um Menschen zu manipulieren? Er beginnt, alle seine wissenschaftlichen Arbeiten mit Warnungen zu versehen. Mit seinen Methoden könnten «das Wohlergehen, die Freiheit oder sogar das Leben von Menschen bedroht» werden. Aber niemand scheint zu verstehen, was er meint.
In dieser Zeit, Anfang 2014, tritt ein junger Assistenzprofessor namens Aleksandr Kogan an Kosinski heran. Er habe eine Anfrage eines Unternehmen, das sich für Kosinskis Methode interessiere. Die Facebook-Profile von zehn Millionen US-Nutzern sollen psychometrisch vermessen werden. Zu welchem Zweck, das könne er nicht sagen, es gebe strenge Geheimhaltungsauflagen. Kosinski will erst zusagen, es geht um sehr viel Geld für sein Institut, zögert dann aber. Schliesslich rückt Kogan mit dem Namen der Firma heraus: SCL – Strategic Communications Laboratories. Kosinski googelt die Firma: «Wir sind eine weltweit agierende Wahl-Management-Agentur», liest er auf der Unternehmenswebsite. SCL bieten Marketing auf Basis eines psycho-logischen Modells. Schwerpunkt: Wahlbeeinflussung. Wahlbeeinflussung? Verstört klickt sich Kosinski durch die Seiten. Was ist das für eine Firma? Und was haben diese Leute in den USA vor?
Was Kosinski zu diesem Zeitpunkt nicht weiss: Hinter SCL verbirgt sich ein kompliziertes Firmenkonstrukt mit Ablegern in Steuerparadiesen – wie die Panama Papers und Wikileaks-Enthüllungen zeigen. Manche haben bei Umstürzen in Entwicklungsländern mitgewirkt, andere entwickelten für die Nato Methoden zur psychologischen Manipulation der Bevölkerung in Afghanistan. Und mittlerweile sind SCL auch die Mutterfirma von Cambridge Analytica, jener ominösen Big-Data-Bude, die für Trump und Brexit den Onlinewahlkampf organisierte.
Kosinski weiss davon nichts, aber er ahnt Ungutes. «Die Sache begann zu stinken», erinnert er sich. Bei seinen Nachforschungen entdeckt er, dass Aleksandr Kogan heimlich eine Firma registriert hat, die mit SCL Geschäfte macht. Aus einem Dokument, das dem «Magazin» vorliegt, geht hervor, dass SCL Kosinskis Methode durch Kogan kennenlernte. Plötzlich dämmert Kosinski, dass Kogan sein Ocean-Modell kopiert oder nachgebaut haben könnte, um es der Wahlbeeinflussungsfirma zu verkaufen. Sofort bricht er den Kontakt zu ihm ab und informiert den Institutsleiter. Innerhalb der Universität entfacht sich ein komplizierter Konflikt. Das Institut sorgt sich um seinen Ruf. Aleksandr Kogan zieht erst einmal nach Singapur, heiratet und nennt sich fortan Dr. Spectre. Michal Kosinski wechselt an die Stanford University in den USA.
Ein Jahr lang ist es ziemlich ruhig, dann, im November 2015, verkündet die radikalere der beiden Brexit-Kampagnen, «leave.eu», getragen von Nigel Farage, sie habe eine Big-Data-Firma beauftragt, ihren Wahlkampf online zu unterstützen: Cambridge Analytica. Kernkompetenz der Firma: neuartiges Politmarketing, sogenanntes Mikrotargeting – auf Basis des psychologischen Ocean-Modells. 
Kosinski bekommt Mails, was er damit zu tun habe – bei den Stichworten Cambridge, Ocean und Analytics denken viele zuerst an ihn. Zum ersten Mal hört er von der Firma. Entsetzt schaut er auf die Website. Sein Albtraum ist wahr geworden: Seine Methodik wird im grossen Stil für politische Zwecke eingesetzt.
Nach dem Brexit im Juli prasseln Beschimpfungen auf ihn ein: Schau nur, was du getan hast, schreiben Freunde und Bekannte. Überall muss Kosinski erklären, dass er mit dieser Firma nichts zu tun hat.

Erst Brexit, dann Trump
Zehn Monate später. Es ist der 19. September 2016, die US-Wahl rückt näher. Gitarrenriffs erfüllen den dunkelblauen Saal des New Yorker Grand Hyatt Hotels, Creedence Clearwater Revival: «Bad Moon Rising». Der Concordia Summit ist eine Art Weltwirtschaftsforum in Klein. Entscheidungsträger aus aller Welt sind eingeladen, unter den Gästen befindet sich auch Bundesrat Schneider-Ammann. «Bitte heissen Sie Alexander Nix, Chief Executive Officer von Cambridge Analytica, willkommen», verkündet eine sanfte Frauenstimme aus dem Off. Ein schlanker Mann im dunklen Anzug betritt die Bühnenmitte. Es herrscht gebannte Stille. Viele hier wissen: Das ist Trumps neuer Digital-Mann. «Bald werden Sie mich Mr. Brexit nennen», hatte Trump einige Wochen zuvor etwas kryptisch getwittert. Politikbeobachter hatten zwar auf die inhaltliche Ähnlichkeit zwischen Trumps Agenda und jener des rechten Brexit-Lagers verwiesen. Die wenigsten aber hatten den Zusammenhang mit Trumps kürzlichem Engagement einer weithin unbekannten Marketingfirma bemerkt: Cambridge Analytica.
Trumps Digitalkampagne hatte davor mehr oder minder aus einer Person bestanden: Brad Parscale, einem Marketingunternehmer und gescheiterten Start-up-Gründer, der Trump für 1500 Dollar eine rudimentäre Website aufgebaut hatte. Der 70-jährige Trump ist kein Digitaltyp, auf seinem Arbeitstisch steht nicht einmal ein Computer. So etwas wie eine E-Mail von Trump gibt es nicht, hat seine persönliche Assistentin einmal verraten. Sie selber habe ihn zum Smartphone überredet – von dem aus er seither unkontrolliert twittert.
Hillary Clinton hingegen verliess sich auf das Erbe des ersten Social-Media-Präsidenten, Barack Obama. Sie hatte die Adresslisten der Demokratischen Partei, sammelte Millionen über das Netz, bekam Unterstützung von Google und Dreamworks. Als im Juni 2016 bekannt wurde, dass Trump Cambridge Analytica angeheuert hatte, rümpfte man in Washington die Nase. Ausländische Gecken in Massanzügen, die Land und Leute nicht verstehen? Seriously?
«Es ist mein Privileg, vor Ihnen, verehrte Zuhörer, über die Macht von Big Data und der Psychografie im Wahlkampf zu sprechen.» Hinter Alexander Nix erscheint das Logo von Cambridge Analytica – ein Gehirn, zusammengesetzt aus ein paar Netzwerkknoten, wie eine Landkarte. «Vor ein paar Monaten war Cruz noch einer der weniger beliebten Kandidaten», sagt der blonde Mann mit diesem britischen Zungenschlag, der Amerikanern dasselbe Gefühl einjagt wie vielen Schweizern Hochdeutsch, «nur 40 Prozent der Wähler kannten seinen Namen.» Alle im Saal haben den Blitzaufstieg des konservativen Senators Cruz mitbekommen. Es war einer der seltsamsten Momente des Wahlkampfes. Der letzte grosse innerparteiliche Gegner Trumps, der aus dem Nichts gekommen war. «Wie also hat er das geschafft?», fährt Nix fort. Ende 2014 war Cambridge Analytica in den US-Wahlkampf eingestiegen, zunächst als Berater des Republikaners Ted Cruz, finanziert vom verschwiegenen US-Softwaremilliardär Robert Mercer. Bisher, so Nix, seien Wahlkampagnen nach demografischen Konzepten geführt worden, «eine lächerliche Idee, wenn Sie drüber nachdenken: Alle Frauen erhalten die gleiche Nachricht, bloss weil sie das gleiche Geschlecht haben – oder alle Afroamerikaner, wegen ihrer Rasse?» So dilettantisch arbeitet das Kampagnenteam von Hillary Clinton, das braucht Nix hier gar nicht zu erwähnen, es unterteilt die Bevölkerung in vermeintlich homogene Gruppen – genauso wie all die Meinungsforschungsinstitute es taten, die Clinton bis zuletzt als Gewinnerin sahen.
Stattdessen klickt Nix weiter zur nächsten Folie: fünf verschiedene Gesichter, jedes Gesicht entspricht einem Persönlichkeitsprofil. Es ist das Ocean-Modell. «Wir bei Cambridge Analytica», sagt Nix, «haben ein Modell entwickelt, das die Persönlichkeit jedes Erwachsenen in den USA berechnen kann.» Jetzt ist es absolut still im Saal. Der Erfolg des Marketings von Cambridge Analytica beruhe auf der Kombination dreier Elemente: psychologische Verhaltensanalyse nach dem Ocean-Modell, Big-Data-Auswertung und Ad-Targeting. Ad-Targeting, das ist personalisierte Werbung, also Werbung, die sich möglichst genau an den Charakter eines einzelnen Konsumenten anpasst.
Nix erklärt freimütig, wie seine Firma das macht (der Vortrag ist auf Youtube frei einsehbar). Aus allen möglichen Quellen kauft Cambridge Analytica persönliche Daten: Grundbucheinträge, Bonuskarten, Wählerverzeichnisse, Clubmitgliedschaften, Zeitschriftenabonnements, medizinische Daten. Nix zeigt die Logos global tätiger Datenhändler wie Acxiom und Experian – in den USA sind quasi alle persönlichen Daten käuflich zu erwerben. Wenn man wissen will, wo zum Beispiel jüdische Frauen wohnen, kann man diese Informationen einfach kaufen. Inklusive Telefonnummern. Nun kreuzt Cambridge Analytica diese Zahlenpakete mit Wählerlisten der Republikanischen Partei und Onlinedaten wie Facebook-Likes – dann errechnet man das Ocean-Persönlichkeitsprofil: Aus digitalen Fussabdrücken werden plötzlich reale Menschen mit Ängsten, Bedürfnissen, Interessen – und mit einer Wohnadresse.
Das Vorgehen ist identisch mit den Modellen, die Michal Kosinski entwickelt hatte. Auch Cambridge Analytica verwendet IQ-Quiz und andere kleine Ocean-Test-Apps, um an die aussagekräftigen Facebook-Likes von Usern zu gelangen. Und Cambridge Analytica macht genau das, wovor Kosinski gewarnt hatte: «Wir haben Psychogramme von allen erwachsenen US Bürgern – 220 Millionen Menschen», Nix öffnet den Screenshot, «so sehen unsere Kontrollzentren aus. Lassen Sie mich zeigen, was wir damit tun.» Ein digitales Cockpit erscheint. Links Diagramme, rechts eine Karte von Iowa, wo Cruz überraschend viele Stimmen im Vorwahlkampf gesammelt hatte. Darauf Hunderttausende kleiner Punkte, rot und blau. Nix grenzt die Kriterien ein: Republikaner – die blauen Punkte verschwinden; «noch nicht überzeugt» – wieder verschwinden Punkte; «männlich» und so weiter. Am Schluss erscheint ein einzelner Name, darunter Alter, Adresse, Interessen, politische Neigung. Wie bearbeitet Cambridge Analytica nun eine solche Person mit politischen Botschaften?
In einer anderen Präsentation zeigt Nix am Beispiel des Waffengesetzes zwei Versionen, wie man psychografisch durchleuchtete Wähler ansprechen kann: «Für einen ängstlichen Menschen mit hohen Neurotizismus-Werten verkaufen wir die Waffe als Versicherung. Sehen Sie links das Bild dazu: die Hand eines Einbrechers, die eine Scheibe einschlägt.» Die rechte Seite zeigt einen Mann und ein Kind im Sonnenuntergang, beide mit Flinten in einem Feld, offensichtlich bei der Entenjagd: «Das ist für konservative Typen mit hoher Extraversion.»

Wie man Clinton-Wähler von der Urne fernhält
Trumps auffällige Widersprüche, seine oft kritisierte Haltungslosigkeit und die daraus resultierende ungeheure Menge an unterschiedlichen Botschaften entpuppen sich plötzlich als sein grosser Vorteil: Jedem Wähler seine Botschaft. «Trump agiert wie ein perfekt opportunistischer Algorithmus, der sich nur nach Publikumsreaktionen richtet», notiert bereits im August die Mathematikerin Cathy O’Neil. Am Tag der dritten Präsidentschaftsdebatte zwischen Trump und Clinton versendet Trumps Team 175 000 verschiedene Variationen seiner Argumente, vor allem via Facebook. Die Botschaften unterscheiden sich meist nur in mikroskopischen Details, um den Empfängern psychologisch optimal zu entsprechen: verschiedene Titel, Farben, Untertitel, mit Foto oder mit Video. Die Feinkörnigkeit der Anpassung geht hinunter bis zu Kleinstgruppen, erklärt Nix im Gespräch mit «Das Magazin». «Wir können Dörfer oder Häuserblocks gezielt erreichen. Sogar Einzelpersonen.» In Miamis Stadtteil Little Haiti versorgte Cambridge Analytica Einwohner mit Nachrichten über das Versagen der Clinton-Stiftung nach dem Erdbeben in Haiti – um sie davon abzuhalten, Clinton zu wählen. Das ist eines der Ziele: potenzielle Clinton-Wähler – hierzu gehören zweifelnde Linke, Afroamerikaner, junge Frauen – von der Urne fernzuhalten, ihre Wahl zu «unterdrücken», wie ein Trump-Mitarbeiter erzählt. In sogenannten dark posts, das sind gekaufte Facebook-Inserate in der Timeline, die nur User mit passendem Profil sehen können, werden zum Beispiel Afroamerikanern Videos zugespielt, in denen Hillary Clinton schwarze Männer als Raubtiere bezeichnet.
«Meine Kinder», beendet Nix seinen Vortrag am Concordia Summit, «werden sich so etwas wie ein Werbeplakat mit der gleichen Nachricht für alle, ja das ganze Konzept eines Massenmediums, nicht mehr erklären können. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit und kann Ihnen sagen, dass wir mittlerweile für einen der beiden verbliebenen Kandidaten arbeiten.» Dann verlässt er die Bühne.
Wie gezielt die amerikanische Bevölkerung bereits in diesem Moment von Trumps digitalen Truppen massiert wird, ist nicht erkennbar – weil sie selten breit im Mainstream-TV attackieren, sondern meist personalisiert auf Social Media oder im Digitalfernsehen. Und während sich das Clinton-Team auf Basis demografischer Hochrechnungen in Sicherheit wiegt, entsteht in San Antonio im Sitz der Trump-Digitalkampagne ein «zweites Hauptquartier», wie Bloomberg-Journalist Sasha Issenberg nach einem Besuch überrascht notiert. Das Cambridge-Analytica-Team, angeblich nur ein Dutzend Leute, hatte im Juli von Trump etwa 100 000 Dollar erhalten, im August bereits 250 000 Dollar, fünf Millionen im September. Insgesamt, so sagt Nix, habe man etwa 15 Millionen Dollar eingenommen.
Und die Massnahmen der Firma sind radikal: Ab Juli 2016 wird für Trump-Wahlhelfer eine App bereitgestellt, mit der sie erkennen können, welche politische Einstellung und welchen Persönlichkeitstyp die Bewohner eines Hauses haben. Wenn Trumps Leute an der Tür klingeln, dann nur bei jenen, die die App als empfänglich für seine Botschaften einstuft. Die Wahlhelfer haben auf den Persönlichkeitstyp des Bewohners angepasste Gesprächsleitfaden bereit. Die Reaktion wiederum geben die Wahlhelfer in die App ein – und die neuen Daten fliessen zurück in den Kontrollraum von Cambridge Analytica.
Die Firma unterteilt die US-Bevölkerung in 32 Persönlichkeitstypen, man konzentriert sich nur auf 17 Staaten. Und wie Kosinski festgestellt hatte, dass Männer, die MAC Cosmetic liken, sehr wahrscheinlich schwul sind, fand Cambridge Analytica heraus, dass eine Vorliebe für US-gefertigte Autos das beste Anzeichen für mögliche Trump-Wähler ist. Unter anderem solche Erkenntnisse zeigen nun Trump, welche Botschaften ziehen und wo genau am besten. Die Entscheidung, dass er sich in den letzten Wochen auf Michigan und Wisconsin konzentriert, geschieht auf Basis einer Datenauswertung. Der Kandidat wird zum Umsetzungsinstrument eines Modells.

Was macht Cambridge Analytica in Europa?
Aber wie gross war der Einfluss der psychometrischen Methoden auf den Ausgang der Wahl? Cambridge Analytica will auf Anfrage keine Belege für die Wirksamkeit der Kampagne liefern. Und es ist gut möglich, dass die Frage nicht zu beantworten ist. Und doch gibt es Anhaltspunkte: Da ist die Tatsache, dass Ted Cruz dank der Hilfe von Cambridge Analytica aus dem Nichts zum schärfsten Konkurrenten Trumps in den Primaries aufstieg. Da ist die Zunahme der ländlichen Wählerschaft. Da ist der Rückgang der Stimmenabgabe durch Afroamerikaner. Auch der Umstand, dass Trump so wenig Geld ausgab, könnte sich mit der Effektivität persönlichkeitsbasierter Werbung erklären. Und auch, dass er drei Viertel seines Marketingbudgets in den Digitalbereich steckte. Facebook erwies sich als die ultimative Waffe und der beste Wahlhelfer, wie ein Trump-Mitarbeiter twitterte. Das dürfte beispielsweise in Deutschland der AfD gefallen, die mehr Facebook-Freunde hat als CDU und SPD zusammen.
Es ist also keineswegs so, wie oft behauptet wird, dass die Statistiker diese Wahl verloren haben, weil sie mit ihren Polls so danebenlagen. Das Gegenteil ist richtig: Die Statistiker haben die Wahl gewonnen. Aber nur jene mit der neuen Methode. Es ist ein Treppenwitz der Geschichte, dass Trump oft über die Wissenschaft schimpfte, aber wohl dank ihr die Wahl gewonnen hat.
Ein anderer grosser Gewinner heisst Cambridge Analytica. Ihr Vorstandsmitglied Steve Bannon, Herausgeber der ultrarechten Onlinezeitung «Breitbart News», ist gerade zu Donald Trumps Chefstrategen ernannt worden. Marion Maréchal-Le Pen, aufstrebende Front-National-Aktivistin und Nichte der Präsidentschaftskandidatin, twitterte bereits, dass sie seine Einladung zur Zusammenarbeit annehme, und auf einem internen Firmenvideo steht über dem Mitschnitt einer Besprechung «Italy». Alexander Nix bestätigt, dass er auf Kundenakquise sei, weltweit. Es gebe Anfragen aus der Schweiz und Deutschland.
All das hat Kosinski von seinem Büro in Stanford aus beobachtet. Nach der US-Wahl steht die Universität kopf. Kosinski antwortet auf die Entwicklungen mit der schärfsten Waffe, die einem Forscher zur Verfügung steht: mit einer wissenschaftlichen Analyse. Zusammen mit seiner Forscherkollegin Sandra Matz hat er eine Reihe von Tests durchgeführt, die bald veröffentlicht werden. Erste Ergebnisse, die dem «Magazin» vorliegen, sind beunruhigend: Psychologisches Targeting, wie Cambridge Analytica es verwendete, steigert die Clickraten von Facebook-Anzeigen um über 60Prozent. Die sogenannte Conversion-Rate, also wie stark Leute – nachdem sie die persönlich zugeschnittene Werbung gesehen haben – auch danach handeln, also einen Kauf tätigen oder eben wählen gehen, steigerte sich um unfassbare 1400 Prozent*.
Die Welt hat sich gedreht. Die Briten verlassen die EU, in Amerika regiert Donald Trump. Begonnen hat alles mit einem Mann, der eigentlich vor der Gefahr warnen wollte. Bei dem jetzt wieder diese Mails eintreffen, die ihn anklagen. «Nein», sagt Kosinski leise und schüttelt den Kopf, «das hier ist nicht meine Schuld. Ich habe die Bombe nicht gebaut. Ich habe nur gezeigt, dass es sie gibt.»

Mitarbeit: Paul-Olivier Dehaye; www.personaldata.io

*Die genannte Studie bezieht sich auf eine Vergleichsreihe: Ein Konsum-Produkt wurde online beworben. Verglichen wurde die Reaktion auf zwei unterschiedliche Ansprachen: Eine genau auf den Charakter des Konsumenten angepasste Werbung mit einer dem Charakter widersprechenden Werbung. Die Steigerung der Conversionrate liegt bei genau angepasster Werbung bei 1’400 Prozent gegenüber dem Charakter widersprechender Werbung.

Dienstag, 22. November 2016

HUMAN Extended version VOL.1

Turn on the Closed Captions (CC) to know the countries where the images were filmed and the first name of the interviewees.

What is it that makes us human? Is it that we love, that we fight ? That we laugh ? Cry ? Our curiosity ? The quest for discovery ?
Driven by these questions, filmmaker and artist Yann Arthus-Bertrand spent three years collecting real-life stories from 2,000 women and men in 60 countries. Working with a dedicated team of translators, journalists and cameramen, Yann captures deeply personal and emotional accounts of topics that unite us all; struggles with poverty, war, homophobia, and the future of our planet mixed with moments of love and happiness.


The VOL.1 deals with the themes of love, women, work and poverty.

In order to share this unique image bank everywhere and for everyone,
HUMAN exist in several versions :
A theatre version (3h11) , a tv version (2h11) and a 3 volumes version for the web

CONTACTS
Office Yann Arthus-Bertrand : Yann2@yab.fr
Project manager: jessica@human-themovie.org
Head of international screenings and distribution : lara@human-themovie.org
French events and non-commercial distribution : event@human-themovie.org

Official website HUMAN : http://www.human-themovie.org
For further contents, visit http://g.co/humanthemovie
Enjoy and share #WhatMakesUsHUMAN
Watch the full film from September 12 at https://www.youtube.com/channel/UCJy4...

All these shoots were carbon-offset through the GoodPlanet Foundation’s United Carbone Action program: http://www.goodplanet.org/en/united-c...

Dienstag, 8. November 2016

Racial_Ethnic Profiling

Stop Racial_Ethnic Profiling from Benjamin Weiss.

Racial Profiling

Der Begriff «Rassistisches Profiling» bezeichnet alle Formen von diskriminierenden Personen- und Fahrzeugkontrollen gegenüber Personengruppen, welche von den Polizisten/-innen als ethnisch oder religiös «andersartig» wahrgenommen werden. Die folgenden Ausführungen erläutern diese Definition.
Der Ausdruck  «Racial Profiling» stammt aus den USA, wo vor allem Afroamerikaner/innen und Personen lateinamerikanischer Abstammung von überdurchschnittlich vielen polizeilichen Personenkontrollen betroffen sind. Es wird auch von «Ethnic Profiling» gesprochen. Im europäischen Kontext sind neben Schwarzen auch Personen aus der Balkanregion (insbesondere Roma) sowie aus arabischen Ländern und Musliminnen und Muslime von ungerechtfertigten Personen- und Fahrzeugkontrollen betroffen.
Weil in Europa das Adjektiv «rassisch» keine sachliche Bedeutung hat, sondern als Element von rassistischen Ideologien aufgefasst wird, verwenden wir im vorliegenden Themendossier ausschliesslich den Ausdruck «rassistisches Profiling». Dabei beziehen wir uns auf den Begriff des Rassismus in der weiten Bedeutung, welche auch alle Formen der kulturalisierenden Unterordnung umfasst.
Mehr Informationen zu Racial Profiling finden Sie im Themendossier „Rassistisches Profiling“ von humanrights.ch.

Mittwoch, 19. Oktober 2016

Reich ist, wer bequem von den Zinsen leben kann



3 Prozent besitzen so viel wie die restlichen 97 Prozent. Unter den 300 Superreichen wächst jetzt die Angst vor dem sozialen Aufstand. Interview mit dem Soziologen Ueli Mäder: Oliver Fahrn

work: Ueli Mäder, wann ist man wirklich reich?
Ueli Mäder:
Wenn man von den Zinsen seines Vermögens bequem leben kann. Dafür genügt eine Million heute nicht mehr. Es braucht schon ein paar Millionen. Aber wenn Sie einen Superreichen fragen, lautet seine Antwort: Ab 30 Millionen beginnt man reich zu sein.

Ein Haufen Geld, den man mit Lohnarbeit nicht verdienen kann.
Wie sagte einer meiner Gesprächspartner, der mit Finanzgeschäften schon jung sehr viel Geld gemacht hatte: «Wer arbeitet, hat keine Zeit, Geld zu verdienen.» Wir haben weit über 100 Reiche interviewt. Aber längst nicht alle würden über die Arbeitenden so verächtlich sprechen.

Also: Wie wird man reich?
Vor allem auch, indem man erbt. Die Hälfte der 300 Reichsten in der Schweiz ist als Sohn, Tochter oder über Heirat reich geworden. 2010 werden mindestens 40 Milliarden vererbt. Mehr als die Hälfte davon geht an Millionäre. Nur zehn Prozent der Erben erhalten drei Viertel aller Erbschaften.

Noch mehr Geld kommt zu schon sehr viel Geld?
Die fehlende Erbschaftssteuer treibt die enorme Konzentration der Vermögen in der Schweiz noch voran. Aber das ist nur ein Element. Zwischen 1989 und 2009 stieg das Vermögen der 300 Reichsten von 86 Milliarden auf 449 Milliarden Franken.

Trotz Krise?
Diese 300 Superreichen haben nur 10 Milliarden von 459 Milliarden verloren. Das war 2009. Inzwischen haben sie das längst mehr als wettgemacht.

In der kleinen Schweiz lebt, so lesen wir, jeder zehnte Milliardär der Welt.
Ja, wenn wir auch jene einbeziehen, die keinen Schweizer Pass haben. Die sozialen Unterschiede wachsen bei uns wie sonstwo kaum. Die Kluft zeigt sich sogar bei den verfügbaren Einkommen, mit denen auch die CS rechnet. Unter 165 Ländern landet die Schweiz in der Rangliste gerechter Vermögensverteilung auf dem drittletzten Platz. Schlechter sind nur Singapur und Namibia. Und seit kurzem wissen wir, dass in Basel 3 Promille der Steuerpflichtigen mehr Vermögen haben als die anderen 99,7 Prozent. Diverse Untersuchungen bestätigen das. Sie finden die Daten auf www.reichtumin- der-Schweiz.ch.

Die Schweiz ist also eine Oligarchie, eine Herrschaft von wenigen Superreichen? Das deckt sich gar nicht mit dem Bild, das wir von diesem Land haben.
Im Gegensatz zu vielen dieser Länder sichern das durchschnittliche Einkommen plus die Sozialversicherungen bei uns meist ein anständiges Leben. Die Einkommen sind etwas gerechter verteilt als die Vermögen. Und doch haben wir auch in der Schweiz fast eine halbe Million Menschen, die in Haushalten von Working Poor leben. Das sind Arbeitende, die vom Lohn die Familie nicht ernähren können. Das Bild von demokratisch gerechter Reichtumsverteilung täuscht.

Weil der generelle Lebensstandard in der Schweiz relativ hoch ist, nehmen wir die wachsende soziale Ungleichheit gar nicht richtig wahr?
Genau. Aber da gibt es noch ein anderes Problem. Die kleine Minderheit mit viel Reichtum und Macht tut auch viel dafür, dass sich in unseren Köpfen falsche Bilder halten. An Vorträgen frage ich das Publikum immer wieder, ob in der Schweiz mehr Menschen unter 20 Jahren oder mehr Menschen über 65 leben. Fast alle sind jeweils sicher, dass die Alten in der Mehrheit sind. Tatsächlich aber leben hier mehr unter 20jährige. Die wenigsten wissen, dass die Sozialausgaben zwar steigen, aber seit 2004 im Verhältnis zum Bruttoinlandprodukt abnehmen. Falsche Bilder sind hartnäckig, weil sie endlos wiederholt werden. In allen Medien, auf allen Kanälen. Die falschen Vorstellungen von der eigenen Gesellschaft dienen offenbar Interessen. Hier zum Beispiel jenen von Versicherungen und Sozialabbauern.

Weil wir nicht genau hinschauen, können die Superreichen ungestört walten?
Einer meiner Interviewpartner war Novartis- Chef Daniel Vasella. Er wurde von rund 100 Reichen unserer Studie als eine der acht mächtigsten Personen des Landes genannt. Ich habe ihn, der auch schon einen möglichen Wegzug der Novartis ins Ausland angedeutet hatte, auf seine Macht angesprochen. Vasella antwortete: «Wenn Sie mir das sagen, dann nehme ich das als Gegebenheit und Wahrnehmung gewisser Leute wahr.» Dann fragte er sinngemäss: Geht es den Menschen in der Region etwa nicht gut?

Die Untertanen sind zufrieden, wen stört meine Macht?
Das ist zu scharf ausgedrückt. Was aber stimmt: So bleiben viele wichtige Fragen unter dem Deckel. Etwa die Frage, ob eine solche Ballung von Macht und Geld vernünftig und sozial verträglich sei. Oder ob die Bürgerinnen und Bürger überhaupt noch eine Chance hätten, über ihr Leben und die Zukunft des Landes frei zu entscheiden.

Wir wundern uns, dass die Reichen und Mächtigen alle mit dem kritischen Soziologen Mäder sprechen wollten.
Es stimmt, kaum jemand hat ein Interview abgelehnt. Und viele der Befragten haben erfreulicherweise sehr offen gesprochen. Rolf Soiron zum Beispiel, einer der besonders einflussreichen und stark unterschätzten Köpfe, hat ungeschminkt über die Wendungen in seinem Leben gesprochen. Dagobert Kuster, früher Direktor der Volksbank und Firmengründer, sprach sich für einen sozial attraktiveren Kapitalismus aus – und für die Einführung einer nationalen Erbschaftssteuer! Ex-UBS-Banker und Ex-Ascom-Chef Urs Hägeli hat unter anderem über die Boni-Abzocker gesagt: «Mit ihrem egozentrischen System gefährden sie unseren sozialen Frieden.»

Der Banker Paul Feuermann, der bei Vontobel und UBS war, hat Ihnen Albträume gestanden. Er spricht von Volksaufständen, Verelendung und «dramatischen Veränderungen».
Er ist nicht der Einzige. Erstaunlicher ist, dass viele daraus keine weiterführenden Schlüsse ziehen möchten. Herr Vasella hält übrigens die Möglichkeit grösserer Umbrüche für durchaus wahrscheinlich. Das zeige auch ein Blick in die Geschichte.

Donnerstag, 29. September 2016

The Choice is Ours (2016) by The Venus Project



Produced/Directed by Roxanne Meadows and Joel Holt
Script by Roxanne Meadows
Editor Joel Holt, assisted by Roxanne Meadows & Nathaniel Dinwiddie
Original Score by Kat Apple

This film series explores many aspects of our society. To rethink what is possible in our world, we need to consider what kind of world we want to live in. Although we refer to it as civilization, it is anything but civilized. Visions of global unity & fellowship have long inspired humanity, yet the social arrangements up to the present have largely failed to produce a peaceful and productive world. While we appear to be technically advanced, our values and behaviors are not. The possibility of an optimistic future is in stark contrast to our current social, economic, and environmental dilemmas. The Choice Is Ours includes interviews with notable scientists, media professionals, authors, and other thinkers exploring the difficulties we face.

Part I provides an introduction and overview of cultural & environmental conditions that are untenable for a sustainable world civilization. It explores the determinants of behavior to dispel the myth of “human nature”, while demonstrating how environment shapes behavior. The science of behavior is an important - yet largely missing - ingredient in our culture.

Part II questions the values, behaviors, and consequences of our social structures, and illustrates how our global monetary system is obsolete and increasingly insufficient to meet the needs of most people. Critical consideration of the banking, media, and criminal justice systems reveals these institutions for what they really are: tools of social control managed by the established political and economic elite. If we stay the present course, the familiar cycles of crime, economic booms & busts, war, and further environmental destruction are inevitable.

Part III explains the methods and potential of science. It proposes solutions that we can apply at present to eliminate the use of non-renewable sources of energy. It depicts the vision of The Venus Project to build an entirely new world from the ground up: a “redesign of the culture”, where all enjoy a high standard of living, free of servitude and debt, while also protecting the environment.

Part IV explains how it is not just architecture and a social structure that is in desperate need of change, but our values which have been handed down from centuries ago. They too need to be updated to our technological age, which has the potential to eliminate our scarcity-driven societies of today. Our problems are mostly of our own making, but we can still turn things around before the point of no return. It’s not too late for an optimistic outlook on the fantastic possibilities that lie before us.

Jacque Fresco-Futurist, Industrial Designer, Social Engineer, Founder of The Venus Project

Jeffery A. Hoffman Ph.D - Prof. Aeronautics & Astronautics MIT, Former NASA Astronaut

Henry Schlinger, Ph.D., BCBA-D - Prof. Psychology CAL State University

Abby Martin - Journalist & Host "The Empire Files"

Karen Hudes - Economist, Lawyer, World Bank Whistleblower

Erin Ade - Reporter & Host "Boom Bust" – RT

Paul Wright - Founder & Director of Human Rights Defense Center, Editor of Prison Legal News, Author

Dylan Ratigan - Author & TV Host "The Dylan Ratigan Show"

Mark Jacobson, Ph.d - Prof. Civil & Env. Engineering, Stanford University. www.thesolutionsproject.org

Erik Brynjolfsson, Ph.D - Prof. of Management-MIT Sloan School of Management, Dir. MIT Initiative on the Digital Economy, Author

Lawrence M. Krauss, Ph.D - Foundation Prof. School of Earth and Space Exploration, and director of Origins Project, Arizona State University. Author "A Universe from Nothing".

Paul Hewitt - Author "Conceptual Physics"

Roxanne Meadows - Co-Founder The Venus Project

*special thanks also to Alexander "Obraz" ...Obraz.io who created the many 2d motion depictions (plus the sound fx!) of concepts such as the "hamburgers and fried chicken" segment and many others which are Alexander's inimitable work style and atteniton to details where we needed very specific illustrations of key points.

The Venus Project proposes an alternative vision of what the future can be if we apply what we already know in order to achieve a sustainable new world civilization. It calls for a straightforward redesign of our culture in which the age-old inadequacies of war, poverty, hunger, debt and unnecessary human suffering are viewed not only as avoidable, but as totally unacceptable. Anything less will result in a continuation of the same catalog of problems inherent in today's world.
Learn more at www.thevenusproject.com

Donnerstag, 15. September 2016

Dirty Diesel wird gefördert von Schweizer Händerln

von: https://www.dirtydiesel.ch/

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Bei Luftverschmutzung denken die meisten Leute an Neu-Delhi oder Peking. Sie auch? Zu Recht macht der Smog in asiatischen Städten immer wieder Schlagzeilen. Was dabei leicht übersehen wird: In afrikanischen Städten wie Dakar oder Lagos ist die Luftqualität noch schlechter. Hauptgrund für die ungesunde Luft sind Fahrzeugabgase.

Besonders problematisch ist der hohe Schwefelgehalt im Treibstoff. In afrikanischen Ländern werden Diesel und Benzin mit einem Schwefelgehalt verkauft, der bis zu 378-mal über dem europäischen Grenzwert liegt. Das haben Messungen von Public Eye vor Ort ergeben. Mit diesen qualitativ schlechten Treibstoffen lassen sich hohe Profite erzielen – auf Kosten der Gesundheit der Menschen und der Umwelt.

Unsere neuste Recherche zeigt, dass Schweizer Rohstoffhändler - allen voran Branchenleader Trafigura - das dreckige Geschäft mit dem giftigen Treibstoff für Afrika dominieren. Sie liefern ihn, verkaufen ihn vor Ort über eigene Tankstellen-Netzwerke und produzieren das Gemisch sogar selbst. Dabei nutzen sie die tiefen Grenzwerte in den Ländern systematisch aus und optimieren mit den giftigen Treibstoffen ihre Profitmargen. So tragen sie direkt zur Luftverschmutzung bei und sind somit mitverantwortlich für den frühzeitigen Tod tausender Menschen.

Das Handeln der Schweizer Rohstoffhändler ist aufgrund der laschen Standards zwar legal, aber es ist illegitim und verletzt die Menschenrechte. Wir finden: Das dreckige Geschäft muss aufhören!

Es ist Zeit zu handeln!

Wir setzen uns  zusammen mit verschiedenen afrikanischen Organisationen und dem UNEP (Umweltprogramm der UNO) für griffige Treibstoffstandards ein. Die Rohstoffhändler hier in der Schweiz sind die Nutzniesser dieses ungerechten Geschäftsmodells. Wir wollen sie dazu bringen, ihre soziale Verantwortung wahrzunehmen.

Deshalb drehen wir den Spiess um und schicken einen Container mit dreckiger Luft aus Ghana nach Genf, wo auch Branchenführer Trafigura seinen Sitz hat. Das Unternehmen kann dabei unter Beweis stellen, wie ernst es ihm ist  auch punkto Unternehmensverantwortung führend sein zu wollen.

Aktivistinnen und Aktivisten aus Ghana haben den Container gefüllt, gemeinsam müssen wir nun sicherstellen, dass Trafigura unsere Forderung nach sauberem Treibstoff auch hört: Unterschreiben Sie unsere Petition «Return to Sender»,  teilen Sie die Kampagne in ihrem Freundeskreis und folgen Sie uns auf Twitter unter ♯ReturnToSender! Um ein so profitables Drecksgeschäft stoppen zu können, braucht es viel öffentlichen Druck - jede Stimme zählt! Herzlichen Dank.
 
Jetzt gleich Petition unterschreiben!
Als Organisation setzt Public Eye (ehem. EvB) sich für jene Menschen ein, deren Rechte durch das Handeln von Schweizer Unternehmen verletzt werden. Danke, dass Sie sich mit uns engagieren.

Susanne Rudolf
Public Eye (bisher Erklärung von Bern)
 
 
Alle Infos und Fakten zur Kampagne
Alle Infos und Fakten zur Kampagne

Dienstag, 13. September 2016

Gebildet, aber kurzsichtig

Immer mehr Menschen sehen schlecht in die Ferne. Mitschuldig daran scheint der Schulunterricht. Mit einfachen Mitteln liesse sich die Beeinträchtigung eindämmen.

original: http://www.tagesanzeiger.ch/wissen/medizin-und-psychologie/gebildet-aber-kurzsichtig/story/25460713

Jedes Kind in der Grundschule im chinesischen Wuhan hat einen Metallbügel unter dem Kinn, egal, ob es lesen oder schreiben soll. Die gebogene Stütze soll verhindern, dass die Kinderaugen Büchern und Heften zu nah kommen, aus Angst, sie könnten später kurzsichtig werden. In vielen Ländern Asiens wird derzeit nahezu alles versucht, um der Augenerkrankung entgegenzuwirken – zum Beispiel mit Massen-Sehtests bei Schülern. Seit Jahrzehnten steigt die Zahl der Kurzsichtigen. In Ländern wie China, Korea und Singapur sind oft 80 Prozent der Schüler und Studenten kurzsichtig, in Städten wie Seoul und Shanghai beinahe 100 Prozent. Jeder Fünfte ist mit mehr als minus sechs ­Dioptrien hochgradig fehlsichtig.

Auch in Europa ist die Fehlsichtigkeit ein wachsendes Problem. Das European Eye Epidemiology Consortium schätzt, dass ein Drittel der Europäer kurzsichtig ist. Für 2050 prognostiziert das Brien Holden Vision Institute, dass die Hälfte aller Menschen kurzsichtig sein wird, ­jeder Fünfte hochgradig. Für die Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist es ein globales Problem. In Entwicklungsländern und ländlichen Regionen fehlen Tausende Augenärzte und damit der Zugang zu Behandlungen und Sehhilfen.

Wenn nichts passiert, kann das für viele Länder teuer werden und für Betroffene weitreichen­de Folgen haben. Die WHO schätzt, dass etwa 158 Millionen Menschen wegen ihrer Kurzsichtigkeit nur einfachste Aushilfsberufe ausüben können. Das bedeute Einkommens­verluste zwischen 90 und 300 ­Milliarden US-Dollar pro Jahr. Experten wie Norbert Pfeiffer von der Augenklinik Mainz halten das Leiden für unterschätzt, weil Folgeerkrankungen drohen. «Hochgradig Kurzsichtige leiden zehnmal so häufig an Netzhautablösungen», sagt Pfeiffer. Grüner oder grauer Star treten häufiger und schwerer auf.

Schuld an den Problemen sind nur wenige Millimeter, die der Augapfel bei Kurzsichtigen länger gewachsen ist. Ein Millimeter entspricht 2,7 Dioptrien. Hornhaut und Linse des Auges brechen das Bild dann so, dass es vor der Netzhaut liegt und alles in der Ferne unscharf wird. Bei den meisten Menschen fängt es mit acht Jahren an, bis fünfzehn nimmt Kurzsichtigkeit schnell zu. Je später die Fehlsichtigkeit auftritt, desto langsamer schreitet sie fort.

Ruin der Augen

Über die möglichen Ursachen der Kurzsichtigkeit diskutieren Wissenschaftler schon lange: der Zeitpunkt der Geburt, das Stadtleben, sozialer Status, UV-Strahlung und Lichtfarben. Das meiste ist kaum belegt. Mittlerweile dominieren drei Thesen die Diskussion: Der Seh­abstand ist zu kurz. Die Menschen halten sich in zu dunklen Räumen auf. Oder die Genetik ist schuld. Wahrscheinlich ist es eine Mischung aus diesen Faktoren. Zumindest finden Forscher dafür seit einigen Jahren belastbare Hinweise.

Die Orinda-Studie in den USA hat Hunderte Schulkinder bis zu sieben Jahre lang begleitet und untersucht, wie sehr die Augenerkrankung davon abhängt, ob die Eltern kurzsichtig sind. Die Fehlsichtigkeit tritt dann tatsächlich mit höherer Wahrscheinlichkeit auf. Verhalten und Umwelt scheinen aber eine grössere Rolle zu spielen als die Gene.

Die These wird schon sehr lange diskutiert. Bis 1867 untersuchte etwa der Augenheilkundler Hermann Cohn über mehrere Jahre Tausende Schüler. Etwa 60 Prozent der Jugendlichen waren kurzsichtig. Mit einem Fotometer versuchte er, die Helligkeit der Räume zu messen, in denen sie unterrichtet wurden. Cohn kam zu dem Schluss, dass die Naharbeit, also das Lesen und Schreiben, und dunkle Schulräume schuld seien am «Ruin der Augen».

Heutige Untersuchungen bestätigen Cohns Ergebnisse. Mit der Gutenberg-Studie aus Mainz etwa, die zwischen 2007 und 2012 mehr als 15 '000 Probanden untersuchte, konnte Norbert Pfeiffer zeigen, dass Kurzsichtigkeit mit der Zahl der Schuljahre zunimmt. Nach dreizehn Jahren Schule waren jeder Zweite und beinahe doppelt so viele kurzsichtig wie nach neun Jahren.

Den Zusammenhang zwischen Helligkeit und Kurzsichtigkeit hat auch Frank Schaeffel von der Universität Tübingen untersucht. Der Neurobiologe setzte für seine Experimente Hühnern Streulinsen auf und liess sie so künstlich kurzsichtig werden. Eine Gruppe hielt er bei typischer Bürobeleuchtung (500 Lux), eine bei tageslichtähnlicher Beleuchtung (15'000 Lux). Die anderen durften raus auf den Balkon ans Tageslicht (mehr als 30'000 Lux). Die Augen der Balkonhühner waren nach dem Versuch weniger kurzsichtig. Schaeffel führt das auf die lichtabhängige Freisetzung von Dopamin aus der Netzhaut zurück. Der Botenstoff soll das Augenwachstum hemmen. Viel Licht führt zu viel Dopamin und verhindert so Kurzsichtigkeit.

Die Naharbeit in der Schule und die Helligkeit spielen also wahrscheinlich eine Rolle. Aber wie genau? «Bisher gibt es keine eindeutigen Beweise, wir sprechen davon, dass die Faktoren mit dem Problem assoziiert sind», sagt Pfeiffer. Für Frank Schaeffel hingegen ist die Datenlage überzeugend. Man könnte also erste Massnahmen ergreifen – mehr Licht in Schulen etwa.
In China gibt es nun dazu Versuche. Vor kurzem ist in der Stadt Yanxi eine Studie zu Ende gegangen, bei der Schulklassen in einem verglasten Raum unterrichtet wurden. Die Forscher haben die Helligkeit im Raum gemessen und wollen die Werte nun mit den Dioptrien der Schüler in Verbindung bringen. Sie sprechen von «ermutigenden» Ergebnissen.

Politik agiert kurzsichtig

Es könnte auch einfacher gehen. Mehrere Studien mit Hunderten Kindern belegen mittlerweile, dass Zeit im Freien die Folgen von Naharbeit kompensieren kann. 45 Minuten bei Tageslicht verringern die Häufigkeit von Kurzsichtigkeit um etwa 30 Prozent, 80 Minuten um circa 60 Prozent. Bisher werden diese Erkenntnisse aber kaum in Empfehlungen oder Vorschriften umgesetzt. Angesichts der drohenden Kosten und Verluste, die die WHO prognostiziert, verhält sich die Politik kurzsichtig.
Nur Taiwan ist offenbar entschlossen. 1999 rief die damalige Regierung einen Aktionsplan im Kampf gegen Kurzsichtigkeit aus. Innerhalb von fünf Jahren sollte der Anteil kurzsichtiger Grundschüler von 55 auf 10 Prozent sinken. Kindergärten und Schulen sollten Naharbeit einschränken, die Kinder eine aufrechte Sitz- und Lesehaltung lernen. Mehr als 15 Jahre später ist das ambitionierte Projekt gescheitert und doch ein Erfolg. Seit 2012 müssen sich taiwanesische Schüler täglich mindestens zwei Stunden draussen aufhalten. Die «3010-Regel» schreibt zudem nach jeder halben Stunde Naharbeit zehn Minuten Pause vor. Bis 2015 war die Häufigkeit der kurzsichtigen Erstklässler dennoch nur um drei Prozent gesunken.

Womöglich liegt das am Leistungsdruck. «Viele Kinder lernen bis zu zwölf Stunden am Tag und sind vielleicht pro Woche zwei Stunden draussen», sagt Pfeiffer. Und selbst wenn Kinder heute ihre Hausaufgaben beiseitelegen, sind Smartphones und Tablets zur Hand. Wie und ob Handys Kurzsichtigkeit verstärken können, ist wissenschaftlich aber noch nicht geklärt. Trotzdem: Taiwan ist das erste Land, in dem die Zahl kurzsichtiger Primarschüler sinkt. Ähnliche Massnahmen zur Vermeidung der Fehlsichtigkeit gibt es in anderen Ländern bislang nicht. Man beschränkt sich auf die Korrektur der Sehschwäche, sinnvoller wäre es, sie zu verhindern.

Schon Hermann Cohn forderte Ruhetage für das Auge. Kurzsichtige sollten daher das Lesen und Schreiben einige Wochen im Jahr ruhen lassen. Schaeffel und Pfeiffer raten, die Kinder einfach rauszuschicken. Es funktioniert ja, man weiss nur nicht, warum. «Selbst wenn es keinen Effekt auf die Kurzsichtigkeit hat, dann senkt es das Risiko für Diabetes, Haltungsschäden und vieles andere», sagt Pfeiffer. Das wäre doch auch was.

(Tages-Anzeiger)
(Erstellt: 14.03.2016, 23:40 Uhr)

Dienstag, 30. August 2016

Ethics of Consumption - cultural capitalism



In this RSA Animate, renowned philosopher Slavoj Zizek investigates the surprising ethical implications of charitable giving.

Dienstag, 9. August 2016

Kinder in den USA

Original: https://www.dasmagazin.ch/2016/08/05/das-bose-lauert-uberall/

Das Böse lauert überall

Amerikas Vorstadtstrassen sind wie leer gefegt, weil Eltern ihre Kinder nicht mehr allein vor die Tür lassen, aus Angst, verhaftet zu werden. Vertrauen ist das grösste Tabu, Paranoia oberste Pflicht. In den USA grassiert die Furcht vor allem und jedem.

 Das Magazin N°31/32 – 6. August 2016

In den ersten Wochen fällt es einem gar nicht auf. Wer neu aus Europa in eine durchschnittliche amerikanische Vorstadt zieht, der ist zunächst von der geballten Ladung Idylle erschlagen, den netten Holzveranden, den freundlichen Nachbarn, Jack und Cindy, die immerzu lächeln und Kuchen vorbeibringen und am 4. Juli ihren Garten mit amerikanischen Fahnen schmücken. Es müssen erst ein paar Monate vergehen, bis man merkt, dass hier etwas nicht stimmt. Noch aber kommt man nicht drauf, blickt dafür immer öfter verstohlen aus dem Fenster, weil man etwas sucht, weil hier einfach etwas fehlt. Nur: was denn? Bis einem endlich die Augen aufgehen.
Bei mir dauerte das ungefähr ein Jahr. Als ich an einem späten Nachmittag mit dem Auto durch unser Quartier fuhr, vorbei an Vorgärten mit Rasensprinklern, vorbei an adretten Backsteinhäusern mit Basketballkorb an der Garage, sah ich es plötzlich ganz deutlich. Es war, als hätte ich auf einmal eines dieser Vexierbilder entschlüsselt und das andere Bild entdeckt im Bild. Nicht mehr den alten Mann mit Glatze und Bart, sondern die nackte Frau. In diesem Moment brach die amerikanische Vorstadtidylle zusammen, denn ich sah – Tschernobyl.
Alles war wie immer, Cindys Blumen strahlten um die Wette, in der Luft lag der Geruch von gemähtem Gras dividiert durch gegrilltes Fleisch, doch endlich erkannte ich, was hier fehlt: Kinder. Keine Mädchen mit Zöpfen. Keine Jungs mit aufgeschlagenen Knien. Keine Kreidezeichnungen am Boden, lachende Sonnen und Marienkäfer auf zwei Beinen. Kein Geschrei zu hören, kein «18–19–20, ich koommeeee». In der Vorstadt, in der wir wohnen, zwanzig Minuten vom Weissen Haus entfernt, ist es so gespenstisch leer wie in einem dieser Roland-Emmerich-Filme über die Postapokalypse.
Jeden Donnerstag kommt bei uns die Müllabfuhr vorbei, was bedeutet, dass sämtliche Anwohner am Mittwochabend ihren Müll an die Strasse stellen. Und wenn man heimlich in ihre Säcke schaut, dann sieht man durchaus Spuren von Kinderleben, blaue Legokartons, Cornflakes-Schachteln in XXL-Familiengrösse, Babynahrung mit Bananengeschmack – allein die Kinder sieht man nie.
Man kennt das Klischee, das die Anti-Amerikaner unter uns, und davon gibt es in der Schweiz ja einige, immer wiederholen: Amerikaner würden ihre Kinder halt lieber vor den Fernseher setzen, während wir unsere draussen im Dreck wühlen lassen. Doch es ist, wie bei allen Klischees, komplexer.
Man kennt auch die Berichte über Helikoptereltern, die ihre Kinder überwachen und in Watte packen, als würden sie unter der Glasknochenkrankheit leiden. Doch auch hier ist der elterliche Überprotektionismus nur ein Symptom eines tiefer liegenden Phänomens, das nicht nur die Kindererziehung, sondern das ganze Land bestimmt: Die Angst geht um in Amerika.
Und plötzlich ergibt vieles Sinn, was man anfänglich als anders oder seltsam empfand: Warum man in der Schule täglich ein Formular unterschreiben muss, bevor man seine Kinder abholt. Warum auf Kindergeburtstagen nur die aufs Trampolin dürfen, deren Eltern eine schriftliche Bewilligung einreichen. Warum auf den Spielplätzen und in Parks, wo sich durchaus Kinder finden lassen, immer so viele Erwachsene herumstehen, die bei Not eingreifen und bei Streitereien schlichten. Warum die Liste mit möglichen Nebenwirkungen, auch wenn es sich nur um Kindermückenspray handelt, so endlos lang ist. Und warum man vor allem so selten Kinder sieht, die sich ohne Aufsicht irgendwo aufhalten. Weder in Bussen noch im Wald oder vor dem Supermarkt. Im Schwimmbad sowieso nicht.

Erotische Beziehung zur Angst
Keine Woche vergeht ohne neue Angst. Angst vor Terror, vor Muslimen und Mexikanern; vor zu vielen Waffen oder davor, keine Waffen mehr tragen zu dürfen; vor heimischen Zecken, südamerikanischen Zika-Viren und Atombomben aus Nordkorea; vor dem sozialen Abstieg, schlechten Schulnoten, hohen Cholesterinwerten und vor Schneefällen, die sich zu «Monsterstürmen» auftürmen könnten, wie es im vergangenen Winter im Fernsehen hiess. Worauf die Anwohner in meiner Vorstadt sämtliche Supermärkte leer kauften und sich im Keller Notunterkünfte einrichteten, als würden sie sich auch ein wenig drauf freuen. Als dann nach ein paar Tagen doch nur harmlose Schneeflocken vom Himmel fielen, die sich puderzuckrig auf die Vorgärten legten, da waren unsere Nachbarn Jack und Cindy nicht etwa empört, weil man sie in die Irre geführt hatte und sie sich umsonst Sorgen machten. Sie waren erleichtert und froh, dass alles noch einmal gut ausging. Kinder beim Schlitteln allerdings sah ich keine.
Dafür wurden in jenem Winter sämtliche Sitzbänke vor den Schulen in der Umgebung abgeschraubt, weil man nicht will, dass die Kinder nach dem Unterricht auf dem Schulhof spielen und sich die Eltern auf den Bänken ausruhen – wie man das bei Bahnhöfen macht, um die Penner zu vertreiben. So will man aus Versicherungsgründen, dass sich Eltern wie Kinder ohne Umwege sofort nach Hause begeben, es könnte ja sonst etwas passieren.
Es ist eine Unart dieser Tage, dass kein einziger Bericht über die USA ohne Verweis auf Donald Trump auskommt. Doch hier muss der Immobilienspekulant, der sich durch die Vorwahlen pöbelte und nun gegen Hillary Clinton antritt, erwähnt sein, denn natürlich ist der Aufstieg Trumps ohne Amerikas erotische Beziehung zur Angst nicht zu verstehen. Die Angst ist ein Lustgewinn, deshalb wird sie zelebriert und gepflegt, und sie ist der Kitt in der amerikanischen Gesellschaft.
Mehrmals schon liess Danielle Meitiv ihre Kinder Rafi, 11, und Dvora, 8, allein in den Park, was hier ähnliche Reaktionen auslöst, als hätte sie ihnen zum Geburtstag Zigaretten geschenkt.
Während Barack Obama seit acht Jahren vorgibt, alles immer im Griff zu haben, schürt Trump Ängste, wo er nur kann. «Wir sind ein Land der Verlierer geworden und werden verspottet», sagt er dauernd, worauf seine Anhänger johlen, als hätte er ihnen eine Gehaltserhöhung versprochen. Die Furcht vor dem eigenen Niedergang entfacht gleichzeitig Begeisterung, weil sie zusammenhält: Wir gegen die. Und wo kräftig mit Angst gedüngt wird, da gedeiht Hass, das weiss man aus der europäischen Geschichte.

Nüsse sind verboten, Schokolade ist erlaubt
Die Angst um die Kinder ist aber vielleicht die intimste, sie sagt viel aus über den Zustand dieses Landes und verunsichert eine ganze Generation junger Eltern, die doch nur das Beste für ihre Kinder wollen, aber bei all den Schauermärchen und ob all der Panikmache nicht mehr wissen, was das Beste ist. Hinzu kommt, dass sie sich mit einer Fülle von Gesetzen herumschlagen müssen, die von Staat zu Staat variieren: Wer Kinder ohne Aufsicht auch nur für wenige Minuten im Auto lässt, in einem Park oder nur schon zu Hause, wer fremden Schulmädchen auf dem Spielplatz beim Klettern hilft und sie zufällig auch noch berührt, läuft Gefahr, von Beamten der Child Protective Services (CPS) ins Visier genommen zu werden, und das möchte niemand. C-P-S – diese drei Buchstaben lassen amerikanischen Eltern das Blut in den Adern gefrieren.
Dabei sind die USA doch das «land of the free», so dachte man jedenfalls, als man neu aus Europa herzog. Dass Eltern alles andere als frei sind, merkt man, wenn man die Kinder zur Schule anmeldet und sich durch die seitenlange Liste von Regeln kämpft: Die Badekappe muss weiss sein, das Kind gegen Hepatitis geimpft und die Lunchbox natürlich aus Plastik, sonst könnten sich die Kinder damit ja noch die Nasen blutig schlagen. An Nüssen könnten sie sich verschlucken, an Äpfeln die Zähne ausbeissen, Schokolade ist erlaubt.
Die ganze Verunsicherung führt ja nicht nur zu dieser gespenstischen Leere in meinem Quartier und dem Umstand, dass wir drei Tage lang alle Geschäfte nach weissen Badekappen absuchten. Die Folgen sind weitreichender und über das ganze Land verteilt. Wobei das nicht ganz stimmt. Kinder aus ärmeren Familien sind durchaus auf der Strasse, in Schwarzenvierteln von D.C., Chicago oder Baltimore etwa klettern sie ohne Aufsicht auf Gerüste und Bäume, weil die Eltern keine Zeit haben, sich um sie zu kümmern. Weil sie arbeiten und abends zu müde sind. Angst zu haben und teilzunehmen an der nationalen Panik ist ein Privileg und gehört auf die Liste von Christian Landers hervorragendem Blog: «Stuff White People Like».

Revolutionärin oder Rabenmutter
In Connecticut überhörte Maria Hasankolli eines Morgens im November ihren Wecker, worauf sich ihr Sohn, 8 Jahre alt, allein auf den Weg machte. Zwei Polizisten hielten ihn an, begleiteten ihn zur Schule, fuhren daraufhin zur verschlafenen Mutter zurück und legten ihr Handschellen an. Die Anklage lautete, sie habe ihr Kind willentlich in Gefahr gebracht, es war von einer 10-jährigen Gefängnisstrafe die Rede. Hasankolli kam gegen 2500 Dollar Kaution wieder frei. Sie geht jetzt jeden Abend mit der Angst ins Bett, sie könnte den Wecker noch einmal überhören, schreibt sie: «Dann nehmen sie mir meinen Sohn weg.»
In Arizona fuhr Brenda Mayers mit ihrem Mann und ihren vier Kindern vom Schwimmbad nach Hause, es war später Nachmittag, und sie wollten noch etwas essen. Die Jüngeren schliefen, die beiden Älteren folgten dem Vater in eine Filiale von Burger King. Mayers stieg aus dem Auto und setzte sich an einen der Tische neben den Parkplätzen, der Wagen keine fünf Meter von ihr entfernt, die Fenster offen. Nur einmal ging sie kurz hinein, um Servietten zu holen und sich die Hände zu waschen, doch das reichte: Ein Gast am Nebentisch rief die Polizei.
Mayers erhielt eine Busse, weil es verboten ist, Kinder unter sieben Jahren mehr als fünf Minuten allein im Auto zu lassen. «Dass es nicht mal eine Minute war, tat nichts zur Sache.» Ein paar Wochen später führten Beamte der Kinderschutzbehörde CPS mit den Lehrern von Mayers Kindern Gespräche. Auch die Kinder wurden vernommen, ohne dass Mayers dabei sein durfte. Sie hat nun eine dicke Akte und musste einen mehrtägigen Elternkurs besuchen, obwohl sie vier Kinder hat. Und als sie neulich in einem Park von einem Polizisten gerügt wurde, weil ihr Sohn zu nahe am Ufer lief, wollte sie sich erst wehren, liess es dann aber bleiben und entschloss sich, von nun an zu Hause zu bleiben. «Burger essen und im Park spazieren gehen, das ist in diesem Land zu gefährlich geworden.»
Mittagessen mit Danielle Meitiv, Mutter von Rafi, 11, und Dvora, 8. Meitiv ist entweder Revolutionärin oder Rabenmutter, je nachdem, wie man es betrachtet. Sie selbst will gegen «diese Totalhysterie» ankämpfen, die in Amerika grassiere und die Städte «in tote Kulissen verwandelt», für die sich keiner mehr zuständig fühle, «weil wir ja immer zu Hause sind».
Dank einer nationalen Kampagne gelten Kastenwagen, die langsam im Quartier herumschleichen, als verdächtig.
Mehrmals schon liess Meitiv ihre Kinder allein in den Park, was hier ähnliche Reaktionen auslöst, als hätte sie ihnen zum Geburtstag Zigaretten geschenkt. Meitiv hörte auch nicht damit auf, nachdem die Polizei bereits interveniert hatte und die Männer von der Jugendschutzbehörde CPS begannen, sie auszuspionieren. Sie nahm sich einen Anwalt und hielt dagegen. Die Meldung der renitenten Mutter, die sich nicht verbieten lassen will, ihre Kinder ohne Aufsicht in der Nachbarschaft herumlaufen zu lassen, ging vor einem Jahr um die Welt, selbst das russische Fernsehen hat darüber berichtet. «In anderen Ländern ist das doch ganz normal. Was also soll die Aufregung?»
Danielle Meitiv ist in den Siebzigerjahren in einem jüdischen Viertel in Queens aufgewachsen. «Einen gefährlicheren Ort gab es damals nicht in den USA», Bandenkriege, Cracktote, «und dennoch liessen mich meine Eltern draussen spielen. Und wenn ich die sechsspurige Strasse zur Synagoge überqueren musste, da habe ich jemanden um Hilfe gefragt.» Das Bauchgefühl habe sich verändert, so Meitiv, man gehe heute immer davon aus, dass etwas passiert; und wer das schlimmstmögliche Szenario nicht einkalkuliert, der gelte als schlechte Mutter oder mieser Vater.

Die Angst mit Löffeln gegessen
Wann war der Tag, die Woche, das Jahr, als sich die Angst in den Köpfen der Amerikaner ausbreitete und immer häufiger auch in jenen der Schweizer? Warum hat sich unser Blick derart verändert? Wie ist es möglich, dass dieses Bauchgefühl allen Statistiken trotzt und sich so hartnäckig hält? Mord, Raub, Vergewaltigung, Entführung, das Leben in den USA war nie sicherer als heute. Selbst für Schwarze. Und dennoch wurden noch nie so viele Ortungsgeräte verkauft. Handy-Apps und Zimmerkameras, mit denen man seinen Nachwuchs jederzeit überwachen kann, sind mittlerweile Standard im Kinderzimmer. Mit der Angst der Eltern lässt sich Geld verdienen.
Als Meitiv in den Siebzigerjahren aufwuchs, wurden Bilder verschwundener Kinder auf Milchflaschen gedruckt, die auf den Frühstückstischen standen: «Hast du mich gesehen?», war auf den Flaschen zu lesen, mit denen Millionen von Amerikanern ihre Cornflakes-Schüsseln füllten – sie assen die Angst mit dem Löffel. Damals begann man, den Kindern zu verbieten, mit Fremden mitzugehen, «Stranger Danger» hiess die nationale Kampagne, und fortan galten Kastenwagen, die langsam im Quartier herumschleichen, als verdächtig. Auch dafür gibt es, wie für so vieles, eine Bezeichnung: «Man in a Van» – diese Warnung vor Fremden kennt hier jedes Kind. Obwohl 90 Prozent der Kindsmisshandlungen von Verwandten oder Freunden begangen werden, aber das nur nebenbei.
Als dann das Fernsehen 24 Stunden pro Tag zu senden begann, explodierte die elterliche Paranoia, sagt Danielle Meitiv. «Die emotionalen Einzelschicksale, die pausenlos auf uns niederprasseln, haben unser Denken und unsere Risikowahrnehmung verändert und uns alle in einen permanenten Schreckenszustand versetzt.» Denn die Botschaft, die alle diese Geschichten in die Wohnzimmer transportieren, sei: Pass bloss auf, es könnte auch deinen Kindern passieren. Mit dem Resultat, dass alle überall Gefahr wittern. «Wer ein Kind allein auf der Strasse sieht, der denkt sich: Was ist denn mit dem passiert?, anstatt sich zu fragen: Und wo, bitte schön, sind all die anderen?»
Mit dem Aufstieg der Angst, so Meitiv, erhielt die Jugendschutzbehörde CPS, so etwas wie die Schweizer Kesb, immer mehr Macht. Sie habe keine Angst vor Einbrechern, sagt Meitiv, sie habe Angst davor, dass Nachbarn die CPS anrufen, weil sie ihre Kinder wieder mal allein spielen lässt. «Die Leute von den CPS sind unantastbar. Sie können Familien entzweien, Kinder in Internate stecken, Männer als potenzielle Vergewaltiger abstempeln. Ein Wort der CPS genügt, und dein Leben stellt sich auf den Kopf.»
Weil keiner Ärger will, würden Amerikaner alles für ihre Kinder tun, daher der Überprotektionismus. «Wir züchten eine Generation polierter Kids, für die wir alles tun und die wir möglichst lang von der Welt abschotten. Mit 16 kiffen sie zwar heimlich und haben Oralsex, aber vom Leben keine Ahnung.»

Ruhe statt Panik – ein Tabu in Amerika
Die geistige Mutter des Widerstands gegen Meitivs «Totalhysterie» heisst Lenore Skenazy und lebt in New York. Sie liess ihren 9-jährigen Sohn in Manhattan allein mit der U-Bahn fahren und schrieb 2008 eine Kolumne darüber, mit dem Titel: «Here’s Your Metrocard, Kid». Damit löste sie eine landesweite Empörung aus. «Andauernd wurde ich gefragt, was ich getan hätte, wenn er nicht zu Hause angekommen wäre. Aber das ist ja gar keine Frage. Es ist eine Verurteilung.» Sie habe sich erlaubt, nicht mit dem Schlimmstmöglichen zu rechnen, sondern damit, dass alles gut kommt. Ruhe statt Panik. Ein Tabu in Amerika.
Seitdem wird Skenazy jährlich zur schlechtesten Mutter des Landes gewählt, in den USA gibt es ja für alles eine Liste. Sie führt einen Blog, hilft Eltern, die mit Behörden Schwierigkeiten haben, weil sie etwa ihr Kind für eine Minute im Auto liessen, und sie hat die «Free Range Kids»-Bewegung gegründet – so etwas wie die Freilandhaltung bei Hühnern. Skenazy nennt es «Streifradius». Kinder sollen umherstreunen und ihr Viertel entdecken, statt die Jugend im elterlichen Käfig abzusitzen. Zudem unterstützt sie Projekte in Schulen, die die Selbstständigkeit der Kinder fördern, und spricht an Tagungen von «diesem total überhitzten Land» und den Auswirkungen auf die Kleinsten.
Dieser Überhitzung bin ich vor Kurzem wieder begegnet, als ich von einer freundlichen Fahrkartenverkäuferin daran gehindert wurde, mit meinen drei Kindern in den Zug zu steigen: «So sind nun mal die Regeln.» Und die Regel lautet, dass ein Erwachsener nur mit maximal zwei Kindern reisen darf, weil man allein auf drei nicht aufpassen könne, was streng genommen ja auch stimmt. Falls etwa ein Helikopter auf den fahrenden Zug stürzen würde und es zur Entgleisung käme, hätte ich tatsächlich Mühe, mich um alle zu kümmern. «Dann nehme ich halt das Auto», sagte ich, und sie nickte.
Jährlich kommt es zu 1,5 Millionen Unfällen auf den Strassen der USA, 35 000 Menschen sterben, das Auto ist das gefährlichste Verkehrsmittel von allen. Aber hey, keine Panik.

Samstag, 6. August 2016

Wer den Wind sät… Was westliche Politik im Orient anrichtet | Michael Lüders


https://www.youtube.com/watch?v=syygOaRlwNE

Michael Lüders untersucht in seinem Vortrag die Folgen westlicher Politik in der arabisch-islamischen Welt. Er beginnt mit dem von britischen und amerikanischen Geheimdiensten inszenierten Putsch gegen die demokratisch gewählte Regierung von Mossadegh im Iran 1953, die als "Ursünde" westlicher Interventionen in der Region angesehen werden kann. Denn auf Mossadegh folgte die Diktatur des Schah, die wiederum durch die Islamische Revolution 1979 hinweggefegt wurde. Ohne Putsch gegen Mossadegh keine islamische Revolution - in dieser Einschätzung sind sich die Historiker weitgehend einig. Doch der Westen hat aus seinen Fehlern nichts gelernt, wie Lüders aufzeigt. So hatte das Eingreifen in den Krieg in Afghanistan, das 1979 von den Sowjets besetzt worden war, ebenfalls weitreichende Folgen. Aus der Unterstützung für die Mudschahedin, die Glaubenskämpfer, die gegen die Sowjets kämpften, erwuchsen später Al-Qaida und Osama bin Laden. Der Aufstieg des "Islamischen Staates" wiederum ist nicht zu erklären ohne die US-geführte Militärintervention zum Sturz Saddam Husseins 2003. Was also tun? Wie kann eine konstruktive Politik in der Region aussehen? Wie ist das Erstarken radikaler islamistischer Strömungen zu bekämpfen?

Mehr Infos: http://www.tele-akademie.de/begleit/video_ta150412.php

Warum müssen Fünftklässler sonntags büffeln statt Freunde zu treffen?

Original aus zeit.de: http://www.zeit.de/2011/22/DOS-G8

Schulzeitverkürzung: Liebe Sophie,

Warum müssen Fünftklässler sonntags büffeln statt Freunde zu treffen? Weshalb dieser Unsinn? Henning Sußebach versucht, es seiner Tochter in einem Brief zu erklären.


Liebe Sophie, erinnerst Du Dich noch an den Tag, an dem wir das letzte Mal im Kino waren? An diesen Tierfilm, den Du so gerne sehen wolltest? Wie hieß der bloß noch? Ich glaube, Tiger, Bären und Vulkane, aber sicher bin ich mir nicht. Denn unser Ausflug liegt schon ein paar Monate zurück. Wir sind alle zusammen mit dem Auto in die Stadt gefahren: Mama, Henri, Du und ich. Es war Sonntag – und wir beide saßen mit Karteikarten auf der Rückbank und haben gelernt. Wie viel ist 172? Wie viel 56? Wie viel 28? Auf dem Weg nach Hause dann noch mal: 27 = 128, 182 = 324, 56 = 15625. Und noch mal. Und zur Sicherheit gleich noch mal.
Wir hätten so viel Sinnvolleres tun können auf unserem Heimweg! Den Bildern der Bären nachhängen und Bonbons lutschen zum Beispiel. In dem Zauber verweilen, den jeder kennt, der aus dem Kinodunkel ins Licht tritt – als laufe man erwachend durch einen Traum. Aber noch nicht mal an einem Sonntag ist es mir gelungen, Dich das Kind sein zu lassen, das Du sein solltest mit zehn Jahren.
Bitte mach mir diesen Mist nicht nach, wenn Du erwachsen bist, Sophie!
Du merkst schon: Der Brief, den ich Dir schreibe, ist eine verzwickte Angelegenheit. Du wirst ihn genau lesen müssen, damit Du alles verstehst. Und dass Du verstehst, ist wichtig: Denn es geht um Dein Leben und um das, was wir Erwachsenen daraus machen.
Ich werde Dir von Schülern berichten, die krank werden vom dauernden Üben. Von Bildungsexperten, die Euch vorm Lernen warnen. Und von Eltern, die ihre Kinder trotzdem nicht in Ruhe lassen. Von Zeile zu Zeile werde ich wütender werden – weil ich wütend bin auf mich und auf ein Land, das Euch alle zu Strebern macht.
Deshalb habe ich meinen Brief auch nicht auf Deinen Platz gelegt, dort am Küchentisch, an dem wir morgens Einkaufszettel schreiben und abends Vokabeln lernen: Wie lautet das englische Wort für Gummistiefel, Stiefvater, Drachenfestival, Schiffsausguck, Küstenstadt, Karaoke-Gerät, Schatzkarte, Gartenschuppen, Geschmacksrichtung Hühnchen? Ich schreibe diesen Brief in der Zeitung, weil es noch 275.000 andere Fünftklässler in Deutschland gibt, die ein Gymnasium besuchen wie Du. Die gerade wie Du für die letzten Arbeiten vor den Zeugnissen büffeln. Und die wie Du trotzdem nur mit halbem Ohr diese rätselhaften Wörter hören: "Turbo-Abi", "Schulzeitverkürzung", "G8".
In diesem Brief, Sophie, möchte ich Dir und Tausenden anderer Schulkinder etwas verraten. Es gibt da ein paar Geheimnisse, von denen Ihr nichts ahnt, denn jedes Kind nimmt die Welt ja erst einmal als gegeben hin.
Stopp, das war zu kompliziert! Ich meine: Ein Kind hält sein Leben, so wie es ist, für ganz normal. Woher soll es wissen, dass alles auch anders sein könnte? Oder wie die Erwachsenen gelebt haben, als die noch klein waren? Dieses Hinnehmen ist schön, weil Ihr nicht so viel grübeln müsst: "Was wäre, wenn...?" Aber es macht Euch auch da fügsam, wo Auflehnung angebracht wäre.
Du hast jeden Tag sieben Stunden Schule und weißt nicht, dass ich als Kind niemals täglich sieben Stunden hatte, in keinem einzigen Schuljahr. Dass ich nachmittags allenfalls vor dem Abitur so viel gelernt habe wie Du jetzt in der fünften Klasse, und niemals auf dem Weg ins Kino. Und dass ich heute manchmal so tue, als müsste ich noch arbeiten, wenn ich abends nach Hause komme und sehe, wie Du über Grammatik-Arbeitsblättern sitzt: Kreuze die richtigen Aussagen an! Der Genus ist das grammatische Geschlecht eines Nomens / Nomen können im Singular und im Plural auftreten. Dies nennt man den Kasus des Nomens / Der Numerus ist der Fall, in dem ein Nomen steht / Man kann Präpositionen steigern / Der bestimmte Artikel gibt im Nominativ Singular das grammatische Geschlecht eines Nomens an / Der Imperativ gehört zu den finiten Verbformen / Präsens wird benutzt, wenn man über etwas sagen kann: Es war gestern so, ist heute so und wird auch morgen so sein / Das Partizip I gehört zu den infiniten Verbformen / Verben kann man deklinieren. Ich hefte dann Rechnungen ab, schreibe EMails und sortiere Zeugs. Ich will nicht freihaben, solange Du noch arbeitest. Ist das nicht verrückt? Irgendjemand hat die Welt verdreht! Nur wer?
Weißt Du: Das alles ist nicht einfach so passiert. Die freie Zeit ist nicht einfach so verschwunden. Wir Erwachsenen haben Euch ein Jahr Eurer Kindheit gestohlen. Aus Eile und Angst.
Wie soll ich Dir das erklären?
Ich versuche es mal so: Unser Leben ist voller Reichtum und Mangel zugleich. Es gibt so viel Essen, dass wir die Reste wegwerfen. Nichts ist richtig knapp, außer manchmal Klopapier. Doch was uns fehlt, ist Zeit. Jedenfalls glauben wir das.
Wir Erwachsenen schauen selten im Kühlschrank nach, ob noch Käse oder Wurst da ist – aber wir gucken ständig auf die Uhr. Wir klagen dauernd über "Stress" – doch wenn wir nichts zu tun haben, fühlen wir uns nutzlos. Wir sind genervt, wenn der Chef uns auch am Wochenende anruft – aber eifersüchtig, wenn ein anderer Kollege mehr Anrufe bekommt. Unsere Computer sind voller Updates und Reminder, unsere Köpfe können Wichtiges von Drängendem nicht mehr unterscheiden – und den Sonntag nicht vom Montag. Das ist die Hast, die ich meine. Deine Großeltern haben seit 40 Jahren dieselbe Telefonnummer, wir haben unsere seit Deiner Geburt zweimal gewechselt – und noch zwei Handynummern dazugekriegt, damit wir immer erreichbar sind. Ein Brief war früher Tage unterwegs, eine Mail ist heute augenblicklich da. Die ganze Welt ist in einen Wettlauf geraten, den wir Erwachsenen "Globalisierung" nennen: Wer näht die billigsten T-Shirts? Wer baut die schnellsten Autos? Wer erfindet zuerst neue Telefone und Computer, die uns noch rasanter updaten und reminden können?
Irgendwann haben wir Deutschen gemerkt, dass die Kinder in anderen Ländern noch schneller lernen als unsere. Dass sie in China früher damit anfangen und in Amerika früher damit aufhören. Und gleich arbeiten. Da hat uns die Angst gepackt. Wir haben uns nicht gefragt, ob es klug ist, zu lernen wie die Chinesen. Wir haben nur gedacht: Bevor die uns einholen, beeilen wir uns auch.

Wir Erwachsenen haben nie Zeit – und haben Euch ein Schuljahr geklaut

Und noch etwas kam hinzu. Etwas, das mit Deutschland zu tun hat: das sogenannte Demografieproblem. Es gibt zu wenige Kinder und zu viele Alte. Aber das siehst Du ja, weil zu unseren Familienfesten mehr Onkel und Tanten kommen als Cousins und Cousinen. Ich hatte lange gedacht, dieses Demografieproblem werde Dein Leben als Erwachsene prägen. Jetzt bestimmt es schon Deine Kindheit. Denn wer früher die Schule verlässt, kann länger arbeiten. Und wer länger arbeitet, kann uns, wenn wir alt und müde sind, länger Geld für die Rente geben.
Schon 1993 (als uns die Chinesen noch egal waren und es keine Schulvergleiche gab) passierte es: Da empfahlen die Finanzminister aller deutschen Bundesländer, Euch ein Schuljahr wegzunehmen. Nicht die Kultusminister, die sich um die Schulen kümmern! Sondern die Politiker, die aufs Geld aufpassen, die Zahlen statt Menschen sehen und deshalb wissen: Jeder Gymnasiast kostet 5000 Euro im Jahr. Geld für die Lehrer, den Hausmeister, die Tafeln und Turnmatten. Allein an Dir und Deinen 27 Klassenkameraden konnten sie also 140.000 Euro sparen.
Deshalb wurde Euch ein Jahr aus der Schulzeit gestrichen – aus dem Lernstoff aber strich man nur wenig. Ihr sollt auf dem Gymnasium in acht Jahren begreifen, wofür Eure Eltern noch neun Jahre Zeit hatten. Unseren Mangel an Zeit – wir haben ihn zu Eurem gemacht.
Deshalb hast Du jetzt eine 40-Stunden-Woche voller Unterricht und Hausaufgaben. Deshalb hast Du vor wenigen Monaten das Gitarrespielen aufgegeben. Deshalb telefonierst Du die halbe Klassenliste rauf und runter, bis Du jemanden zum Spielen findest. Alle sind beschäftigt.
So kommt ein kleiner Raub an Freizeit und Freiheit zum anderen, jeder für sich kaum der Rede wert. Aber wenn man alle zusammenrechnet, in jeder Familie zwischen Nordsee und Alpen, kommt eine große Statistik der Überforderung dabei heraus: Ein Viertel aller Gymnasiastinnen klagt regelmäßig über Kopfweh, das hat die Krankenkasse DAK herausgefunden. Kinder sagen ihre Teilnahme an Geburtstagsfeiern ab. Sie treten aus Sportvereinen und Chören aus. In Schleswig-Holstein, unserem Bundesland, sind die Teilnehmerzahlen bei "Jugend forscht" eingebrochen, dabei wollte Deutschland doch möglichst schnell möglichst viele möglichst junge Ingenieure. In Baden-Württemberg hat sich die Zahl der Fünft- und Sechstklässler, die nachmittags in Nachhilfe-Instituten nachsitzen, fast verdreifacht. Sie haben plötzlich das Gefühl, nicht gut genug zu sein – obwohl sie gar nicht schlechter geworden sind! Drei Milliarden Euro investieren nervöse Eltern jedes Jahr in die Nachhilfe, 20 Prozent von ihnen mehr als 200 Euro im Monat. Das sind 2400 Euro im Jahr. Fast so viel, wie die Finanzminister an Euch gespart haben. Das macht den Reichen nichts aus, aber den Armen umso mehr. In Internetforen werden "Pillen fürs Abi" empfohlen: Ampakin – eigentlich für alte Leute mit Alzheimer – für mehr Gehirnleistung. Fluoxetin – eigentlich gegen Depressionen – für mehr Leistungsbereitschaft. Metroprolol – eigentlich gegen Bluthochdruck – für weniger Prüfungsangst. Und an Deinem Gymnasium hat eine "Wirtschaftspsychologin" uns Eltern vor einigen Tagen erklärt, woran wir bei Euch einen Burn-out erkennen. Das bedeutet, dass manche Kinder jetzt schon ausgebrannt sind – wie überarbeitete Erwachsene.
Ich habe einen Professor für Soziologie angerufen. Soziologen erforschen, warum die Gesellschaft so ist, wie sie ist. Warum wir so leben, wie wir leben. Der Professor heißt Hartmut Rosa und ist 45 Jahre alt, hat aber noch nicht vergessen, wie es ist, ein Kind zu sein. Deshalb hat er etwas geschafft, was Professoren selten schaffen: Er hat ein Buch geschrieben, das auch normale Menschen lesen können. Es heißt Beschleunigung und handelt von unserer täglichen Raserei.
Hartmut Rosa sagt, er macht sich Sorgen, weil Eure Kindheit so "vernutzt" ist. Dass alles einen Zweck hat, einen Sinn erfüllen muss. Dass wir Euch sogar dann, wenn wir Euch Gutes tun wollen, bloß wieder auf ein Leben als Erwachsene vorbereiten. "Es ist wichtig, körperlich fit zu sein und musikalisch, gesund zu essen, Freunde zu haben – und sich entspannen zu können!", sagt er. Hartmut Rosa will, dass wir Erwachsenen Euch endlich in Ruhe lassen. Ein Kind soll im Jetzt leben und nicht dauernd ans Morgen denken. Ein Kind soll ganz bei sich sein dürfen, nicht für andere da sein müssen. Ein Kind soll die Muße haben, mit etwas zusammen zu wachsen. Das kann ein Baum sein, eine Straße, ein Fußballplatz, ein Tier.
Vor allem fordert Hartmut Rosa: Ihr Kinder müsst Euch wieder langweilen dürfen. Denn irgendwann wird aus Langeweile Bewegung, ein Stromern und Streunen, das ziellos ist und doch an tausend Orte führt. Den schönsten Augenblicken der Kindheit geht die Langeweile voraus. Wer Langeweile hat, kommt auf die verrücktesten Ideen. "Die allermeisten Menschen würden im Rückblick doch sagen: Die endlos langen Sonntagnachmittage, an denen eigentlich nichts passierte, waren die Momente, in denen ich meine Seele spürte. In denen ich lernte, mich selber zu ertragen." So sagt es Hartmut Rosa.
Ganz sicher ist der Rückblick in die eigene Kindheit weichgezeichnet von Gefühlsduselei. Aber ich kann nur von meiner Kindheit erzählen: Ich bin groß geworden in einer Welt, in der es nicht pausenlos piepte und ploppte, niemand twitterte und livetickerte, in der Computer dick und braun waren wie Brotkästen und nur bei pickligen Stubenhockern in verdunkelten Kinderzimmern standen. Wenn ich mit jemandem spielen wollte, habe ich keine Klassenliste abtelefoniert, sondern beim Nachbarn geklingelt und gefragt: "Kommt der Christian raus?"

Wie viel Platz lässt Dir der Alltag für Hobbys? Für die Pubertät? Für Protest?

Als Fünftklässler habe ich endlose Nachmittage in der festen Überzeugung verbracht, der berühmte Fußballspieler Karl-Heinz Rummenigge zu sein – auch wenn ich meinen Lederball nur gegen Garagentore gedroschen habe. Mal allein, mal mit Freunden, mal mit fremden Jungen aus fremden Vierteln, rauen Burschen mit rauer Sprache, Hauptschülern, die der Zufall in meine Straße geführt hatte. Ich habe mich auf aufregende Weise gelangweilt! Jeden Schritt, jeden Schuss kommentierte eine innere Reporterstimme: "Was für eine Körpertäuschung! Mit diesem Volleykracher sichert sich Kalle Rummenigge die Torjägerkanone! Inter Mailand hat hundert Millionen für ihn geboten!" Später war ich Boris Becker, Tennisstar, der im Finale gegen eine bis dahin unbesiegte Brandmauer antrat. Ich ließ vor meinem Aufschlag den Ball auftitschen wie er. Ich leckte meine Lippen wie er. Ich schälte sogar meine Bananen wie er. "6:1, 6:0, 6:1!", brüllte die innere Stimme jetzt, "anders als der falsche Boris Becker gewinnt der echte zum dritten Mal in Folge Wimbledon! Und jetzt überreicht ihm die Herzogin von Kent auch schon den goldenen Pokal!"
Heute klingt das alles bescheuert, oder? Aber als Kind habe ich mir Baugenehmigungen für Luftschlösser erteilt. Wenn ich an früher denke, schlendere ich als Fußballgott und Tenniskönig durch gleißend helle Nachmittage. Ich habe immer Zeit. Und es ist immer Sommer. Ein größeres Kompliment kann die Erinnerung der Kindheit nicht machen.
Wenn es regnete? Habe ich den Tropfenrennen am Fenster zugesehen oder die Holzvertäfelung neben meinem Bett angestarrt. So lange, bis sich aus der Maserung Berge erhoben und sich die Astlöcher in Vulkankrater verwandelten. Kennst Du das auch?
Ich habe mal gerechnet: Du wirst in den Schulklassen fünf bis zwölf 1200 Stunden mehr Schule haben, als ich es hatte. 1200 Schulstunden! 1200-mal 45 Minuten. Das sind 600 Fußballspiele. Das ist die Zeit, in der ich Karl-Heinz Rummenigge und Boris Becker war. In der ich zum Golfplatz radelte und mit einem flinken Griff durch den Zaun eine Handvoll Bälle klaute, weil ich das für rebellisch hielt. In der ich mir ein Segelboot aus Holz baute, das dann leider auseinanderfiel. Erfahrung entsteht nur beim Gehen von Umwegen, heißt es. Ich hatte Zeit, um Zeit zu verschwenden! Mich zu irren. Fehler zu machen. In eine Sackgasse zu laufen und wieder zurückzugehen.
Mach auch mal Fehler, Sophie! Sachen, die wir Eltern für falsch halten. Du bist ja schon vernünftiger als wir: Als ich Dich neulich gefragt habe, ob ich mittwochs mal schwänzen soll, den Kollegen bei der Zeitung sagen, ich würde zu Hause arbeiten, in Wahrheit aber mit Dir schwimmen gehen, hast Du geantwortet: "Ich habe keine Zeit. Ich kann nur an Wochenenden."
An Deinen Lehrern liegt das kaum. Deine Schule erscheint mir als eine der besseren in einem schlechten System – fast wie das Richtige im Falschen. Du hast zwei Klassenlehrer, nicht nur einen. Die beiden strahlen eine Gelassenheit aus wie Teetrinker in der Espresso-Gesellschaft. Du hast bei ihnen zunächst das Lernen gelernt: Ich beginne meine Hausaufgaben mit etwas Einfachem und Interessantem. Ich lege Pausen bei meinen Hausaufgaben ein. Ihr bekommt Übungsarbeiten mit nach Hause, damit Ihr wisst, was Ihr Euch einprägen müsst (und was nicht...). Ihr bewertet Euch mit Selbstkontrollbögen: Was kann ich schon? Was noch nicht? Auf den Elternabenden fragen Eure Lehrer uns: "Sollen wir weniger Hausaufgaben aufgeben, damit den Kindern mehr Zeit bleibt? Oder mehr, damit sie den Stoff besser verstehen?"
Auf dem anderen Gymnasium in unserer kleinen Stadt hagelt es Fünfen und Sechsen, und Kinder geben halb leere Arbeitsblätter ab.
An deiner Schule haben die Lehrer hier und da die Lehrpläne entrümpelt. Und sie haben das Fach "Science" erfunden: Biologie, Physik und Chemie in einem. Wenn Ihr über Vögel sprecht (Biologie!), lernt Ihr auch, wie an ihren Flügeln Auftrieb entsteht (Physik!). Wenn Ihr über die Lunge und das Atmen sprecht (Biologie!), redet Ihr gleich über Sauerstoff und Stickstoff (Chemie!). Es gibt Lehrer anderer Gymnasien, die bei Euch lernen, wie man Science unterrichtet. Es gibt Verlage, die ihre Schulbücher den Ideen Deiner Lehrer anpassen. Ihr habt in Klasse fünf jeweils sechs Stunden Englisch, Mathe und Deutsch pro Woche, damit Ihr in Klasse sechs nur mehr vier braucht – denn dann kommt ja noch Französisch oder Latein hinzu. Eure Klassenlehrerin hat sich drei statt zwei Stunden Musik erkämpft, in denen sie mit Euch singt und lacht. Deine Lehrer nennen das "Stunden zum Ausatmen". Auch deshalb also habt Ihr so viel Unterricht.
Warum sollten Lehrer Euch auch von der Schule fernhalten? Uns Eltern aber hat der Soziologe Hartmut Rosa Hausaufgaben aufgegeben: "Es muss Nachmittage geben, an denen nichts im Terminkalender steht. Oder an denen NICHTS! im Terminkalender steht."
Ich hätte zwar lieber mit den Finanzministern, diesen Sparschweinen, gestritten, als schon wieder in Dein Leben einzugreifen, Sophie – aber als Du das Gitarrespielen aufgegeben hast, war das nicht nur Dein Wunsch, sondern auch der von uns Eltern. Damit Du weiter Basketball spielst. Denn da bist Du mal keine Einzelkämpferin.
Jetzt hängt Deine Gitarre an einem Haken neben Deinem Schreibtisch, und ich frage mich: Wirst Du uns später einmal übel nehmen, dass Du nur zuhören kannst, wenn andere Musik machen?
Ist es Zufall, dass Dein Freundeskreis nur noch aus Klassenkameradinnen besteht? Oder liegt es daran, dass Ihr im selben Rhythmus lernt und lebt?
Wie viel Platz wird Dir Dein Alltag für Liebeskummer lassen? Für die Pubertät? Für den Aufstand?
Wird Dir jemals ein Lehrer erzählen, dass das Wort Schule aus dem Griechischen stammt und eigentlich "freie Zeit" bedeutet?

Abitur mit 17 Jahren, Bachelor mit 20 – wem ist damit geholfen?

Warum wird das Buch einer verkniffenen chinesisch-amerikanischen Mutter, die über das Drillen ihrer Töchter schreibt, in Deutschland ein Bestseller? Wieso beschäftigen wir uns ernsthaft mit dieser Frau, die ihren Töchtern droht, die Stofftiere zu verbrennen, wenn sie faul sind?
Woher kommt unsere Globalisierungsangst? Die Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland ist viel geringer als in Frankreich, Italien, Spanien. Unser Land ist klein, aber unsere Wirtschaft ist die viertgrößte der Welt. Wir verkaufen Autos, Windräder und Medikamente überallhin. Und sind all die Erfinder, Konzernchefs und Gewerkschaftsführer nicht dreizehn Jahre aufs Gymnasium gegangen?
In wie vielen Familien kreisen die Gespräche nur noch um Schule? Hast Du die Vokabeln drauf? Bist Du fit für die Arbeit? Schreibe eine möglichst kleine Zahl auf, indem Du jedes der folgenden römischen Zahlzeichen genau einmal verwendest: M, C, I, X, V.
Nicht dass Du mich falsch verstehst, Sophie: Die Schule ist nicht fürs Kinderglück verantwortlich. Dafür sind wir Eltern zuständig. Und Schüler müssen nun mal lernen. Aber sie müssen auch Zeit haben für eigene Entdeckungen.
Wir üben jetzt oft gemeinsam. Manchmal gibt es Krach, manchmal erleben wir innige Momente: dieses wärmende Glück, wenn wir beide wieder etwas begriffen haben, wenn die Erkenntnis durchbricht wie die Sonne nach drei Tagen Regen! Du hast gelernt, wie die Ägypter ihre Pyramiden bauten. Warum ein Londoner Vorort mit Namen Greenwich weltbekannt ist. Dass es am Horizont einen Fluchtpunkt gibt, auf den alle Linien zulaufen. Jede Schulstunde kann ein Geschenk sein. Und alles zusammen fügt sich zu einem Schatz. Kostet es zu viel Kraft, zu viel Zeit, zu viel Leben, ihn zu heben?
Euer Schuldirektor sagt: Nein. Das sei nur die übliche Sorge der Eltern, deren Kinder von der Grundschule aufs Gymnasium wechseln. Das größte Problem der Schulzeitverkürzung sei "mangelnde Akzeptanz". Also Leute wie ich!
Er sagt das aus einer privilegierten Position heraus, so wie ich diesen Brief aus einer bevorzugten Lebenslage schreibe: Dein Direktor leitet ein Vorstadtgymnasium in einer besseren Gegend. In Eurer Schulkantine servieren "Kochmütter" das Mittagessen. Es gibt aber auch Frauen, die bis abends arbeiten möchten (Du später vielleicht auch!). Alleinerziehende Eltern, die das müssen. Und Väter und Mütter, die keine Lust haben, mit ihren Kindern zu lernen, die gibt es auch.
Was wird aus diesen Schülern?
"Die Übungsphasen, die dazu da sind, Stoff zu vertiefen, sind nach Hause verlagert worden. Kinder, die niemanden haben, der ihnen bei den Hausaufgaben hilft, kommen schlecht weg", sagt Heinz-Peter Meidinger. Er ist Vorsitzender des Deutschen Philologenverbandes. Das ist ein Zusammenschluss von Lehrern, die an Gymnasien arbeiten.
Ich habe im schleswig-holsteinischen Bildungsministerium nachgefragt: Der Anteil der Schüler, die nach der sechsten Klasse die Gymnasien verlassen müssen, hat sich verdreifacht. In Bayern macht die erste G-8-Generation gerade Abitur – seit der fünften Klasse sind dort 31 Prozent aller Schüler auf der Strecke geblieben. Bei G9 waren es 22 Prozent. Diese Kinder wurden "abgeschult", so nennt man das in den Statistiken.
Es klingt fast weltfremd, wenn die Kirche gegen dieses eiskalte Wort protestiert und daran erinnert, dass "jeder Mensch mit reichen und vielseitigen Anlagen beschenkt" sei. Bildung müsse auch die "Kräfte der Fantasie, der Liebe, des seelischen Erlebens und des moralischen Wertens" wecken.
Der Pädagoge Andreas Gruschka sagt: "Es kommt nicht mehr Saft aus einer Zitrone, wenn man mehr presst." Gruschka selber ist zweimal sitzen geblieben und trotzdem Professor geworden. An der Goethe-Universität in Frankfurt am Main erforscht er, wie Lehrer unterrichten und wie Kinder lernen. Er meint: Ihr paukt zwar viel, aber Ihr habt nicht viel davon. Euch fehlt die Zeit, wirklich zu kapieren, was die Lehrer Euch erzählen. Und darüber eine eigene Meinung zu bilden. Er sagt: "Die Kinder heute lernen Organisation und Präsentation." Referate, Wochenpläne – er hält das alles für eine Vorbereitung auf ein kritikloses Büroleben, in dem der Chef in der Tür steht und sagt: "Frau Müller, stellen Sie mir bis Freitag bitte alles über die indischen Märkte zusammen!"
G8 habe "für 25 bis 30 Prozent der Gymnasiasten mehr gebracht – für die anderen wäre G9 vorteilhafter gewesen", sagt der Münchner Bildungsforscher Kurt Heller, ein Pädagoge und Psychologe. Das ist besonders interessant, weil niemand in Deutschland so gründlich zu dem Thema geforscht hat wie er: In den neunziger Jahren hat Heller in ein paar baden-württembergischen Gymnasien G8 ausprobiert – mit durchschnittlich 16 Schülern pro Klasse. Am Ende empfahl er: Es sollte G8-Schulen und G9-Schulen geben. Aber dann, sagt Heller heute, habe die Politik überall das Turbo-Abi eingeführt. Der Professor hat sehr frustriert geklungen, als er mir gesagt hat: "Ist leider so gelaufen."

Wo sind die Querköpfe und die Nervensägen? Wer hat sie aussortiert?

Philologen und Psychologen, Pädagogen und Prozente – wie schnell wird der Streit um Eure Schulzeit abstrakt und entfernt sich wieder aus der Wahrnehmung der Kinder. Und weg von tausend kleinen Lebenswirklichkeiten.
Es gibt einen Arzt in Bremen, der heißt Stefan Trapp und hat vor drei Jahren einen Brief an die Bildungssenatorin seiner Stadt geschrieben. Darin steht: "Als niedergelassener Kinder- und Jugendarzt wie auch als betroffener Vater erlebe ich die Folgen der Verkürzung des Gymnasiums auf acht Jahre täglich in Praxis und Familie." Seine Patienten zeigten Symptome, die sonst bei gestressten Managern auftreten. Kopfschmerzen und Erschöpfungszustände, auch Traurigkeit und Angst. Die Senatorin hat ihm bis heute nicht geantwortet. Aber weil Trapp in seiner Stadt ein bekannter Mann ist und den Bremer Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte leitet, hat eine Zeitung seinen Brief abgedruckt.
Trapp ist noch jung. Er trinkt Cola und isst gerne Kuchen, obwohl das nicht gesund ist. Er ist ein fröhlicher Arzt, solange er nicht von den müden Mädchen und Jungen in seinem Sprechzimmer erzählt. Er sagt: "Früher hatten Kinder Kopfschmerzen, weil sie eine Brille brauchten. Heute, weil sie beim Gedanken an die Schule mittlerweile die Gefahr des Scheiterns mitdenken." Er behandelt Schüler mit Schlafstörungen und Depressionen. Das sind Krankheiten, die früher bloß Erwachsene bekamen, die richtig Pech hatten. "Die Rolle des Gymnasiasten als Sorgenkind ist neu", sagt Trapp. Gymnasiasten sind seltener dick, essen meist gesünder und prügeln sich kaum. "Aber die Schulzeit ähnelt immer mehr einer anspruchsvollen Bürotätigkeit – kein Wunder, dass sich auch die Krankheitsbilder ähneln." Wie sollen Jugendliche mit Anforderungen fertigwerden, an denen Erwachsene scheitern? Zumal sie dauernd beobachtet und benotet werden. Alle sind unzufrieden: Schüler, Eltern und Lehrer. Alle haben Stress. Und in diesem Gezerre sind die Kinder die Schwächsten.
Warum schützen wir die Schwächsten nicht mehr? Auch nicht die Aufmüpfigen, die Sperrigen, die unser Tempo bremsen? Ich sage Dir, Sophie: weil wir Erwachsenen die wahren Streber sind! Weil wir zu feige sind, mal richtig wütend, richtig sperrig, richtig uncool zu sein.
Vor einigen Monaten hat der neue Bildungsminister in unserem Bundesland alle Gymnasien abstimmen lassen, ob sie das neunte Schuljahr zurückhaben wollen. Die Lehrer Deiner Schule haben sich entschieden, bei G8 zu bleiben. Einstimmig, sagt der Direktor. Ich kann mir vorstellen, dass viele aus Stolz auf ihre eigenen Ideen so entschieden haben. Manche aus Erschöpfung nach all den Konferenzen. Andere, weil sie finden, dass nicht nach jeder Landtagswahl alles geändert werden sollte, dass zu viele Rollen rückwärts schwindlig machen. Und einige vielleicht auch aus Respekt vor dem Direktor.
Wochenlang habe ich versucht, mit der Schulpsychologin unseres Landkreises zu reden. Aber sie hat mir in kurzen Mails geantwortet, für ein ausführliches Gespräch habe sie keine Zeit – und für ein kurzes Telefonat sei das Thema zu wichtig. Auch das meine ich mit Feigheit, Sophie.
In Bremen fragt der Kinderarzt Stefan Trapp die Schüler in seiner Praxis: Warum kommst du zu mir? Was machst du in deiner Freizeit? Was tust du gern? Was würdest du gern tun? Wann fühlst du dich wohl? Wenn die Antwort lautet: Ich war das letzte Mal in den Ferien froh, dann ist das ein Problem. Auch für ihn. Ein Arzt will heilen, nicht nur herumdoktern. Mit Scharlach oder Läusen ist Trapp immer fertiggeworden, aber wie kann er einem mutlosen Kind helfen? "Wenn jemand krank wird durch die Schule, ist eine Therapie, eine ursächliche Therapie, nicht möglich", sagt Trapp. Das bedeutet: Wer sich einen Arm gebrochen hat, bekommt einen Gips und braucht Geduld. Wer eine Pferdeallergie hat, kann mit dem Reiten aufhören. Aber wen das Lernen krank macht, der kann nicht die Schule abschaffen.
Unsere Gesellschaft ist dringend auf jedes einzelne Kind angewiesen – aber es wird so getan, als ginge es immer nur um die Stärksten und Schlausten. Als könnten wir auf alle anderen Kinder verzichten.
Weißt Du, was passiert ist, als eine Mutter eine Lehrerin Eurer Schule gefragt hat, ob sie nicht zu schnell zu viel von Euch verlangt? Da hat die – eine junge Frau – kühl geantwortet: "Sicher ist dieses Lernen nicht für alle geeignet." Und Klassenarbeiten seien dazu da, "zu überprüfen, ob die Kinder auf dem Gymnasium Schritt halten können".
Weißt Du, was das bedeutet, Sophie?
Ich werde es Dir erklären: Es bedeutet, Klassenarbeiten sollen nicht nur helfen, herauszufinden, welcher Schüler wo Schwächen hat – um dafür zu sorgen, dass es beim nächsten Mal besser klappt. Nein: Sie sollen auch helfen, die Schwächsten zu finden und auszusortieren. Deine Lehrerin hat nicht gesagt, es gehe ihr darum, alles zu tun, "damit" Kinder Schritt halten können. Sondern zu prüfen, "ob".
Meine Lehrer hätten so etwas nie gesagt, selbst wenn sie heimlich so dachten. Du wirst das verrückt finden, Sophie: Als vor 25 Jahren in der Ukraine ein Atomkraftwerk explodierte, schickten meine Lehrer uns zum Demonstrieren! Als vor 20 Jahren in Kuwait ein Krieg losbrach, ließ mein Mathelehrer uns aus Protest nicht mit Äpfeln und Birnen rechnen, sondern in der Recheneinheit "Leichensäcke". Das hört sich ziemlich grotesk an, was? Einige meiner Lehrer sprachen im Unterricht voller Pathos, wie ein Pastor in der Sonntagspredigt. Aber es ging ihnen darum, uns mitzureißen. Uns zu gewinnen. Wenn auch nur für ihre eigenen Träume von einer besseren Welt.
Und jetzt? Spricht diese Lehrerin wie die Jurypräsidentin einer gigantischen Castingshow – in der nicht Werbeverträge vergeben werden, sondern Lebenschancen. Und zwar nur an die Passgenauen.
Das macht mich wütend. Sie hat G8 zwar nicht erfunden – aber sie hat sich damit abgefunden. Mindestens das. Andererseits gibt sie nur den Druck weiter, den andere aufgebaut haben. Und zu diesen anderen gehöre – ich. Die Versuchung, mit Dir auf die Jagd nach immer besseren Noten zu gehen, ist so groß. Wie schnell passiert es, dass ich eine gute Klassenarbeit nach den wenigen Fehlern ausspähe, nicht nach den korrekt gelösten Aufgaben. Es gibt Eltern in unserer Stadt, die ihren Kindern das Taschengeld kürzen, wenn die keine Eins heimbringen. Die mit all den fleißigen Chinesenkindern drohen, von denen wir noch gar nicht wissen, ob die ganze Paukerei sie wirklich schlau macht oder bieder.
Wenn Du Geburtstag feierst und Deine Klassenkameradinnen kommen, freue ich mich über all die wohlerzogenen Kinder, die den ganzen Tag keine Mühe machen – aber ich wundere mich auch. Wo sind die Querköpfe, die Nervensägen, die Rotznasen? Wer hat sie aussortiert?

Du bist mehr als die Summe deiner Leistungen

Vor fünf Jahren hat ein Kollege in dieser Zeitung geschrieben, er finde die verkürzte Schulzeit gut, denn es sei noch "Luft im System". Schon möglich. Aber ist Luft schlecht? Ist sie nicht zum Atmen da? Und lernt, wer atmen darf, nicht sogar mehr? Oder jedenfalls lieber?
Das Gerede von der "Luft im System" ist gefährlich, Sophie. Man kann so lange sagen, es sei "Luft im System", bis keine mehr da ist.
Wir haben Euer Leben den Regeln der Wirtschaft unterworfen: In einem Motor kann Luft schaden, in einem Windkanal ist Druck sinnvoll. Aber wer hat uns eingeredet, dass ein beschleunigtes Leben ein gelingendes Leben ist? Wenn ich sehe, wie Manager auf Flughäfen und in ICE-Abteilen ihre iPhones und BlackBerrys anstarren, auf eingehende Mails so angewiesen wie Junkies auf Rauschgift, und wenn ich höre, wie sie endlos von "Quartalszahlen", "Jahresabschlüssen" und der Marktforschung faseln, die sie nur noch "Mafo" nennen, wie sie von Hamburg nach München fahren, ohne dabei auch nur einen einzigen eigenen Gedanken zu äußern – dann glaube ich, wir sollten uns kein Beispiel an ihnen nehmen.
Es wäre schön, wenn Ihr später nicht nur Zahlen lesen könntet. Sondern auch die Menschen hinter den Zahlen erkennen würdet. Wenn Bildung hieße: mit Wissen vernünftig umgehen. Der Schriftsteller Erich Kästner, von dem Du Das doppelte Lottchen kennst, hat das viel schöner gesagt: "Der Mensch soll lernen, nur die Ochsen büffeln."
Wir haben Eure Lebensläufe begradigt wie die Flüsse. Wo wir noch mäandern konnten, uns treiben ließen, rauscht Ihr geradeaus durch. Es wäre schade, wenn dabei alles an Euch glatt geschliffen würde, wenn von Eurer Persönlichkeit nicht mehr viel übrig bliebe. Das hört sich sehr hässlich an, Sophie, aber: Ich habe nicht nur Mitleid mit Euch als Kindern. Ich habe auch ein bisschen Angst vor Euch als Erwachsenen.
Wenn Du Abitur machst, wirst Du 17 sein. Mit 17 lassen wir Euch nicht alleine Auto fahren und keine Mietverträge unterschreiben. Wenn Du Pech hast, musst Du Dich für ein Leben als Lehrerin, als Mathematikerin, als Managerin entscheiden, bevor Du überhaupt weißt, was Du kannst, was Du willst, wer Du bist. Falls Du dann ein eiliges Bachelorstudium durchhastest, wirst Du mit 20 die Universität verlassen. Worauf haben wir uns da nur eingelassen? Wollen wir, dass unsere Enkel von 21-jährigen Lehrern unterrichtet werden, die kaum mehr von der Welt gesehen haben als Legehennen? Wollen wir uns von 22-jährigen Bankern mit Geradeausbiografien betreuen lassen? Uns von 23-jährigen Unternehmensberatern begutachten lassen?
Wenn Dich Deine Lehrer, unsere Nachbarn oder die Eltern Deiner Freundinnen jetzt fragen, warum Dein Vater so aufgebracht ist, dann musst Du wissen: Es liegt nicht an Dir. Wer glaubt, ich schreibe hier gegen schlechte Noten an, der hat nichts begriffen. Deine Zensuren sind gut. Ich bin zornig, weil wir Eure Kinderzimmer zu Büros gemacht haben, Eure Schreibtische zu Werkbänken, Eure Köpfe zu Lagerhallen.
Wenn sie Dir sagen, es ist doch nur das eine Jahr, dann antworte ihnen, es geht um Millionen beschleunigter Leben. Und wenn sie Dich fragen: "Acht oder neun Jahre, ist das nicht einerlei?", dann sag ihnen: Was wäre los, wenn die Lokführer plötzlich 15 Prozent mehr arbeiten müssten? Dieses Land stünde still, über Wochen. Die Tagesschau würde Abend für Abend mit Streikmeldungen beginnen. Es gäbe Demonstrationen, auf denen wütende Männer rote Fahnen schwenken. Es gäbe aufgeregte Talkrunden im Fernsehen, in denen die Erwachsenen "Ausbeutung" und "Raubtierkapitalismus" brüllten.
Natürlich frage ich mich: Ist eine Sache nicht nur dann schlimm, wenn Du, Sophie, sie selber schlimm findest? Habe ich Dich mit diesem Brief zum Faulenzen aufgefordert, Dir Ausreden und Ausflüchte in den Mund gelegt? Habe ich Dich verwirrt? Dir überflüssige Sorgen gemacht? Ich hoffe fast, dass Du diesen Brief inzwischen zur Seite geschoben hast und irgendwo Waveboard fährst, weil Du das Geschreibsel hier dröge findest und sowieso Quatsch ist, was von den Eltern so kommt.
Aber Du sollst ruhig wissen, warum wir auf dem Weg ins Kino 17², 56 und 28 gelernt haben.
Du sollst wissen, warum ich Dich manchmal dressiere wie ein Dompteur sein Zirkuspferd – und mir dann wieder auf die Lippen beiße, statt nach der Schule zu fragen.
Du sollst wissen, dass Du mehr bist als die Summe deiner Leistungen.
Du sollst wissen, warum es manche Deiner Freundinnen nicht schaffen werden, warum ihre Stühle irgendwann leer bleiben werden.
Du sollst wissen, dass Depression keine Kinderkrankheit ist.
Du sollst wissen, dass die Schulzeit mehr sein sollte als ein Trainingslager fürs Berufsleben.
Du sollst wissen, dass die Gesellschaft an denen wächst, die sie infrage stellen.
Und Du sollst wissen, dass ich Dir das gestohlene Jahr zurückgeben möchte. An jedem Tag, an jedem Wochenende – und nach dem Abitur. Am besten kein Auslandsstudium. Kein Sommerseminar. Sondern einfach eine Reise ohne Weg und ohne Ziel. Denn wenn Du Deine Seele bis dahin nicht in einem Klassenzimmer gefunden hast, wirst Du sie auch in einem Hörsaal nicht finden. Aber vielleicht tief in einem finnischen Wald, mitten in einem äthiopischen Dorf oder auf der Sitzbank eines amerikanischen Überlandbusses. Irgendwo, irgendwann, wenn Du es nicht erwartest.
Und ich hoffe, dass Du mich dann, wenn es losgehen soll, nicht mitleidig anschaust und sagst: "Das ist doch reine Zeitverschwendung."
Dein Papa
* Name von der Redaktion geändert


Vera F. Birkenbihl: "Trotz Schule lernen", Ariston
Sabine Czerny: "Was wir unseren Kindern in der Schule antun", Südwest Verlag
Kurt A. Heller (Hrsg.): "Begabtenförderung im Gymnasium", Leske & Budrich
Remo H Largo / Martin Beglinger: "Schülerjahre: Wie Kinder besser lernen", Piper
Birgitta vom Lehn: "Generation G8", Beltz
Julia Strelow: "Ratgeber Nachhilfe", Books von Demand