Sonntag, 20. März 2011

Das Sieben-Milliarden-Problem

NZZ Folio 03/11

Wie viele Menschen kann die Erde verkraften? Wie lange kann Wachstum noch unser Ziel sein? ­Werden wir eher ums Öl Kriege führen oder ums Wasser?

Von Wolf Schneider

Noch in diesem Jahr wird die Erde sieben Milliarden Menschen tragen – eine Mil­liarde mehr als vor nur zwölf Jahren und fast viermal so viel als zu der Zeit, als die Greise von heute zur Schule gingen. Kann unser Planet ein solches Gedränge ertragen? Er könnte es, wenn die reichen Völker ihre Ansprüche drastisch senkten und die armen nicht versuchten, zu ihnen aufzuschliessen. Aber ebendies wollen sie natürlich.

Schon weniger Kinder pro Frau

Die Bevölkerungsexplosion begann mit dem Sieg über die Säuglingssterblichkeit. Leopold Mozart musste es noch als normal empfinden, dass fünf seiner sieben Kinder starben. Dann rang das Abendland die Seuchen nieder – und binnen zweier, dreier Generationen gewöhnten sich die Eltern an, nur noch zwei oder drei Kinder in die Welt zu setzen.

In Asien ist Ähnliches im Gange. Zudem hält China an seiner Ein-Kind-Politik fest; sie hat der Welt nach chinesischer Schätzung 400 Millionen weitere Chinesen erspart.

Im schwarzen Afrika dagegen sind fünf Kinder pro Frau noch die Regel. Da nun die meisten überleben, hat sich die Bevölkerung des Kontinents in den letzten hundert Jahren verachtfacht – auf eine Milliarde.

Doch die Menschen werden mehr

Auch wenn im Weltmassstab die Zahl der Kinder pro Frau schon sinkt: die Welt­bevölkerung wird noch weiter wachsen. Denn die Geburtenfreudigkeit der letzten Jahrzehnte hat 1,8 Milliarden Frauen, viel mehr als je zuvor, ins gebärfähige Alter gebracht. Etwa 9 Milliarden Menschen um das Jahr 2050, schätzt die Uno – dann hoffentlich nicht noch mehr.

Davor aber steht ein neues Problem: Die Milliarden der während des Babybooms Geborenen werden alt, erreichen überdies ein höheres Alter als ihre Eltern – und müssen von einer sinkenden Zahl von Arbeitsfähigen versorgt werden. In China spricht man vom «2:5-Problem»: Jedes Ehepaar hat für sein Kind und seine vier Eltern aufzukommen.

Nur bescheidener werden sie nicht

2010 produzierte ein Deutscher, in Geldwert umgerechnet, dreissigmal so viel wie ein Inder. Mit Riesenschritten holt Indien auf, mit entsprechendem Mehrverschleiss an Rohstoffen und steigender Mehrpro­duktion an Dreck und Gift. Selbstverständlich aber beten die Reichen weiter ihren Fetisch «Wachstum» an. Niemand mutet ­ihnen zu, dass sie für jedes Auto, das in ­Indien neu zugelassen wird, eines von ihren verschrotten müssten – wenn die Über­lastung der Atmosphäre nicht noch verschlimmert werden soll.

Ein Auto auf zwei Menschen, das ist in den reichen Ländern üblich; und da sie gleichzeitig die Umwelt schonen wollen, haben sie sich den ökologischen Wahnsinn des Biosprits ausgedacht: Energie aus Weizen, Mais, Palmöl und Zuckerrohr! Aus den 250 Kilo Weizen, die einen Menschen ein Jahr lang sättigen könnten, werden 100 Liter Biosprit – etwas mehr als eine Tankfüllung für unsere dringend benötigten Geländewagen. Eine Milliarde Menschen leiden Hunger – in Brasilien werden Wälder abgeholzt für Zuckerrohr.

Der Endkampf um Wasser und Öl

Dabei verfeuert die Menschheit weiter Tag für Tag 25 Millionen Tonnen Kohle und Öl, und die letzten grossen Ölvorräte liegen in der heissesten Krisenregion der Erde. Experten streiten sich, ob ein Krieg ums Öl früher oder später ausbrechen wird als die befürchteten Kriege ums Wasser: Fast eine Milliarde Menschen haben nicht genug und eine weitere Milliarde nur schmutziges zur Verfügung.

Was wir zu viel haben, ist Müll – am schlimmsten in der fast unzerstörbaren Form von Plastic; 60 Millionen Flaschen täglich verbrauchen allein die USA. Zwischen Hawaii und Kalifornien treibt die «grosse pazifische Müllsuppe»: Plasticabfälle, 1500 Kilometer im Durchmesser und bis zu 10 Meter dick.

Adieu, Abendland!

In der Verschwendung sind sie führend – in der Weltbevölkerung geht der Anteil der Abendländer mit Riesenschritten zurück. 1890 hatte Asien dreimal so viele Einwohner wie Europa westlich von Russland – heute das Siebenfache. In ­Afrika wohnten damals halb so viele Menschen wie hier – heute fast doppelt so viele. 90 Millionen in Äthiopien, 150 Millionen in Nigeria!

Als Vermächtnis des Abendlands bleibt der Menschheit die Gesinnung: «Macht euch die Erde untertan!» Ihr seid die Herren – die Erde hat sich zu fügen! Doch sie fügt sich nicht. Irgendwann muss die Unendlichkeit unserer Ansprüche an der Endlichkeit der Erde zerschellen. Hoffen wir, dass die Menschheit daraus Konsequenzen zieht – vor 2050.

Wolf Schneider ist Schriftsteller; er lebt in Starnberg (D).

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen