Tages Anzeiger, 31.März 2011
Von Martin Ebel
Ein Land so gross wie Westeuropa, verheert vom Krieg: Andrea Böhms meisterhafte Reportage berichtet von katastrophalen Zuständen, aber auch von tatkräftigen, mutigen Menschen.
Einen Pulitzer-Preis für Reportagen gibt es im deutschsprachigen Raum nicht. Sonst wäre Andrea Böhms Buch ein heisser Kandidat dafür. Die Journalistin, Mitglied des politischen Ressorts der «Zeit», hat etwas getan, was in der aktualitätsversessenen Hektik des Berufsalltags kaum noch möglich scheint: Sie ist drangeblieben. An einem unbequemen Thema. Über Jahre, mit Ausdauer und Aufwand, konsequent und empathisch.
Auf eigene Faust erforscht
Von 2002 bis 2010 ist sie immer wieder in den Kongo gereist, in eines der kaputtesten Länder der Welt. 1900 mal 2100 Kilometer in der Fläche, bettelarm – auf dem Human-Development-Index der UNO steht es auf dem vorletzten Platz. Und war in den letzten 15 Jahren Schauplatz zweier verheerender Kriege mit fünf Millionen Toten und einer viel grösseren Zahl an Verstümmelten, Vergewaltigten, Traumatisierten. Dabei ist das Land reich an Bodenschätzen: Gold und Diamanten, Kupfer, Kobalt und Seltene Erden. Aber die haben erst die belgischen Kolonialherren ausgebeutet, dann die einheimischen Ausbeuter: die Regimes von Mobutu und von Kabila (dem Älteren). Sie steckten die Profite in die eigene Tasche oder bezahlten damit die ausländischen Truppen, die ihre brüchige Herrschaft gegen Aufständische oder andere Ausländer verteidigen sollten. Der ganze Osten ist immer noch unsicheres Gebiet; Rebellen, Banden, aber auch reguläre Armeeeinheiten (der Übergang ist fliessend) überfallen, wenn der Sold ausbleibt, einfach ein Dorf.
Der Kongo: ein Horror, der das normale europäische Verständnis und Einfühlungsvermögen weit übersteigt. Andrea Böhm hat sich ihm immer wieder ausgesetzt. Nicht im Schlepptau und Schutz internationaler Organisationen, sondern auf eigene Faust, mit Fahrern, Lotsen und Vermittlern – hier ein Pfarrer, dort eine Krankenschwester, hier ein Menschenrechtsaktivist. Sie ist nach Mbuji-Mayi gefahren, eine Millionenstadt in der Provinz Kasai, wo Halbwüchsige mit blossen Händen nach Diamanten graben; nach Butembo im Osten, wo sie einen mysteriösen «Kindergeneral» gesucht und gefunden hat; nach Bukavu in ein Spital, in dem vergewaltigte Frauen behandelt werden; nach Kamituga in der Provinz Süd-Kivu, wo sie einen Kandidaten fürs Nationalparlament auf dem Wahlkampf begleitete.
500 Stimmen gegen ein Dach
Dieser Jean-Claude Kibala ist eine der vielen farbigen Figuren, denen wir bei der Lektüre begegnen. Ein schwarzer Ingenieur, der sich im Exil, im deutschen Troisdorf, eine Existenz aufgebaut hatte, plötzlich aber von Heimweh und Wahlkampffieber ergriffen wurde und nun von Dorf zu Dorf fährt, im Gepäck T-Shirts aus China, Schultafeln und Fussball-Trikots. «Die Leute jubelten und hielten die Hand auf. Das Übliche», kommentiert Andrea Böhm. Nicht ungewöhnlich auch, dass der Kandidat 15 junge Mütter freikauft, die im Krankenhaus festgehalten werden, weil sie ihre Geburtskosten nicht bezahlen können. Oder dass ein Methodistenpfarrer 500 Stimmen anbietet – gegen ein neues Wellblechdach für seine Kirche.
Kibala verliert zwar die Wahl, wird aber Vizegouverneur der ganzen Provinz. Sein Jahresbudget: 10 Millionen Dollar, so viel, wie die Kleinstadt Troisdorf für die Sanierung ihrer Sportanlagen ausgegeben hat. Kibalas täglicher Kampf um ein Stück mehr Recht, Ordnung, Legalität, Sicherheit, gegen die schreiende Armut, die Korruption; die kleinen Fortschritte und die ständigen Rückschläge, «dieser ganze alltägliche Kreislauf des Irrsinns»: Das ist, wenn Böhm es beschreibt, zum Lachen und zum Weinen zugleich. Denn der Autorin ist es nicht darum zu tun, ein Schreckenskabinett möglichst spektakulär auszustatten und dem Lustschauder des westlichen Lesers feilzubieten. Sie verschweigt nichts – aber sie konzentriert sich auf Menschen, die in all dem Elend mehr wollen als «se débrouiller», sich durchwursteln: die etwas bewegen wollen. Wie Honorine Munyole, eine Polizeimajorin, «klein, gedrungen, markantes Kinn, breites Kreuz, kräftige Stimme, dazu ein hennagefärbter Lockenkopf», die in Bukavu Vergewaltigungsopfer betreut – in einer Polizeistation, der es an allem fehlt, an Streifenwagen, Computern, Funkgeräten, Aktenordnern, sogar an Papier.Oder Félicien Mbikayi, der die wilden «Creuseurs» in der grössten Diamantenmine der Provinz Kasai zu überzeugen versucht, sich von ihren blutsaugerischen «Sponsors» zu lösen und zu Genossenschaften zusammenzuschliessen. Andrea Böhm begleitet ihn in die Mondlandschaft des «Polygon», wo sich konzessionierte und wilde Schürfer Schusswechsel liefern, und in die «freie» Zone daneben: «Hier wurde nicht geschossen, hier starb man leise.» In 30 Meter tiefen Löchern, wenn die Wände einstürzten oder die Sauerstoffzufuhr unterbrochen wurde. Munyole oder Mbikayi versuchen das Unmögliche – weil die Alternative, die Hoffnungslosigkeit, für sie keine ist. Man liest das mit Staunen, wachsendem Respekt und etwas Beschämung.
Ein Überangebot an Hilfe
Andrea Böhm ist mutig, aufmerksam und professionell. Sie ist aber auch hochreflektiert, was die Gefahren des eigenen Berufsstandes angeht. Immer ist sie bemüht, den Versuchungen des Voyeurismus nicht nachzugeben. Als die Massenvergewaltigungen im Ost-Kongo in die Schlagzeilen gerieten – endlich hatten die Journalisten in dieser Region ein Thema gefunden, das das westliche Publikum interessierte –, wurde das Panzi-Spital in Bukavu zu einer «Pilgerstätte der Empathie». Auch Promis gaben sich dort die Ehre. In Bukavu, lesen wir, gibt es heute ein Überangebot an Hilfe für Vergewaltigungsopfer. Aber, wie ein Gesprächspartner trocken bemerkt, viele nicht vergewaltigte Kongolesen, die auf andere Weise traumatisiert sind.
Dieses Land wächst jedem Beobachter über den Kopf. Andrea Böhm aber hat ihren Stoff – das, was sie sagen und zeigen will – souverän im Griff. Dazu gehört auch die ganze schauerliche neuere Geschichte des riesigen Landes, das der belgische König Leopold II. über zwanzig Jahre wie eine Privatkolonie betrieb, was ein Viertel der Bevölkerung das Leben kostete: vermutlich das grausamste Kolonialregime, das es je gab. Andrea Böhm erinnert an den schwarzen Missionar William Henry Sheppard, der die Gräueltaten dokumentierte und für einen internationalen Aufschrei sorgte.
Auch die Schweiz verdiente mit
Sie erinnert an Patrick Lumumba, den ersten frei gewählten Regierungschef des unabhängigen Kongo, der 1961, mit Billigung Belgiens und der USA, von eigenen Landsleuten gefoltert und ermordet wurde. Sie lobt den ersten UNO-Einsatz von 1960 bis 1964, der das Land vorläufig befriedete und ein Auseinanderfallen verhinderte, und begleitet auch mit Sympathie einen Trupp pakistanischer Blauhelme, die heute im Ostkongo auf verlorenem Posten stehen. Sie vergisst aber auch nicht, dass die beiden Kongo-Kriege (1996/97 und 1998–2003) eine direkte Folge des Völkermordes in Ruanda waren, an der die internationale Gemeinschaft Mitschuld trägt.
Auch darum geht es der Autorin: Der Kongo ist nicht ein schwarzes Loch, das uns nichts angeht. Er war schon immer im Fadenkreuz der Weltpolitik. Die Atombombe, die Hiroshima traf, wurde mit Uran aus dem Kongo angereichert. Mobutu wollte in den 70er-Jahren mit einer deutschen Firma ein eigenes Raketenprogramm aufziehen. Die gigantischen Profite der Rohstoffausbeutung wurden über Schweizer Konten verschoben. Und so weiter: Andrea Böhms grossartige Reportage führt in eine fremde, erschreckende Welt – in der auch wir unsere Finger drinhaben.
Donnerstag, 31. März 2011
Mittwoch, 30. März 2011
Ein junges TV-Starlet kontert Pakistans Fundamentalisten
30. März 2011, Neue Zürcher Zeitung
Der Bewegungsspielraum der Frauen in Pakistan ist mit der zunehmenden Islamisierung in den letzten Jahren geschrumpft. Einige wenige wagen es, dagegen aufzumucken. Islamische Frauenorganisationen predigen derweil Tugendhaftigkeit.
Andrea Spalinger, Lahore
Veena Malik passt so gar nicht ins Bild, das man sich von einer Vorkämpferin für die Rechte der Frauen macht. Das pakistanische Model und TV-Starlet mit seinem superengen Mini-Kleid, den hochhackigen Pumps und dem viel zu dick aufgetragenen Make-up würde von Feministinnen im Westen wohl mit verächtlichen Blicken taxiert. In Pakistan ist die 26-Jährige zu einem Vorbild im Kampf gegen die konservativen Mullahs geworden, und das will etwas heissen. Seit der Ermordung zweier liberaler Politiker wagt sich hier kaum mehr jemand, gegen die schleichende Islamisierung aufzumucken.
Morddrohungen und Fatwas
Die Tochter eines pensionierten Militärs aus Rawalpindi hatte Ende 2010 mit ihrer Teilnahme an der Show «Big Boss» (einer indischen Version von «Big Brother») in der Heimat für grossen Wirbel gesorgt. Allein die Tatsache, dass sie an dem Fernsehspektakel im verfeindeten Nachbarland teilnahm, brachte islamistische Kreise gegen sie auf. Zu allem Übel freundete sie sich im «Big Boss»-Haus auch noch mit einem indischen Schauspieler an und liess sich gemeinsam mit diesem unter einer Decke am Lagerfeuer sitzend filmen. Die religiösen Eiferer waren empört. Wegen ihres «unangebrachten», «Pakistan beschämenden» Verhaltens bekam Veena Malik Todesdrohungen, Mullahs erliessen Fatwas gegen sie, und es wurden Gerichtsklagen wegen unziemlichen Verhaltens eingereicht.
Als wir mittags um 12 Uhr wie verabredet zum Interviewtermin erscheinen, ist Veena laut ihrem Manager noch im Bett. Eineinhalb Stunden später erscheint sie, in eine dicke Parfumwolke gehüllt und von ihrer Stylistin perfekt frisiert und geschminkt. Als sie realisiert, dass wir nicht vom Fernsehen sind und sie nicht filmen werden, ist sie sichtlich enttäuscht. Die attraktive junge Frau dürfte nicht wegen ihres Intellekts bei den indischen Reality-Show-Zuschauern so populär gewesen sein. Doch kann man von ihr denken, was man will, an Zivilcourage mangelt es Veena Malik nicht.
Nicht nur religiöse Hardliner, sondern auch die Medien hatten nach ihrem Auftritt in «Big Boss» gegen sie gehetzt. Ihre verängstigten Eltern hätten ihr geraten, gar nicht mehr in die Heimat zurückzukehren, doch sie habe nicht klein beigeben wollen, sagt sie. Sie stellte sich einem der feuerspeienden Mullahs in einer Talkshow und ging als klare Siegerin vom Platz. Auf Vorwürfe des Religionsgelehrten, dass sie mit ihrem schamlosen Verhalten die Ehre des Landes besudelt habe, antwortete die junge Frau scharf: «Nicht ich schade dem Image Pakistans und des Islams, sondern Extremisten wie Sie!»
Machismo und Doppelmoral
Über Nacht wurde Veena von einer sozial Geächteten zum Superstar. Nach der Talkshow überhäuften sie pakistanische und ausländische Fernsehsender mit lukrativen Angeboten. Derzeit moderiert sie für einen indischen Sportkanal die Kricket-Weltmeisterschaft. Die neu erworbene Popularität hat freilich ihren Preis. Für die Hardliner ist die junge Frau noch mehr zu einer Hassfigur geworden. Vor kurzem hat sie gar einen Schmähbrief von den Taliban erhalten, in dem ihr und ihrer Familie mit dem Tod gedroht wird.
Das einstige Partygirl Veena lebt heute zurückgezogen in ihrer luxuriösen Villa in Lahore – nicht nur aus Sicherheitsgründen, sondern auch aus Enttäuschung darüber, dass ihre einstigen Freunde in der Not nicht zu ihr gehalten haben. Ihr Traum ist es, eine eigene Fernsehshow zu moderieren, in der sie die Doppelmoral in ihrem Land aufs Korn nehmen kann. Die pakistanische Gesellschaft sei völlig verlogen, schimpft sie. Vor allem die Männer. Die meisten von ihnen würden im Geheimen Alkohol trinken, Partys feiern und sich Geliebte halten, doch nach aussen hin täten sie strenggläubig und verurteilten andere, die dasselbe täten.
Indische Reality-Shows seien in Pakistan populär, und während sie bei «Big Boss» zu sehen gewesen sei, seien die Einschaltquoten regelrecht in die Höhe geschossen, erklärt Veena Malik. Doch danach hätten sie alle scheinheilig verurteilt. «Wäre ich ein Mann gewesen, hätten die Islamisten kaum so viel Wind gemacht», fügt sie hinzu. «Männer können in diesem Land tun und lassen, was sie wollen, ohne Rücksicht auf ihre Frauen. Wenn diese hingegen etwas tun, was den Zorn ihrer Ehemänner weckt, werden sie geschlagen, mit Säure beworfen oder gar der Ehre halber umgebracht.»
Veena Malik mit ihrer schillernden Karriere ist eine absolute Ausnahmeerscheinung. Mit ihrer Kritik an der machistischen Haltung der religiösen Eiferer spricht sie jedoch vielen pakistanischen Frauen aus dem Herzen. Fast alle Gesprächspartnerinnen beklagen, dass ihr Bewegungsspielraum in den letzten Jahren geschrumpft sei. «Kaum eine Frau wagt sich noch ohne Kopftuch auf die Strasse, und immer mehr verschleiern ihr Gesicht oder tragen sogar eine Burka», sagt Saima Jasam, die für eine politische Stiftung in Lahore arbeitet. Die 46-Jährige ist seit vielen Jahren verwitwet und als alleinstehende Frau gewohnt, für sich selber zu sorgen. Doch im letzten Jahrzehnt sei dies schwieriger geworden. Es gelte heute als unmoralisch, wenn Frauen arbeiteten oder sich abends allein auf der Strasse bewegten. Früher sei sie nachts immer selber Auto gefahren, doch heute wage sie sich nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr allein auf die Strasse, sagt Saima.
Auch Munawar hat erfahren, dass der Raum enger wird, hat darauf jedoch ganz anders reagiert. Sie konzentriert sich heute darauf, eine «tugendhafte muslimische Frau» zu sein. «Eines Tages hielt ich in meinem Auto an einer Strassenkreuzung und wurde von einer Gruppe von Männern angestarrt», erzählt die 57-Jährige. «In dem Moment wurde mir bewusst, dass es nicht reicht, ein Kopftuch zu tragen, und ich mein Gesicht ganz verschleiern muss.» Munawar trägt seither einen Niqab, wenn sie das Haus verlässt, und fühlt sich nach eigenen Angaben viel freier als früher. «Im Koran steht, das wir uns bedecken sollen. Es geht dabei nicht um die Unterdrückung der Frau, sondern um unsere Sicherheit», sagt sie. «Wir sind etwas Wertvolles und müssen uns vor den Blicken fremder Männer schützen.»
Lehren, tugendhaft zu sein
Munawar ist ausgebildete Ärztin und hat mit ihrem Mann und ihren vier Kindern viele Jahre in den USA gelebt. Heute opfert sie ihre ganze Zeit und Energie der freiwilligen Arbeit für al-Huda. Diese vom Wahhabismus inspirierte islamische Frauenorganisation wurde 1994 von der charismatischen Islamwissenschafterin Farhat Hashmi gegründet. Über 10 000 Frauen sollen in Pakistan und anderen Zentren weltweit bereits durch ihre fundamentalistische Schule gegangen sein. Farhat Hashmi lebt und unterrichtet heute vor allem in Kanada, doch ihre Organisation hat in den letzten Jahren in Pakistan enorm an Zulauf gewonnen.
In Islamabad wurde gerade ein neues al-Huda-Zentrum gegenüber der Islamischen Universität eröffnet. Der riesige Betonbau beherbergt nicht nur unzählige Unterrichtsräume, einen grossen Gebetsraum, eine Kantine und eine Bibliothek, sondern auch einen Kindergarten und eine Schule für die Sprösslinge. Fast alle leitenden Angestellten und Lehrerinnen arbeiten auf freiwilliger Basis. Die meisten von ihnen stammen wie Munawar aus der Oberschicht. Einige waren Ärztinnen, Lehrerinnen und Bankerinnen, bevor sie die Religion zu ihrer Berufung machten. Fast alle haben erfolgreiche Männer und gut ausgebildete Söhne und Töchter.
Al-Huda bietet alle möglichen Kurse und Seminare an, bei denen es in erster Linie darum geht, den Koran in der Interpretation von Farhat Hashmi lesen und verstehen zu lernen. Das oberste Ziel sei, den Frauen beizubringen, eine tugendhafte Gattin zu sein, erklärt Yasmin, die im Führungsgremium des Zentrums sitzt. Kleidervorschriften gebe es hier keine, betonen Yasmin und ihre Kolleginnen freundlich lächelnd, obwohl Lehrerinnen und Schülerinnen alle Uniform-ähnliche Niqabs tragen.
«Al-Huda ist eine sehr elitäre Organisation», erklärt Saima, die selber einmal ein Seminar besucht hat, um die Anziehungskraft der Organisationen zu verstehen. Durch ihre Religiosität hätten die Frauen an Einfluss und Status in der Familie und der Gesellschaft gewonnen und fühlten sich dadurch wichtig. Farhat Hashmis Ziel sei es, möglichst viele Frauen aus der Ober- und Mittelschicht zu «bekehren». Sie tue dies auf geschickte Art und Weise, indem sie den Frauen erst Geborgenheit und Hilfe anbiete und sie dann im eigenen Interesse manipuliere.
Wie viele konservative Madrassen in Pakistan wird auch al-Huda mit Geldern aus Saudiarabien finanziert und propagiert in dessen Auftrag den Wahhabismus. Damit trägt die konservative Frauenorganisation zur Verdrängung der sehr viel toleranteren und spirituelleren südasiatischen Form des Islams bei. Indirekt sei al-Huda zudem auch verantwortlich dafür, dass der rechtliche und soziale Spielraum der Frauen geschrumpft sei, kritisiert der Journalist Khaled Ahmed.
Unter dem Militärdiktator Zia ul-Haq haben Pakistans Islamisten in den achtziger Jahren ihren Einfluss auf die Politik und die Gesellschaft stark ausbauen können. Seither hat sich die Islamisierung schleichend fortgesetzt. Der Universitätsprofessor und politische Kommentator Pervez Hoodbhoy spricht von einer drastischen sozialen und kulturellen Transformation. In den letzten drei Jahrzehnten habe sich der Wahhabismus auf Kosten des sanften südasiatischen Islams mit seinen Sufi-Heiligen ausgebreitet, und Pakistan sei ideologisch zunehmend vom indischen Subkontinent weggedriftet in Richtung Arabische Halbinsel.
Der Islam sei eine Botschaft des Friedens und der Toleranz, erklärt Yasmin mit sanfter Stimme. Dass al-Huda eine sehr konservative Form des muslimischen Glaubens vertritt, will sie im Gespräch nicht zugeben. Ebenso nicht, dass die Organisation durch saudische Gelder finanziert wird. Beobachter in Lahore weisen jedoch darauf hin, dass al-Huda eine fragwürdige Rolle spiele. Die Organisation stehe der islamistischen Partei Jamaat-e Islami nahe und teile deren Ideologie, sagt Khaled Ahmed, Kommentator der Wochenzeitung «Friday Times». Hinter der freundlichen Fassade werde Gewalt gutgeheissen und Usama bin Ladin als Held verehrt. Unabhängig davon, ob al-Huda Gewalt islamistischer Extremisten tatsächlich gutheisse oder nicht – indem sie deren exklusive und radikale Interpretation des Islams propagiere, trage sie zur Radikalisierung des gesellschaftlichen und kulturellen Umfelds bei.
Die weltweite Dämonisierung des Islams nach den Anschlägen des 11. September 2001 habe zum Aufblühen von Organisationen wie al-Huda beigetragen, erklärt die Frauenrechtlerin Neelam Hussain. Pakistanerinnen aus der Oberschicht, die zuvor westlich orientiert gewesen seien, hätten als Reaktion auf die Angriffe von aussen ihre Religiosität wiederentdeckt. Al-Huda sei längst nicht mehr die einzige islamische Frauenorganisation. In Pakistan existierten mittlerweile 21 solcher Vereine und ihre Anhängerschaft wachse mit jedem Tag, sagt Hussain.
Zunahme der Gewalt
Gleichzeitig nimmt die Gewalt gegen Frauen zu. Laut Naeem Mirza von der Aurat Foundation, einer Nichtregierungsorganisation, die sich für die Rechte der Frauen einsetzt, ist die Zahl der Ehrenmorde, der Säureangriffe und anderer Gewaltakte gegen Frauen in den letzten Jahren stark gestiegen. Häusliche Gewalt sei mittlerweile in jedem dritten Haushalt in Pakistan ein Problem, sagt Mirza. Mit dem Krieg im benachbarten Afghanistan und der Islamisierung unter Zia ul-Haq sei die pakistanische Gesellschaft gewalttätiger geworden. Die Situation der Frauen habe sich dadurch kontinuierlich verschlechtert, erklärt er. Aurat lobbyiere im Parlament für bessere Gesetze zum Schutz von Frauen. Doch kaum ein Politiker wage sich dieser Tage noch an das Thema heran, aus Angst, die Islamisten gegen sich aufzubringen.
Der Bewegungsspielraum der Frauen in Pakistan ist mit der zunehmenden Islamisierung in den letzten Jahren geschrumpft. Einige wenige wagen es, dagegen aufzumucken. Islamische Frauenorganisationen predigen derweil Tugendhaftigkeit.
Andrea Spalinger, Lahore
Veena Malik passt so gar nicht ins Bild, das man sich von einer Vorkämpferin für die Rechte der Frauen macht. Das pakistanische Model und TV-Starlet mit seinem superengen Mini-Kleid, den hochhackigen Pumps und dem viel zu dick aufgetragenen Make-up würde von Feministinnen im Westen wohl mit verächtlichen Blicken taxiert. In Pakistan ist die 26-Jährige zu einem Vorbild im Kampf gegen die konservativen Mullahs geworden, und das will etwas heissen. Seit der Ermordung zweier liberaler Politiker wagt sich hier kaum mehr jemand, gegen die schleichende Islamisierung aufzumucken.
Morddrohungen und Fatwas
Die Tochter eines pensionierten Militärs aus Rawalpindi hatte Ende 2010 mit ihrer Teilnahme an der Show «Big Boss» (einer indischen Version von «Big Brother») in der Heimat für grossen Wirbel gesorgt. Allein die Tatsache, dass sie an dem Fernsehspektakel im verfeindeten Nachbarland teilnahm, brachte islamistische Kreise gegen sie auf. Zu allem Übel freundete sie sich im «Big Boss»-Haus auch noch mit einem indischen Schauspieler an und liess sich gemeinsam mit diesem unter einer Decke am Lagerfeuer sitzend filmen. Die religiösen Eiferer waren empört. Wegen ihres «unangebrachten», «Pakistan beschämenden» Verhaltens bekam Veena Malik Todesdrohungen, Mullahs erliessen Fatwas gegen sie, und es wurden Gerichtsklagen wegen unziemlichen Verhaltens eingereicht.
Als wir mittags um 12 Uhr wie verabredet zum Interviewtermin erscheinen, ist Veena laut ihrem Manager noch im Bett. Eineinhalb Stunden später erscheint sie, in eine dicke Parfumwolke gehüllt und von ihrer Stylistin perfekt frisiert und geschminkt. Als sie realisiert, dass wir nicht vom Fernsehen sind und sie nicht filmen werden, ist sie sichtlich enttäuscht. Die attraktive junge Frau dürfte nicht wegen ihres Intellekts bei den indischen Reality-Show-Zuschauern so populär gewesen sein. Doch kann man von ihr denken, was man will, an Zivilcourage mangelt es Veena Malik nicht.
Nicht nur religiöse Hardliner, sondern auch die Medien hatten nach ihrem Auftritt in «Big Boss» gegen sie gehetzt. Ihre verängstigten Eltern hätten ihr geraten, gar nicht mehr in die Heimat zurückzukehren, doch sie habe nicht klein beigeben wollen, sagt sie. Sie stellte sich einem der feuerspeienden Mullahs in einer Talkshow und ging als klare Siegerin vom Platz. Auf Vorwürfe des Religionsgelehrten, dass sie mit ihrem schamlosen Verhalten die Ehre des Landes besudelt habe, antwortete die junge Frau scharf: «Nicht ich schade dem Image Pakistans und des Islams, sondern Extremisten wie Sie!»
Machismo und Doppelmoral
Über Nacht wurde Veena von einer sozial Geächteten zum Superstar. Nach der Talkshow überhäuften sie pakistanische und ausländische Fernsehsender mit lukrativen Angeboten. Derzeit moderiert sie für einen indischen Sportkanal die Kricket-Weltmeisterschaft. Die neu erworbene Popularität hat freilich ihren Preis. Für die Hardliner ist die junge Frau noch mehr zu einer Hassfigur geworden. Vor kurzem hat sie gar einen Schmähbrief von den Taliban erhalten, in dem ihr und ihrer Familie mit dem Tod gedroht wird.
Das einstige Partygirl Veena lebt heute zurückgezogen in ihrer luxuriösen Villa in Lahore – nicht nur aus Sicherheitsgründen, sondern auch aus Enttäuschung darüber, dass ihre einstigen Freunde in der Not nicht zu ihr gehalten haben. Ihr Traum ist es, eine eigene Fernsehshow zu moderieren, in der sie die Doppelmoral in ihrem Land aufs Korn nehmen kann. Die pakistanische Gesellschaft sei völlig verlogen, schimpft sie. Vor allem die Männer. Die meisten von ihnen würden im Geheimen Alkohol trinken, Partys feiern und sich Geliebte halten, doch nach aussen hin täten sie strenggläubig und verurteilten andere, die dasselbe täten.
Indische Reality-Shows seien in Pakistan populär, und während sie bei «Big Boss» zu sehen gewesen sei, seien die Einschaltquoten regelrecht in die Höhe geschossen, erklärt Veena Malik. Doch danach hätten sie alle scheinheilig verurteilt. «Wäre ich ein Mann gewesen, hätten die Islamisten kaum so viel Wind gemacht», fügt sie hinzu. «Männer können in diesem Land tun und lassen, was sie wollen, ohne Rücksicht auf ihre Frauen. Wenn diese hingegen etwas tun, was den Zorn ihrer Ehemänner weckt, werden sie geschlagen, mit Säure beworfen oder gar der Ehre halber umgebracht.»
Veena Malik mit ihrer schillernden Karriere ist eine absolute Ausnahmeerscheinung. Mit ihrer Kritik an der machistischen Haltung der religiösen Eiferer spricht sie jedoch vielen pakistanischen Frauen aus dem Herzen. Fast alle Gesprächspartnerinnen beklagen, dass ihr Bewegungsspielraum in den letzten Jahren geschrumpft sei. «Kaum eine Frau wagt sich noch ohne Kopftuch auf die Strasse, und immer mehr verschleiern ihr Gesicht oder tragen sogar eine Burka», sagt Saima Jasam, die für eine politische Stiftung in Lahore arbeitet. Die 46-Jährige ist seit vielen Jahren verwitwet und als alleinstehende Frau gewohnt, für sich selber zu sorgen. Doch im letzten Jahrzehnt sei dies schwieriger geworden. Es gelte heute als unmoralisch, wenn Frauen arbeiteten oder sich abends allein auf der Strasse bewegten. Früher sei sie nachts immer selber Auto gefahren, doch heute wage sie sich nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr allein auf die Strasse, sagt Saima.
Auch Munawar hat erfahren, dass der Raum enger wird, hat darauf jedoch ganz anders reagiert. Sie konzentriert sich heute darauf, eine «tugendhafte muslimische Frau» zu sein. «Eines Tages hielt ich in meinem Auto an einer Strassenkreuzung und wurde von einer Gruppe von Männern angestarrt», erzählt die 57-Jährige. «In dem Moment wurde mir bewusst, dass es nicht reicht, ein Kopftuch zu tragen, und ich mein Gesicht ganz verschleiern muss.» Munawar trägt seither einen Niqab, wenn sie das Haus verlässt, und fühlt sich nach eigenen Angaben viel freier als früher. «Im Koran steht, das wir uns bedecken sollen. Es geht dabei nicht um die Unterdrückung der Frau, sondern um unsere Sicherheit», sagt sie. «Wir sind etwas Wertvolles und müssen uns vor den Blicken fremder Männer schützen.»
Lehren, tugendhaft zu sein
Munawar ist ausgebildete Ärztin und hat mit ihrem Mann und ihren vier Kindern viele Jahre in den USA gelebt. Heute opfert sie ihre ganze Zeit und Energie der freiwilligen Arbeit für al-Huda. Diese vom Wahhabismus inspirierte islamische Frauenorganisation wurde 1994 von der charismatischen Islamwissenschafterin Farhat Hashmi gegründet. Über 10 000 Frauen sollen in Pakistan und anderen Zentren weltweit bereits durch ihre fundamentalistische Schule gegangen sein. Farhat Hashmi lebt und unterrichtet heute vor allem in Kanada, doch ihre Organisation hat in den letzten Jahren in Pakistan enorm an Zulauf gewonnen.
In Islamabad wurde gerade ein neues al-Huda-Zentrum gegenüber der Islamischen Universität eröffnet. Der riesige Betonbau beherbergt nicht nur unzählige Unterrichtsräume, einen grossen Gebetsraum, eine Kantine und eine Bibliothek, sondern auch einen Kindergarten und eine Schule für die Sprösslinge. Fast alle leitenden Angestellten und Lehrerinnen arbeiten auf freiwilliger Basis. Die meisten von ihnen stammen wie Munawar aus der Oberschicht. Einige waren Ärztinnen, Lehrerinnen und Bankerinnen, bevor sie die Religion zu ihrer Berufung machten. Fast alle haben erfolgreiche Männer und gut ausgebildete Söhne und Töchter.
Al-Huda bietet alle möglichen Kurse und Seminare an, bei denen es in erster Linie darum geht, den Koran in der Interpretation von Farhat Hashmi lesen und verstehen zu lernen. Das oberste Ziel sei, den Frauen beizubringen, eine tugendhafte Gattin zu sein, erklärt Yasmin, die im Führungsgremium des Zentrums sitzt. Kleidervorschriften gebe es hier keine, betonen Yasmin und ihre Kolleginnen freundlich lächelnd, obwohl Lehrerinnen und Schülerinnen alle Uniform-ähnliche Niqabs tragen.
«Al-Huda ist eine sehr elitäre Organisation», erklärt Saima, die selber einmal ein Seminar besucht hat, um die Anziehungskraft der Organisationen zu verstehen. Durch ihre Religiosität hätten die Frauen an Einfluss und Status in der Familie und der Gesellschaft gewonnen und fühlten sich dadurch wichtig. Farhat Hashmis Ziel sei es, möglichst viele Frauen aus der Ober- und Mittelschicht zu «bekehren». Sie tue dies auf geschickte Art und Weise, indem sie den Frauen erst Geborgenheit und Hilfe anbiete und sie dann im eigenen Interesse manipuliere.
Wie viele konservative Madrassen in Pakistan wird auch al-Huda mit Geldern aus Saudiarabien finanziert und propagiert in dessen Auftrag den Wahhabismus. Damit trägt die konservative Frauenorganisation zur Verdrängung der sehr viel toleranteren und spirituelleren südasiatischen Form des Islams bei. Indirekt sei al-Huda zudem auch verantwortlich dafür, dass der rechtliche und soziale Spielraum der Frauen geschrumpft sei, kritisiert der Journalist Khaled Ahmed.
Unter dem Militärdiktator Zia ul-Haq haben Pakistans Islamisten in den achtziger Jahren ihren Einfluss auf die Politik und die Gesellschaft stark ausbauen können. Seither hat sich die Islamisierung schleichend fortgesetzt. Der Universitätsprofessor und politische Kommentator Pervez Hoodbhoy spricht von einer drastischen sozialen und kulturellen Transformation. In den letzten drei Jahrzehnten habe sich der Wahhabismus auf Kosten des sanften südasiatischen Islams mit seinen Sufi-Heiligen ausgebreitet, und Pakistan sei ideologisch zunehmend vom indischen Subkontinent weggedriftet in Richtung Arabische Halbinsel.
Der Islam sei eine Botschaft des Friedens und der Toleranz, erklärt Yasmin mit sanfter Stimme. Dass al-Huda eine sehr konservative Form des muslimischen Glaubens vertritt, will sie im Gespräch nicht zugeben. Ebenso nicht, dass die Organisation durch saudische Gelder finanziert wird. Beobachter in Lahore weisen jedoch darauf hin, dass al-Huda eine fragwürdige Rolle spiele. Die Organisation stehe der islamistischen Partei Jamaat-e Islami nahe und teile deren Ideologie, sagt Khaled Ahmed, Kommentator der Wochenzeitung «Friday Times». Hinter der freundlichen Fassade werde Gewalt gutgeheissen und Usama bin Ladin als Held verehrt. Unabhängig davon, ob al-Huda Gewalt islamistischer Extremisten tatsächlich gutheisse oder nicht – indem sie deren exklusive und radikale Interpretation des Islams propagiere, trage sie zur Radikalisierung des gesellschaftlichen und kulturellen Umfelds bei.
Die weltweite Dämonisierung des Islams nach den Anschlägen des 11. September 2001 habe zum Aufblühen von Organisationen wie al-Huda beigetragen, erklärt die Frauenrechtlerin Neelam Hussain. Pakistanerinnen aus der Oberschicht, die zuvor westlich orientiert gewesen seien, hätten als Reaktion auf die Angriffe von aussen ihre Religiosität wiederentdeckt. Al-Huda sei längst nicht mehr die einzige islamische Frauenorganisation. In Pakistan existierten mittlerweile 21 solcher Vereine und ihre Anhängerschaft wachse mit jedem Tag, sagt Hussain.
Zunahme der Gewalt
Gleichzeitig nimmt die Gewalt gegen Frauen zu. Laut Naeem Mirza von der Aurat Foundation, einer Nichtregierungsorganisation, die sich für die Rechte der Frauen einsetzt, ist die Zahl der Ehrenmorde, der Säureangriffe und anderer Gewaltakte gegen Frauen in den letzten Jahren stark gestiegen. Häusliche Gewalt sei mittlerweile in jedem dritten Haushalt in Pakistan ein Problem, sagt Mirza. Mit dem Krieg im benachbarten Afghanistan und der Islamisierung unter Zia ul-Haq sei die pakistanische Gesellschaft gewalttätiger geworden. Die Situation der Frauen habe sich dadurch kontinuierlich verschlechtert, erklärt er. Aurat lobbyiere im Parlament für bessere Gesetze zum Schutz von Frauen. Doch kaum ein Politiker wage sich dieser Tage noch an das Thema heran, aus Angst, die Islamisten gegen sich aufzubringen.
Donnerstag, 24. März 2011
Wenn Japan wankt
Überwältigende Solidarität in Südkorea
Von Hoo Nam Seelmann
Geografie kann, blickt man auf die gegenwärtige Krise in Japan, etwas Schicksalhaftes für eine Nation haben. Auf mehreren tektonischen Platten liegend, ist Japan den unvorhersehbaren Bewegungen aus der Tiefe der Erde unmittelbar ausgesetzt. Das Leben mit der bebenden Erde hat die Japaner eine bewundernswert stoische Haltung gegenüber Naturkatastrophen gelehrt, die das Überleben in der unsicheren Heimat ermöglicht. Obwohl nur eine schmale Meerenge Korea von Japan trennt, blieb Korea demgegenüber ganz von Erdbeben verschont. Das vorgelagerte Japan schirmt Korea zudem von schweren Taifunen ab, die Jahr für Jahr über den Pazifik ziehen. Dass geografische und kulturelle Nähe Betroffenheit und Solidarität steigert, ist ein oft beobachtetes Phänomen. So liess das unfassbare Leid der Nachbarn die Koreaner tief erschüttert zurück. Japan, ein asiatischer Riese, dessen wirtschaftlicher Aufstieg das Potenzial Ostasiens ahnen liess und die Nachbarn inspirierte, strauchelt.
Die Welle der Hilfsbereitschaft setzte in Korea sogleich ein, kaum dass die Katastrophe bekanntwurde. Als erstes Land schickte Korea einen grossen Suchtrupp mit Hunden ins Krisengebiet. Die koreanische Regierung will den höchsten Betrag bereitstellen, den sie je für ein anderes Land als Katastrophenhilfe aufgeboten hat. Zahlreiche Sammelaktionen sind angelaufen, und mehrere religiöse und zivile Hilfsgruppen haben sich auf den Weg gemacht, um Verschüttete zu bergen und Überlebenden zu helfen. Studenten schwärmten in Seoul aus, um auf den Strassen Spenden zu sammeln. Der koreanische Filmstar Bae Yong Jun, der durch koreanische Fernsehserien in Japan als «Yon-sama» zu grosser Bekanntheit gelangt ist, spendete eine Million Franken. Etliche koreanische Pop-Gruppen, Filmstars und Sportler folgten seinem Beispiel. Die grosse Anteilnahme und die Hilfsbereitschaft der Koreaner zeigen, wie nah sich die Menschen in den beiden Ländern inzwischen gekommen sind.
Dass dies nicht immer so war, wissen sowohl die Koreaner als auch die Japaner. Dunkle Erinnerungen an ein anderes Beben tauchen auf. Am 1. September 1923 um 11 Uhr 58 bebte im Grossraum Tokio - Yokohama die Erde. Es wurde die Stärke 7,9 gemessen. Die meisten Häuser, da sie nicht erdbebensicher gebaut waren, stürzten sofort ein. Was jedoch dieses Beben verheerend machte, war das Feuer, das sich im Nu über Tokio ausbreitete. Es war Mittagszeit, und man kochte überall mit Gas. Mit berstenden Gasleitungen und offenen Feuern an den Herden verwandelte sich die ganze Stadt in ein einziges Flammenmeer.
150 000 Menschen kamen damals ums Leben, und die Mehrzahl davon verbrannte. Korea war zu dieser Zeit bereits seit dreizehn Jahren eine Kolonie Japans, und viele Koreaner lebten unter schwierigsten Bedingungen in Japan. Die Krise spitzte sich dramatisch zu, da das Feuer sich nicht schnell löschen liess. Die Infrastruktur Tokios war weitgehend zerstört. Darum konnte die nötige Hilfe die Menschen nicht erreichen. Sie irrten verängstigt, hungernd und durstend umher. Die völlig überforderte Regierung fürchtete, die Wut der Menschen könnte sich gegen den Kaiser und die Obrigkeit richten. Die innenpolitische Lage war durch die gestiegene Abgabenlast ohnehin sehr angespannt.
In dieser explosiven Situation kamen Gerüchte auf, die Koreaner legten Feuer, vergifteten Brunnen und raubten die hilflosen Japaner aus. Die Koreaner nützten, so wurde kolportiert, die Not der Japaner aus und zettelten einen Aufstand an, um die Unabhängigkeit ihres Landes zu erreichen. Mit rasender Geschwindigkeit wurden diese völlig haltlosen Gerüchte von offizieller Seite in Umlauf gebracht, um die Wut der verzweifelten Japaner abzulenken. Die Parole lautete nun überall: «Tötet die Koreaner!»
Eine grausame Jagd auf die ahnungslosen Koreaner begann. Im Raum Tokio - Yokohama lebten damals abgesondert in Baracken rund 20 000 Koreaner. Da die meisten erst vor kurzem nach Japan gekommen waren, sprachen sie kaum Japanisch. Auch sie flohen vor dem Feuer, gerieten aber in eine noch tödlichere Falle. Überall wurden Bürgerwehren errichtet, die jeden Koreaner, den sie aufgriffen, auf grausamste Art umbrachten. Innerhalb von nur einer Woche kamen so 7000 Koreaner ums Leben, die nicht einmal begriffen hatten, was ihnen geschah. Die komplizierte Psyche der Menschen in Extremsituationen und das politische Kalkül im Zeitalter des Kolonialismus wirkten auf fatale Weise bei der Entstehung dieser Tragödie inmitten eines grossen Bebens zusammen.
Von Hoo Nam Seelmann
Geografie kann, blickt man auf die gegenwärtige Krise in Japan, etwas Schicksalhaftes für eine Nation haben. Auf mehreren tektonischen Platten liegend, ist Japan den unvorhersehbaren Bewegungen aus der Tiefe der Erde unmittelbar ausgesetzt. Das Leben mit der bebenden Erde hat die Japaner eine bewundernswert stoische Haltung gegenüber Naturkatastrophen gelehrt, die das Überleben in der unsicheren Heimat ermöglicht. Obwohl nur eine schmale Meerenge Korea von Japan trennt, blieb Korea demgegenüber ganz von Erdbeben verschont. Das vorgelagerte Japan schirmt Korea zudem von schweren Taifunen ab, die Jahr für Jahr über den Pazifik ziehen. Dass geografische und kulturelle Nähe Betroffenheit und Solidarität steigert, ist ein oft beobachtetes Phänomen. So liess das unfassbare Leid der Nachbarn die Koreaner tief erschüttert zurück. Japan, ein asiatischer Riese, dessen wirtschaftlicher Aufstieg das Potenzial Ostasiens ahnen liess und die Nachbarn inspirierte, strauchelt.
Die Welle der Hilfsbereitschaft setzte in Korea sogleich ein, kaum dass die Katastrophe bekanntwurde. Als erstes Land schickte Korea einen grossen Suchtrupp mit Hunden ins Krisengebiet. Die koreanische Regierung will den höchsten Betrag bereitstellen, den sie je für ein anderes Land als Katastrophenhilfe aufgeboten hat. Zahlreiche Sammelaktionen sind angelaufen, und mehrere religiöse und zivile Hilfsgruppen haben sich auf den Weg gemacht, um Verschüttete zu bergen und Überlebenden zu helfen. Studenten schwärmten in Seoul aus, um auf den Strassen Spenden zu sammeln. Der koreanische Filmstar Bae Yong Jun, der durch koreanische Fernsehserien in Japan als «Yon-sama» zu grosser Bekanntheit gelangt ist, spendete eine Million Franken. Etliche koreanische Pop-Gruppen, Filmstars und Sportler folgten seinem Beispiel. Die grosse Anteilnahme und die Hilfsbereitschaft der Koreaner zeigen, wie nah sich die Menschen in den beiden Ländern inzwischen gekommen sind.
Dass dies nicht immer so war, wissen sowohl die Koreaner als auch die Japaner. Dunkle Erinnerungen an ein anderes Beben tauchen auf. Am 1. September 1923 um 11 Uhr 58 bebte im Grossraum Tokio - Yokohama die Erde. Es wurde die Stärke 7,9 gemessen. Die meisten Häuser, da sie nicht erdbebensicher gebaut waren, stürzten sofort ein. Was jedoch dieses Beben verheerend machte, war das Feuer, das sich im Nu über Tokio ausbreitete. Es war Mittagszeit, und man kochte überall mit Gas. Mit berstenden Gasleitungen und offenen Feuern an den Herden verwandelte sich die ganze Stadt in ein einziges Flammenmeer.
150 000 Menschen kamen damals ums Leben, und die Mehrzahl davon verbrannte. Korea war zu dieser Zeit bereits seit dreizehn Jahren eine Kolonie Japans, und viele Koreaner lebten unter schwierigsten Bedingungen in Japan. Die Krise spitzte sich dramatisch zu, da das Feuer sich nicht schnell löschen liess. Die Infrastruktur Tokios war weitgehend zerstört. Darum konnte die nötige Hilfe die Menschen nicht erreichen. Sie irrten verängstigt, hungernd und durstend umher. Die völlig überforderte Regierung fürchtete, die Wut der Menschen könnte sich gegen den Kaiser und die Obrigkeit richten. Die innenpolitische Lage war durch die gestiegene Abgabenlast ohnehin sehr angespannt.
In dieser explosiven Situation kamen Gerüchte auf, die Koreaner legten Feuer, vergifteten Brunnen und raubten die hilflosen Japaner aus. Die Koreaner nützten, so wurde kolportiert, die Not der Japaner aus und zettelten einen Aufstand an, um die Unabhängigkeit ihres Landes zu erreichen. Mit rasender Geschwindigkeit wurden diese völlig haltlosen Gerüchte von offizieller Seite in Umlauf gebracht, um die Wut der verzweifelten Japaner abzulenken. Die Parole lautete nun überall: «Tötet die Koreaner!»
Eine grausame Jagd auf die ahnungslosen Koreaner begann. Im Raum Tokio - Yokohama lebten damals abgesondert in Baracken rund 20 000 Koreaner. Da die meisten erst vor kurzem nach Japan gekommen waren, sprachen sie kaum Japanisch. Auch sie flohen vor dem Feuer, gerieten aber in eine noch tödlichere Falle. Überall wurden Bürgerwehren errichtet, die jeden Koreaner, den sie aufgriffen, auf grausamste Art umbrachten. Innerhalb von nur einer Woche kamen so 7000 Koreaner ums Leben, die nicht einmal begriffen hatten, was ihnen geschah. Die komplizierte Psyche der Menschen in Extremsituationen und das politische Kalkül im Zeitalter des Kolonialismus wirkten auf fatale Weise bei der Entstehung dieser Tragödie inmitten eines grossen Bebens zusammen.
Dienstag, 22. März 2011
Manufactured landscapes — von Jennifer Baichwal
Regie: Jennifer Baichwal
Mit: Edward Burtynsky
Die kanadische Regisseurin Jennifer Baichwal begleitet den Fotografen Edward Burtynsky bei seiner Arbeit als Dokumentarist 'menschgemachter Landschaften'. Burtynsky hatte anfänglich Mienen in Kanada fotografiert, wobei er sich für die durch den Menschen veränderte Landschaft interessierte. Seine künstlerische Arbeit weitete sich darauf in andere Teile der Welt aus: er fotografierte durch Chemikalien verfärbte Flüsse, Strände voll havarierter Schiffe oder riesige Fabrikhallen.
Die Anfanssequenz des Films, eine mehrminütige Kamerafahrt (des kanadisch-schweizerischen Kameramanns Peter Mettler) durch eine chinesische Produktionshalle ohne einen einzigen Schnitt macht die unfassbare Dimension dieser Produktionsstätten bewusst. China als Werkbank der Welt steht im Zentrum des Films. Ein Film, der im Zuschauer fast schon körperlich Sprachlosigkeit und Grauen hervorruft. Wie betäubt ist man sich nach diesem Film bewusst: an jedem Stecker den man im Haushalt verwendet, jedem Nasenspray, jedem Computer den man kauft, klebt Blut und Schweiss anderer Menschen und leidet die Umwelt.
Wenn man den Film gesehen hat, fragt man sich einmal mehr: wie können wir uns und die Welt retten? Ist es schon zu spät? Wann endlich wachen wir auf? Und was sind die Alternativen, wenn man versuchen will, den Teufelskreis zumindest teilweise zu durchbrechen? (nb)
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Dirty Pretty Things (2002)
Vor fast zehn Jahren hat sich Stephan Frears in seinem Film 'Dirty Pretty Things' einem ähnlichen Thema angenommen wie Alejandro González Iñárritu in seinem neuen Film 'Biutiful'. Im Gegensatz zu 'Biutiful' spielt der Film nicht in Barcelona sondern in der Unterwelt Londons.
Audrey Tatou hat hier kein fabelhaftes Schicksal wie als Amélie, sondern kämpft als illegale türkische Einwandererin ums Überleben. Organhandel, sexuelle Belästigung, illegale Nähereien – das alles findet im Herzen Londons im Untergrund statt, und doch mittendrin in der Gesellschaft. Die Szenerie und Kamera sind nicht so kompromisslos schmutzig wie bei 'Biutiful', aber die Gefühle die der Film zurücklässt sind ähnliche.
Beide Filme werfen Fragen auf: Ist die Welt in der wir leben unveränderbar schlecht? Können wir etwas ändern? Wie? Müssen wir nicht endlich handeln? Wie geht der Einzelne mit seiner Ohnmacht um, ein passiver Profiteur dieses Systems zu sein?
Keine dieser Fragen beantworten die beiden Filme, die Fragen und vorallem die Lösungen sind auch bei weitem zu komplex. Aber wichtig ist, dass wir uns diesen Fragen stellen und Massnahmen treffen, wie wir im kleinen Versuchen können gegen das Unrecht anzukämpfen. (nb)
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BIUTIFUL — Von Alejandro González Iñárritu
In seinem neuen Film verstrickt der mexikanische Regisseur Iñárritu die Einzelschicksale seiner bitterarmen Protagonisten aus den Elendsvierteln Barcelonas. Im Zentrum steht der Spanier Uxbal, Vater zweier Kinder für die er das Sorgerecht hat, weil die Mutter manisch-depressiv ist. Uxbal vermittelt zwischen korrupten Polizisten, chinesischen Produzenten von Billigwaren und illegalen Afrikanischen Strassenhändlern, die die Sachen an Touristen und Einheimische verkaufen und nebenbei mit Drogen handeln. Uxbal, der mit seinen Kindern selber von der Hand in den Mund lebt, spielt in diesem schmutzigen Spiel eine zwiespältige Rolle – einerseits versucht er die Lebensbedingungen der Immigranten im Rahmen des möglichen zu verbessern und ihnen zu helfen, andererseits profitiert er als Spanier von ihrer Ohnmacht als Papierlose.
Der Film zeigt, wie jedes Glied in der Kette dieser unglücklichen Allianz dazu verdammt ist, das Spiel mitzuspielen – um die eigene Haut und die seiner nächsten zu retten, und sei es nur bis zum nächsten Tag. Bis zum Schluss bleibt der Film brutal realistisch, Atempausen gibt es kaum, das Entsetzen über die grenzenlose Armut fernab des touristischen Barcelonas hält stets an. Zwar trägt Iñárritu bisweilen dick auf was die inhaltliche Dichte angeht – Armut, tote Immigranten, Homosexualität, Bipolare Störungen, Untreue, Gewalt am eigenen Kind, Drogen, Übersinnliches, Krebs, brutale Polizisten, Vater-Sohn-Beziehungen...kein Thema wird ausgelassen. Trotzdem, man glaubt ihm, dass dies alles wahr ist und sich täglich überall auf der Welt immer und immer wieder abspielt, dass keine Grausamkeit hier nicht der Realität entsprechen könnte.
Durch diese geballte Ladung an mensch-gemachtem Leid wird man unweigerlich auf sich selber zurückgeworfen und das Wissen darum, dass die, denen es gut geht, wenn auch nicht immer bewusst oder böswillig, auf den gebückten Rücken der Unterdrückten gehen. Unser Wohlstand ist keineswegs saubererer Herkunft als vor 100 Jahren: nach wie vor leben Abermillionen sklavenähnlich unter unwürdigen Bedingungen und produzieren Konsumgüter für die, die es sich leisten können. Einjeder in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft für sich uns seine Kinder. Ob wir wollen oder nicht, wir sind Teil des Ganzen.
Iñárritu hat mit seinem Film das geschafft, was heute selten passiert: dass ein Grossteil der Zuschauer nach Filmende während des Abspanns sitzen blieb, von der Wucht all des Elends unweigerlich in den Kinosessel gedrückt. (nb)
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Sonntag, 20. März 2011
Das Sieben-Milliarden-Problem
NZZ Folio 03/11
Wie viele Menschen kann die Erde verkraften? Wie lange kann Wachstum noch unser Ziel sein? Werden wir eher ums Öl Kriege führen oder ums Wasser?
Von Wolf Schneider
Noch in diesem Jahr wird die Erde sieben Milliarden Menschen tragen – eine Milliarde mehr als vor nur zwölf Jahren und fast viermal so viel als zu der Zeit, als die Greise von heute zur Schule gingen. Kann unser Planet ein solches Gedränge ertragen? Er könnte es, wenn die reichen Völker ihre Ansprüche drastisch senkten und die armen nicht versuchten, zu ihnen aufzuschliessen. Aber ebendies wollen sie natürlich.
Schon weniger Kinder pro Frau
Die Bevölkerungsexplosion begann mit dem Sieg über die Säuglingssterblichkeit. Leopold Mozart musste es noch als normal empfinden, dass fünf seiner sieben Kinder starben. Dann rang das Abendland die Seuchen nieder – und binnen zweier, dreier Generationen gewöhnten sich die Eltern an, nur noch zwei oder drei Kinder in die Welt zu setzen.
In Asien ist Ähnliches im Gange. Zudem hält China an seiner Ein-Kind-Politik fest; sie hat der Welt nach chinesischer Schätzung 400 Millionen weitere Chinesen erspart.
Im schwarzen Afrika dagegen sind fünf Kinder pro Frau noch die Regel. Da nun die meisten überleben, hat sich die Bevölkerung des Kontinents in den letzten hundert Jahren verachtfacht – auf eine Milliarde.
Doch die Menschen werden mehr
Auch wenn im Weltmassstab die Zahl der Kinder pro Frau schon sinkt: die Weltbevölkerung wird noch weiter wachsen. Denn die Geburtenfreudigkeit der letzten Jahrzehnte hat 1,8 Milliarden Frauen, viel mehr als je zuvor, ins gebärfähige Alter gebracht. Etwa 9 Milliarden Menschen um das Jahr 2050, schätzt die Uno – dann hoffentlich nicht noch mehr.
Davor aber steht ein neues Problem: Die Milliarden der während des Babybooms Geborenen werden alt, erreichen überdies ein höheres Alter als ihre Eltern – und müssen von einer sinkenden Zahl von Arbeitsfähigen versorgt werden. In China spricht man vom «2:5-Problem»: Jedes Ehepaar hat für sein Kind und seine vier Eltern aufzukommen.
Nur bescheidener werden sie nicht
2010 produzierte ein Deutscher, in Geldwert umgerechnet, dreissigmal so viel wie ein Inder. Mit Riesenschritten holt Indien auf, mit entsprechendem Mehrverschleiss an Rohstoffen und steigender Mehrproduktion an Dreck und Gift. Selbstverständlich aber beten die Reichen weiter ihren Fetisch «Wachstum» an. Niemand mutet ihnen zu, dass sie für jedes Auto, das in Indien neu zugelassen wird, eines von ihren verschrotten müssten – wenn die Überlastung der Atmosphäre nicht noch verschlimmert werden soll.
Ein Auto auf zwei Menschen, das ist in den reichen Ländern üblich; und da sie gleichzeitig die Umwelt schonen wollen, haben sie sich den ökologischen Wahnsinn des Biosprits ausgedacht: Energie aus Weizen, Mais, Palmöl und Zuckerrohr! Aus den 250 Kilo Weizen, die einen Menschen ein Jahr lang sättigen könnten, werden 100 Liter Biosprit – etwas mehr als eine Tankfüllung für unsere dringend benötigten Geländewagen. Eine Milliarde Menschen leiden Hunger – in Brasilien werden Wälder abgeholzt für Zuckerrohr.
Der Endkampf um Wasser und Öl
Dabei verfeuert die Menschheit weiter Tag für Tag 25 Millionen Tonnen Kohle und Öl, und die letzten grossen Ölvorräte liegen in der heissesten Krisenregion der Erde. Experten streiten sich, ob ein Krieg ums Öl früher oder später ausbrechen wird als die befürchteten Kriege ums Wasser: Fast eine Milliarde Menschen haben nicht genug und eine weitere Milliarde nur schmutziges zur Verfügung.
Was wir zu viel haben, ist Müll – am schlimmsten in der fast unzerstörbaren Form von Plastic; 60 Millionen Flaschen täglich verbrauchen allein die USA. Zwischen Hawaii und Kalifornien treibt die «grosse pazifische Müllsuppe»: Plasticabfälle, 1500 Kilometer im Durchmesser und bis zu 10 Meter dick.
Adieu, Abendland!
In der Verschwendung sind sie führend – in der Weltbevölkerung geht der Anteil der Abendländer mit Riesenschritten zurück. 1890 hatte Asien dreimal so viele Einwohner wie Europa westlich von Russland – heute das Siebenfache. In Afrika wohnten damals halb so viele Menschen wie hier – heute fast doppelt so viele. 90 Millionen in Äthiopien, 150 Millionen in Nigeria!
Als Vermächtnis des Abendlands bleibt der Menschheit die Gesinnung: «Macht euch die Erde untertan!» Ihr seid die Herren – die Erde hat sich zu fügen! Doch sie fügt sich nicht. Irgendwann muss die Unendlichkeit unserer Ansprüche an der Endlichkeit der Erde zerschellen. Hoffen wir, dass die Menschheit daraus Konsequenzen zieht – vor 2050.
Wolf Schneider ist Schriftsteller; er lebt in Starnberg (D).
Wie viele Menschen kann die Erde verkraften? Wie lange kann Wachstum noch unser Ziel sein? Werden wir eher ums Öl Kriege führen oder ums Wasser?
Von Wolf Schneider
Noch in diesem Jahr wird die Erde sieben Milliarden Menschen tragen – eine Milliarde mehr als vor nur zwölf Jahren und fast viermal so viel als zu der Zeit, als die Greise von heute zur Schule gingen. Kann unser Planet ein solches Gedränge ertragen? Er könnte es, wenn die reichen Völker ihre Ansprüche drastisch senkten und die armen nicht versuchten, zu ihnen aufzuschliessen. Aber ebendies wollen sie natürlich.
Schon weniger Kinder pro Frau
Die Bevölkerungsexplosion begann mit dem Sieg über die Säuglingssterblichkeit. Leopold Mozart musste es noch als normal empfinden, dass fünf seiner sieben Kinder starben. Dann rang das Abendland die Seuchen nieder – und binnen zweier, dreier Generationen gewöhnten sich die Eltern an, nur noch zwei oder drei Kinder in die Welt zu setzen.
In Asien ist Ähnliches im Gange. Zudem hält China an seiner Ein-Kind-Politik fest; sie hat der Welt nach chinesischer Schätzung 400 Millionen weitere Chinesen erspart.
Im schwarzen Afrika dagegen sind fünf Kinder pro Frau noch die Regel. Da nun die meisten überleben, hat sich die Bevölkerung des Kontinents in den letzten hundert Jahren verachtfacht – auf eine Milliarde.
Doch die Menschen werden mehr
Auch wenn im Weltmassstab die Zahl der Kinder pro Frau schon sinkt: die Weltbevölkerung wird noch weiter wachsen. Denn die Geburtenfreudigkeit der letzten Jahrzehnte hat 1,8 Milliarden Frauen, viel mehr als je zuvor, ins gebärfähige Alter gebracht. Etwa 9 Milliarden Menschen um das Jahr 2050, schätzt die Uno – dann hoffentlich nicht noch mehr.
Davor aber steht ein neues Problem: Die Milliarden der während des Babybooms Geborenen werden alt, erreichen überdies ein höheres Alter als ihre Eltern – und müssen von einer sinkenden Zahl von Arbeitsfähigen versorgt werden. In China spricht man vom «2:5-Problem»: Jedes Ehepaar hat für sein Kind und seine vier Eltern aufzukommen.
Nur bescheidener werden sie nicht
2010 produzierte ein Deutscher, in Geldwert umgerechnet, dreissigmal so viel wie ein Inder. Mit Riesenschritten holt Indien auf, mit entsprechendem Mehrverschleiss an Rohstoffen und steigender Mehrproduktion an Dreck und Gift. Selbstverständlich aber beten die Reichen weiter ihren Fetisch «Wachstum» an. Niemand mutet ihnen zu, dass sie für jedes Auto, das in Indien neu zugelassen wird, eines von ihren verschrotten müssten – wenn die Überlastung der Atmosphäre nicht noch verschlimmert werden soll.
Ein Auto auf zwei Menschen, das ist in den reichen Ländern üblich; und da sie gleichzeitig die Umwelt schonen wollen, haben sie sich den ökologischen Wahnsinn des Biosprits ausgedacht: Energie aus Weizen, Mais, Palmöl und Zuckerrohr! Aus den 250 Kilo Weizen, die einen Menschen ein Jahr lang sättigen könnten, werden 100 Liter Biosprit – etwas mehr als eine Tankfüllung für unsere dringend benötigten Geländewagen. Eine Milliarde Menschen leiden Hunger – in Brasilien werden Wälder abgeholzt für Zuckerrohr.
Der Endkampf um Wasser und Öl
Dabei verfeuert die Menschheit weiter Tag für Tag 25 Millionen Tonnen Kohle und Öl, und die letzten grossen Ölvorräte liegen in der heissesten Krisenregion der Erde. Experten streiten sich, ob ein Krieg ums Öl früher oder später ausbrechen wird als die befürchteten Kriege ums Wasser: Fast eine Milliarde Menschen haben nicht genug und eine weitere Milliarde nur schmutziges zur Verfügung.
Was wir zu viel haben, ist Müll – am schlimmsten in der fast unzerstörbaren Form von Plastic; 60 Millionen Flaschen täglich verbrauchen allein die USA. Zwischen Hawaii und Kalifornien treibt die «grosse pazifische Müllsuppe»: Plasticabfälle, 1500 Kilometer im Durchmesser und bis zu 10 Meter dick.
Adieu, Abendland!
In der Verschwendung sind sie führend – in der Weltbevölkerung geht der Anteil der Abendländer mit Riesenschritten zurück. 1890 hatte Asien dreimal so viele Einwohner wie Europa westlich von Russland – heute das Siebenfache. In Afrika wohnten damals halb so viele Menschen wie hier – heute fast doppelt so viele. 90 Millionen in Äthiopien, 150 Millionen in Nigeria!
Als Vermächtnis des Abendlands bleibt der Menschheit die Gesinnung: «Macht euch die Erde untertan!» Ihr seid die Herren – die Erde hat sich zu fügen! Doch sie fügt sich nicht. Irgendwann muss die Unendlichkeit unserer Ansprüche an der Endlichkeit der Erde zerschellen. Hoffen wir, dass die Menschheit daraus Konsequenzen zieht – vor 2050.
Wolf Schneider ist Schriftsteller; er lebt in Starnberg (D).
Donnerstag, 17. März 2011
Mittwoch, 16. März 2011
Albtraum Atommüll Arte Doku
Auf die zunehmende Angst vor den Folgen der Erderwärmung reagieren Industrielle und manche Politiker mit dem Wundermittel Atomenergie: eine saubere und kontrollierbare Energie ohne schädliche Auswirkungen auf Mensch und Umwelt, die sogar zur nachhaltigen Entwicklung beiträgt. Aber ist sie wirklich so sauber, wie man uns weismachen will?
Atomkraftgegner und -befürworter streiten darüber, ob diese Form der Energie, die von den meisten europäischen Ländern bereits aufgegeben wurde, nun doch wieder genutzt werden soll. Im Zentrum der Debatte steht eine Angst, die alle teilen: die vor dem Atommüll.
Er ist die Schwachstelle der Atomenergie, ihre Achillesferse, ihr schlimmster Albtraum. Die Bevölkerung hat Angst vor dem Atommüll, die Wissenschaft findet keine annehmbare Lösung dafür, die Industrie versucht zu beschwichtigen, und die Politik meidet das Thema. Die wenigen europäischen Länder, die eine öffentliche Debatte über radioaktive Abfälle führen, haben bereits einen schrittweisen Ausstieg aus der Atomenergie beschlossen. Dies gilt für Deutschland, Österreich, Schweden und Belgien. Aber was weiß man eigentlich genau? Wie kann man sich überhaupt eine klare Vorstellung bilden bei diesem Thema, das so lange unter Verschluss gehalten wurde? Wie erklärt sich dieses demokratische Defizit in einer politisch und ökologisch so wichtigen Angelegenheit?
Der Film sucht in Frankreich, Deutschland, den USA und Russland nach der „Wahrheit über den Atommüll“.
Alternativer Link: http://www.youtube.com/watch?v=VLPTdIMYqOI
Quelle: Arte
Sonntag, 13. März 2011
Freitag, 11. März 2011
Eine bessere Welt ist möglich!
von Hermann Lueer am 02.03.2011
hier als pdf: http://www.whyhunger.com/deutsch/assets/eine-bessere-welt-ist-moeglich.pdf
Die vorherrschende Wirtschaftsordnung der führenden Industriemächte sorgt täglich unter dem Titel »Globalisierung« für die Sachzwänge, aufgrund derer außer »Hilfe zur Selbsthilfe« für die Verlierer der Konkurrenz beim besten Willen nichts zu machen ist. Welthunger, kein Zugang zu sauberem Wasser für ein Sechstel der Menschheit, bittere Armut und elende Arbeitsbedingungen sind trotz der Wunder der Technik des 21. Jahrhunderts zur Normalität der globalen Wirtschaftsordnung geworden. Nicht nur in den sogenannten Entwicklungsländern, sondern auch innerhalb der erfolgreichen Industrienationen zeugen die offiziellen Armutsberichte von der wachsenden Diskrepanz zwischen dem, was als Wohlstand der Nation im Bruttosozialprodukt bilanziert und als Pro-Kopf-Einkommen umgerechnet wird und dem, was die Mehrheit der Bevölkerung davon hat. Altersarmut, Kinderarmut, Arbeitslosigkeit, Einschnitte im Bildungswesen wie bei der medizinischen Versorgung sind aus wirtschaftlichen Gründen, zur Sicherung der nationalen Wettbewerbsfähigkeit, marktwirtschaftlich nicht zu vermeiden. Seit mehr als 200 Jahren versucht die Arbeiterbewegung vergeblich, den Kapitalismus zu zähmen. Es wird Zeit, seine Abschaffung zu fordern!
(Argumente gegen die Marktwirtschaft finden sich bei: Michael Heinrich, Kritik der politischen Ökonomie, Schmetterlingsverlag, 2005 sowie Hermann Lueer, Warum verhungern täglich 100.000 Menschen?, Edition Octopus, 4. Auflage 2010.)
Die Alternative ist im Prinzip banal. Statt auf der Grundlage des Privateigentums an Produktionsmitteln den Zweck der individuellen Bereicherung gelten zu lassen, wird auf der Grundlage gesellschaftlicher Produktionsmittel die individuelle Bedürfnisbefriedigung zum Zweck erhoben. Die Auswirkungen der geänderten Zwecksetzung sind dann alles andere als banal, was sich leicht daran studieren lässt, wie unterschiedlich Entscheidungsprozesse, Arbeit und Bedürfnisse im Kapitalismus im Vergleich zu in einer Gesellschaft jenseits von Ware, Geld, Kapital und Lohnarbeit vorkommen.
(Die Alternative zum Kapitalismus, die Frage, wie sich eine Gesellschaft jenseits von Markt und Kapital organisieren lässt, wurde von Karl Marx mit seinem Beispiel des »Vereins freier Menschen« nur kurz angerissen (vgl. hierzu Karl Marx, Das Kapital, Bd.1, S.92f sowie Kritik des Gothaer Programms, MEW 19, S. 19f). Umfassende Darstellungen wie sich jenseits von Markt und Kapital die Entscheidungsprozesse bezüglich der zu produzierenden Güter und Dienstleistungen organisieren lassen, wie sichergestellt werden kann, dass in einer auf Gemeingütern basierenden Gesellschaftsform die notwendigen Aufgaben erledigt werden und wie im Hinblick auf die Aufteilung der Produktionsergebnisse eine zufriedenstellende Kopplung zwischen Nehmen und Geben erreicht werden kann, finden sich bei: W. Paul Cockshott/Allin Cottrell, Towards a New Socialism, 1993; Alfred Fresin, Die bedürfnisorientierte Versorgungswirtschaft. Eine Alternative zur Marktwirtschaft, 2005 sowie Christian Siefkes, Beitragen statt tauschen. Materielle Produktion nach dem Modell Freier Software, 2008)
Der Entscheidungsprozess
Die Frage, welche Bedürfnisse relevant sind, um sie über einen gesellschaftlichen Produktionsprozess zu befriedigen, entscheidet in der Marktwirtschaft der Geldbeutel, über den jemand verfügt. Die Größe des Geldbeutels wiederum ergibt sich aus dem kapitalistischen Produktionsverhältnis, in dem eine Minderheit das Privateigentum an Produktionsmitteln nutzt, indem sie andere für sich arbeiten lässt und über die Ausnutzung der Differenz zwischen dem Preis der Arbeitskraft und dem durch ihre Anwendung geschaffenen Werten ihren Reichtum ständig vermehrt, während die Mehrheit der Bevölkerung in ihrer Mittellosigkeit jeden Tag erneut ihre eigene Arbeitskraft zum Markt tragen muss. Was produziert wird (Qualität), wie produziert wird (Arbeits- und Umweltbedingungen), für wen produziert wird (Verteilung), wo produziert wird (Trennung zwischen Zentrum und Peripherie) und ob überhaupt produziert wird (Krise), entscheidet sich im Kapitalismus auf dem Markt. Wenn genug zahlungsfähige Nachfrage vorhanden ist und es sich für den Besitzer der Produktionsmittel lohnt, dann ist nahezu alles möglich: vom hochwertigen Luxusgut bis zum »Gammelfleisch«. Dann sind Überstunden und Nachtschichten erforderlich, dann kann ohne Rücksicht auf Gesundheit und Freizeitinteressen nicht lange und intensiv genug gearbeitet werden. Wenn die Bedürfnisse nicht zahlungsfähig sind, verhungern in der Marktwirtschaft Millionen Menschen neben vorhandenen Ressourcen und Produktionsmitteln.
In einer auf vergesellschafteten Produktionsmitteln gegründeten Gesellschaft liegt demgegenüber die Kontrolle der Produktionsmittel in den Händen der Produzenten, nicht in der Hand einzelner Privateigentümer. Die Festlegung des Bedarfes der Bevölkerung in Relation der dafür zu leistenden Arbeit wird in einer Kooperation unter Gleichen durch die Bedürfnisse angetrieben, nicht durch den Profit. Der hierfür erforderliche gesellschaftliche Planungsaufwand für Materialbeschaffung, Produktion und Logistik verringert sich zudem im Vergleich zur Marktwirtschaft erheblich. Sobald man einen Moment von der in der Marktwirtschaft aus Konkurrenzgründen erforderlichen Markenvielfalt absieht, ist neben dem grundlegenden quantitativen und qualitativen Bedarf an Nahrung, Kleidung, Wohnung und Infrastruktur auch der darüberhinausgehende Bedarf an Konsum und Luxusgütern leicht zu erfassen. Die in der Marktwirtschaft in den Unternehmen parallel und in Konkurrenz zueinander praktizierte Vervielfachung der Planung, die zudem bezogen auf die gegeneinander gerichteten Auftragseingangsziele je nach Markterfolg einschließlich der erfolgten Investitionen in Produktion-, Logistik- und Verkaufseinrichtungen ständig revidiert und angepasst werden muss, entfällt in einem auf vergesellschafteten Produktionsmitteln gegründeten und gemeinschaftlich geplanten Produktionsverhältnis.
In einer Kooperation unter Gleichen bieten sich für grundsätzliche Entscheidungen verschiedene Formen basis- und rätedemokratischer Verfahren an, bei denen – ausgehend von Basiseinheiten auf lokaler Gemeinde- und Betriebsebene bis zu Organisationen für übergreifende gesellschaftliche Planungs- und Regelungsangelegenheiten – die Abgesandten an grundlegende Weisungen gebunden und jederzeit abrufbar sind. Da es natürlich nicht möglich und sinnvoll ist, dass jeder in jeder Sachfrage kompetent mitentscheidet, wird in vielen Fällen ein »grober Konsens« ausreichend sein, um Detailfragen verantwortlichen Abgesandten bzw. Experten zu überlassen. Im Gegensatz zur Marktwirtschaft, in der die individuelle Bereicherung die Maxime ist, ist in einer auf Gemeineigentum basierenden Gesellschaft auch bei Meinungsverschiedenheiten das einigende Band das gemeinsame Interesse, die für die gesellschaftliche Bedürfnisbefriedigung notwendige Arbeit effektiv zu organisieren.
In der Marktwirtschaft werden grundsätzliche gesellschaftspolitische Entscheidungen im Rahmen der demokratischen Parteienkonkurrenz darüber entschieden, dass die Bevölkerung in der Regel alle vier Jahre im wahrsten Sinne des Wortes ihre Stimme abgibt. Mit der Stimmabgabe sind die Vertreter der gewählten Partei ermächtigt, die für den marktwirtschaftlichen Erfolg der Nation erforderlichen Maßnahmen als ideeller Gesamtkapitalist umzusetzen. »Eine irgendwie geartete Möglichkeit, Einfluss auf den Inhalt der späteren Entscheidungen der Staatsgewalt zu nehmen, ist mit dieser Sympathiebekundung des Wählers für die Partei seiner Präferenz nicht verbunden. Aus der Wahl gehen nämlich auf jeden Fall Mandatsträger hervor, die nur ihrem eigenen Gewissen verpflichtet, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und damit ausdrücklich von der Bindung an den Wählerwillen freigesetzt sind (Artikel 38 Abs. 1 GG). ... Im Wahlkreuz ist jede individuelle Überlegung oder Erwartung, die den Wähler zu seiner Stimmabgabe bewegt haben mögen, ausgelöscht in dem Ja zu einer Partei und reduziert sich damit auf eine von seinen Interessen und Ansprüchen an die Politik getrennte Zustimmung zur politischen Herrschaft über ihn.«
(Albert Krölls, Das Grundgesetz – ein Grund zum Feiern?, 2009, S. 189f)
Die notwendige Arbeit
Grundprinzip einer auf der Grundlage gesellschaftlicher Produktionsmittel von den Produzenten bestimmten Produktionsweise wäre es, den für die Güterherstellung notwendigen Aufwand unter den Menschen, die diese Güter haben wollen, aufzuteilen. Grundprinzip der Marktwirtschaft ist, über den Kauf von Arbeitskräften andere für sich arbeiten zu lassen, um über die Differenz zwischen dem Preis der Arbeitskraft und den von ihr geschaffenen Werten den eigenen privaten Reichtum zu mehren. In der Marktwirtschaft ist das Interesse des Privatbesitzers der Produktionsmittel die Arbeitskräfte möglichst lange, intensiv und kostengünstig für sich arbeiten zu lassen. In der gemeingüterbasierten Produktionsweise relativiert der individuelle Aufwand, der zu leisten ist, den Nutzen der produzierten Güter und Dienste. Hier ist es daher zweckmäßig, den notwendigen Arbeitsaufwand wegzuautomatisieren, angenehmer zu gestalten (unterhaltsamer, interessanter, sicherer, leichter) oder soweit wie möglich, zu verkürzen.
In der Marktwirtschaft wird in Maschinen und Anlagen zur Erleichterung oder Automatisierung der Arbeit investiert, wenn das Verhältnis von Vor- zu Überschuss sich für den Unternehmer im Vergleich zu alternativen Investments lohnt. Wenn die Lohnkosten für die auf dem Arbeitsmarkt miteinander konkurrierenden Arbeitskräfte günstiger sind als die Investition in Maschinen, lohnt sich Automatisierung für die Unternehmen nicht. Sie würden gemessen an den billigen Arbeitskräften teurer produzieren und Gefahr laufen, gegenüber ihrer Konkurrenz, die auf Automatisierung verzichtet, ins Hintertreffen zu geraten. In der Marktwirtschaft sind bezogen auf die Entscheidung, wie der Arbeitsprozess organisiert wird, die Arbeitsmühe und der physische Verschleiß ökonomisch nicht relevant. »Bei der gemeinsamen Produktion sieht das ganz anders aus – wenn alle Mitglieder eines Peer-Projekts bestimmte Aufgaben vermeiden wollen, können sie erhebliche Anstrengungen auf sich nehmen, um sie los zu werden oder (wenn sich die Arbeit noch nicht wegautomatisieren lässt) sie zumindest weniger umfangreich oder weniger unangenehm zu machen. ... Dafür gibt es viele Möglichkeiten, ja nach Art der Aufgabe: unsichere Arbeitsbedingungen kann man sicherer machen; unbeliebte Arbeitszeiten können aufgegeben werden ... Zahlreiche Aufgaben können unterhaltsamer, interessanter oder anspruchsvoller gemacht werden als sie heute sind, wenn diejenigen, die die Aufgabe erledigen, auch entscheiden, wie sie erledigt wird – und für Peer-Projekte wird das der normale Modus sein.« (Christian Siefkes, Beitragen statt tauschen, S.26f) Darüber hinaus können in einer Kooperation unter Gleichen unangenehme Aufgaben, die nicht über verbesserte Arbeitsabläufe erleichtert oder verkürzt werden können, auch dadurch reduziert werden, dass man sie höher gewichtet. »Eine unangenehme Aufgabe wird angenehmer, wenn man weniger Zeit damit verbringen muss, so dass einem mehr Zeit für andere Aktivitäten verbleibt. ... Wenn ich mich entscheiden muss, ob ich eine vorgegebene Zeitspanne mit einer Aufgabe verbringe, die mir gefällt (sagen wir Programmieren), oder aber mit einer, die ich nicht mag (z.B. Müllabfuhr), wird mir die Wahl nicht schwerfallen. Aber wenn ich mich zwischen zwanzig Wochenstunden Programmieren und fünf Wochenstunden Müllabfuhr entscheiden muss, könnte meine Entscheidung anders ausfallen – die unbeliebte Tätigkeit ist plötzlich um einiges attraktiver geworden.« (Christian Siefkes, Beitragen statt tauschen, S.28f) Für den Zweck, die Konsumierendenperspektive der Gesellschaftsmitglieder (bestimmte Aufgaben sollen erledigt werden) mit ihrer Produzierendenperspektive (manche Aufgaben sind beliebt, andere weniger) in Einklang zu bringen, kann in einer Produktion unter Gleichen ein Aufgabenversteigerungssystem eingerichtet werden: »Dieses System listet alle zu erledigenden Aufgaben auf und ermöglicht es allen Projektmitgliedern, sich Aufgaben, die ihnen am besten gefallen, auszusuchen. Gibt es nicht genügend Freiwillige für eine Aufgabe, wird das Gewicht dieser Aufgabe erhöht: Wer diese Aufgabe übernimmt, muss weniger Zeit für das Projekt aufbringen. Umgekehrt wird das Gewicht von Aufgaben, für die sich mehr Freiwillige als nötig interessieren, reduziert – man muss also mehr Zeit für das Projekt aufbringen, wenn man sie übernehmen will. ... Die Beiträge zu einem Projekt werden also nicht einfach in Arbeitszeit, sondern in gewichteter Arbeitszeit gemessen. ... Ein solches Aufgabenversteigerungssystem stellt also sicher, dass alle relevanten Aufgaben übernommen werden und dass sich alle Projektmitglieder gemäß ihrer Präferenzen entscheiden können – niemand wird gezwungen etwas zu tun oder zu lassen.« (Christian Siefkes, Beitragen statt tauschen, S.29f. Bezüglich verschiedener denkbaren Varianten sowie der mathematischen Details der Auktionsmodelle vgl. ebenda S. 155ff)
Im Kapitalismus wird bezogen auf den Arbeitsmarkt auch niemand direkt gezwungen etwas zu tun oder zu lassen. Marktwirtschaftlich wird die notwendige Arbeit darüber verteilt, dass die mittellosen Arbeitskräfte auf dem Arbeitsmarkt um die Arbeitsplätze konkurrieren. Wer aus welchen Gründen auch immer keinen der attraktiven, gut bezahlten Arbeitsplätze bekommt, muss weniger attraktive Arbeit für wenig Geld verrichten. Da der Zugang zu Bildung wie alles in der Marktwirtschaft davon abhängig ist, über wie viel Geld jemand verfügt, erzeugt und manifestiert die kapitalistische Wirtschaftsordnung eine dem Geschäftsinteresse des Kapitals angemessene Trennung der Bevölkerung in qualifizierte und weniger qualifizierte, billige Arbeitskräfte. Wer Pech hat, keine lohnende Verwendung zu finden, lebt als Arbeitsloser neben den Reichtümern der Gesellschaft am Existenzminimum und außerhalb der reichsten Industriestaaten der Welt auch darunter. In einer Kooperation unter Gleichen, in der der für die Güterherstellung notwendige Aufwand unter den Menschen, die diese Güter haben wollen, aufgeteilt wird, bedeutet Arbeitslosigkeit schlicht, dass die zu verteilende notwendige Arbeit erledigt ist, und das Reich der Freizeit beginnt.
Die Koppelung zwischen Geben und Nehmen
In der globalisierten Marktwirtschaft ist auf der Grundlage des Privateigentums an Produktionsmitteln die Kopplung zwischen Geben und Nehmen darüber organisiert, dass ca. 10 % der Weltbevölkerung, die über 90 % der Reichtümer verfügen, mit dem Einsatz ihres Kapitals die Anderen für sich arbeiten lassen und so ihren Reichtum ständig vermehren. Da sämtliche produzierten Güter das Privateigentum der Produktionsmittelbesitzer sind, trennt die Menge des Geldes, über die jemand verfügt, die Bevölkerung in arm und reich. Selbst Dinge, die ohne zusätzlichen Aufwand teilbar sind, werden in der Marktwirtschaft prinzipiell zwecks geschäftlicher Verwertung vor fremder Benutzung geschützt (Betriebsgeheimnisse, Patente, copy right auf elektronische Medien, Software etc.). In einer Kooperation unter Gleichen wäre es dumm, Ideen und Wissen geheim zu halten, statt sie zu teilen. In einer gemeingüterbasierten Produktionsweise sind die Ressourcen und Produktionsmittel Gemeingüter ebenso wie die damit produzierten Güter, die man benutzt und die im Unterschied zum Eigentum bei Nichtbenutzung grundsätzlich an andere übergehen können. (Christian Siefkes, Ist Commonismus Kommunismus? Commonbasierte Peer-Produktion und der kommunistische Anspruch, in: Prokla, Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, Heft 155, 39. Jg., 2009, Nr. 2, S. 252f)
Ausgehend von einer Gesellschaftsform, die auf der Grundlage der Konkurrenz um die Macht des Geldes permanent Gründe für Angeberei, Lug und Trug, Mord und Totschlag liefert, wäre es jedoch naiv zu glauben, man könne die Kopplung zwischen Geben und Nehmen mit der Einführung des Gemeineigentums einfach nach dem Motto – »jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen« – organisieren. Auch in einer auf Gemeingüter basierenden Gesellschaft wird schließlich erwartet, dass die Mitglieder der Gesellschaft, die die bereitgestellten Güter und Dienste konsumieren, grundsätzlich etwas zu ihrer Produktion beitragen. Wie lässt sich in einer Kooperation unter Gleichen die Kopplung zwischen Geben und Nehmen organisieren?
Abhängig von den besonderen Eigenschaften der zu verteilenden Güter sind verschiedene Beitragsmodelle denkbar (vgl. hierzu Christian Siefkes, Beitragen statt tauschen, S.32ff):
»Die Kopplung zwischen Nehmen und Geben kommt dadurch zustande, dass Projekte den zur Güterproduktion nötigen Aufwand erfassen und anteilig an die Konsument/innen ihrer Güter weitergeben. Im Fall des proportionalen Allokationsmodells wird dabei erwartet, dass die Konsument/innen jeweils ihren Anteil des Produktionsaufwandes dem Pool »zurückgeben«, indem sie ihrerseits Aufgaben im gleichen Umfang für den Pool erledigen.«9 Die Arbeitszeit dient hier als Maß des individuellen Anteils des Produzenten an der Gemeinarbeit und daher auch an dem individuell verzehrbaren Teil des Gemeinprodukts. Der Produzent »erhält von der Gesellschaft einen Schein, dass er soundso viel Arbeit geliefert (nach Abzug seiner Arbeit für die gemeinschaftlichen Fonds), und zieht mit diesem Schein aus dem gesellschaftlichen Vorrat von Konsumtionsmitteln soviel heraus, als gleich viel Arbeit kostet. Dasselbe Quantum Arbeit, das er der Gesellschaft in einer Form gegeben hat, erhält er in der andern zurück.« (Karl Marx, Kritik des Gothaer Programms, MEW 19, S. 20) Die Ähnlichkeit zum Warentausch täuscht, denn »Inhalt und Form sind verändert, weil unter den veränderten Umständen niemand etwas geben kann außer seiner Arbeit und weil andrerseits nichts in das Eigentum der einzelnen übergehen kann außer individuellen Konsumtionsmitteln.« (Karl Marx, Kritik des Gothaer Programms, MEW 19, S. 20)
Beim Flatrate-Modell wird der Gesamtaufwand der Produktion ebenfalls auf die Gesamtheit der Konsumenten aufgeteilt, aber unabhängig von der individuellen Konsumtion. (Infrastruktur, Gesundheitswesen oder Nahrungsmittel). »In der Peer-Produktion bedeuten solche Modelle, dass alle Beteiligten etwa dasselbe beitragen (oder einen Mindestbetrag leisten) und dass ihnen im Gegenzug die Ergebnisse des Projekts zur freien Verfügung stehen.« (Christian Siefkes, Beitragen statt tauschen, S.35) Eine weitere Möglichkeit, Geben und Nehmen zu koppeln, besteht darin, statt Aufgaben Produkte zu versteigern. »Wenn es für ein bestimmtes Produkt mehr Nachfrage gibt als befriedigt werden kann, kann die Gesellschaft die relativen Kosten (den Umfang der erforderten Beiträge) dieses Produkts so lange erhöhen, bis sich genügend potentielle Interessenten umentscheiden (Aufwärtsversteigerung). ... ein Anstieg der relativen Kosten (benötigten Beiträge) für ein bestimmtes Produkt führt automatisch dazu, dass die relativen Kosten für alle anderen Produkte fallen ... Übernimmt also ein Gesellschaftsmitglied zusätzliche Aufgaben, um ein aufwärtsversteigertes Produkt zu erwerben, haben die anderen Gesellschaftsmitglieder entsprechend weniger zu tun – ihnen verbleibt mehr Zeit für andere Aktivitäten ...« (Christian Siefkes, Beitragen statt tauschen, S.39 Im Zitat wurde zur besseren Einordnung das Wort Projekt mit Gesellschaft ersetzt.)
Wenn mit der Einführung des Gemeineigentums der Gegensatz zwischen Verkäufer und Käufer, zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer erst einmal aufgehoben ist, wenn auf der Grundlage des gemeinsamen Zwecks der Gemeingüterproduktion sich eine Gesellschaft unter Gleichen entwickelt hat, nachdem also »die knechtende Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit, damit auch der Gegensatz geistiger und körperlicher Arbeit verschwunden ist; nachdem die Arbeit nicht nur Mittel zum Leben, sondern selbst das erste Lebensbedürfnis geworden; nachdem mit der allseitigen Entwicklung der Individuen auch ihre Produktivkräfte gewachsen und alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen - erst dann kann der enge bürgerliche Rechtshorizont ganz überschritten werden und die Gesellschaft auf ihre Fahne schreiben: jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!« (Karl Marx, Kritik des Gothaer Programms, MEW 19, S. 21)
Links
Christian Siefkes "Beitragen statt tauschen" als ganzes eBook: http://books.google.ch/books?id=usmCi9shwGoC&lpg=PP1&ots=kq_ZsKQsKE&dq=Christian%20Siefkes%20beitragen%20statt%20tauschen&pg=PA9#v=onepage&q&f=false
hier noch ein weiterer Artikel zum Thema: http://www.keimform.de/2011/wie-es-den-kapitalismus-zum-commonismus-treibt/
hier als pdf: http://www.whyhunger.com/deutsch/assets/eine-bessere-welt-ist-moeglich.pdf
Die vorherrschende Wirtschaftsordnung der führenden Industriemächte sorgt täglich unter dem Titel »Globalisierung« für die Sachzwänge, aufgrund derer außer »Hilfe zur Selbsthilfe« für die Verlierer der Konkurrenz beim besten Willen nichts zu machen ist. Welthunger, kein Zugang zu sauberem Wasser für ein Sechstel der Menschheit, bittere Armut und elende Arbeitsbedingungen sind trotz der Wunder der Technik des 21. Jahrhunderts zur Normalität der globalen Wirtschaftsordnung geworden. Nicht nur in den sogenannten Entwicklungsländern, sondern auch innerhalb der erfolgreichen Industrienationen zeugen die offiziellen Armutsberichte von der wachsenden Diskrepanz zwischen dem, was als Wohlstand der Nation im Bruttosozialprodukt bilanziert und als Pro-Kopf-Einkommen umgerechnet wird und dem, was die Mehrheit der Bevölkerung davon hat. Altersarmut, Kinderarmut, Arbeitslosigkeit, Einschnitte im Bildungswesen wie bei der medizinischen Versorgung sind aus wirtschaftlichen Gründen, zur Sicherung der nationalen Wettbewerbsfähigkeit, marktwirtschaftlich nicht zu vermeiden. Seit mehr als 200 Jahren versucht die Arbeiterbewegung vergeblich, den Kapitalismus zu zähmen. Es wird Zeit, seine Abschaffung zu fordern!
(Argumente gegen die Marktwirtschaft finden sich bei: Michael Heinrich, Kritik der politischen Ökonomie, Schmetterlingsverlag, 2005 sowie Hermann Lueer, Warum verhungern täglich 100.000 Menschen?, Edition Octopus, 4. Auflage 2010.)
Die Alternative ist im Prinzip banal. Statt auf der Grundlage des Privateigentums an Produktionsmitteln den Zweck der individuellen Bereicherung gelten zu lassen, wird auf der Grundlage gesellschaftlicher Produktionsmittel die individuelle Bedürfnisbefriedigung zum Zweck erhoben. Die Auswirkungen der geänderten Zwecksetzung sind dann alles andere als banal, was sich leicht daran studieren lässt, wie unterschiedlich Entscheidungsprozesse, Arbeit und Bedürfnisse im Kapitalismus im Vergleich zu in einer Gesellschaft jenseits von Ware, Geld, Kapital und Lohnarbeit vorkommen.
(Die Alternative zum Kapitalismus, die Frage, wie sich eine Gesellschaft jenseits von Markt und Kapital organisieren lässt, wurde von Karl Marx mit seinem Beispiel des »Vereins freier Menschen« nur kurz angerissen (vgl. hierzu Karl Marx, Das Kapital, Bd.1, S.92f sowie Kritik des Gothaer Programms, MEW 19, S. 19f). Umfassende Darstellungen wie sich jenseits von Markt und Kapital die Entscheidungsprozesse bezüglich der zu produzierenden Güter und Dienstleistungen organisieren lassen, wie sichergestellt werden kann, dass in einer auf Gemeingütern basierenden Gesellschaftsform die notwendigen Aufgaben erledigt werden und wie im Hinblick auf die Aufteilung der Produktionsergebnisse eine zufriedenstellende Kopplung zwischen Nehmen und Geben erreicht werden kann, finden sich bei: W. Paul Cockshott/Allin Cottrell, Towards a New Socialism, 1993; Alfred Fresin, Die bedürfnisorientierte Versorgungswirtschaft. Eine Alternative zur Marktwirtschaft, 2005 sowie Christian Siefkes, Beitragen statt tauschen. Materielle Produktion nach dem Modell Freier Software, 2008)
Der Entscheidungsprozess
Die Frage, welche Bedürfnisse relevant sind, um sie über einen gesellschaftlichen Produktionsprozess zu befriedigen, entscheidet in der Marktwirtschaft der Geldbeutel, über den jemand verfügt. Die Größe des Geldbeutels wiederum ergibt sich aus dem kapitalistischen Produktionsverhältnis, in dem eine Minderheit das Privateigentum an Produktionsmitteln nutzt, indem sie andere für sich arbeiten lässt und über die Ausnutzung der Differenz zwischen dem Preis der Arbeitskraft und dem durch ihre Anwendung geschaffenen Werten ihren Reichtum ständig vermehrt, während die Mehrheit der Bevölkerung in ihrer Mittellosigkeit jeden Tag erneut ihre eigene Arbeitskraft zum Markt tragen muss. Was produziert wird (Qualität), wie produziert wird (Arbeits- und Umweltbedingungen), für wen produziert wird (Verteilung), wo produziert wird (Trennung zwischen Zentrum und Peripherie) und ob überhaupt produziert wird (Krise), entscheidet sich im Kapitalismus auf dem Markt. Wenn genug zahlungsfähige Nachfrage vorhanden ist und es sich für den Besitzer der Produktionsmittel lohnt, dann ist nahezu alles möglich: vom hochwertigen Luxusgut bis zum »Gammelfleisch«. Dann sind Überstunden und Nachtschichten erforderlich, dann kann ohne Rücksicht auf Gesundheit und Freizeitinteressen nicht lange und intensiv genug gearbeitet werden. Wenn die Bedürfnisse nicht zahlungsfähig sind, verhungern in der Marktwirtschaft Millionen Menschen neben vorhandenen Ressourcen und Produktionsmitteln.
In einer auf vergesellschafteten Produktionsmitteln gegründeten Gesellschaft liegt demgegenüber die Kontrolle der Produktionsmittel in den Händen der Produzenten, nicht in der Hand einzelner Privateigentümer. Die Festlegung des Bedarfes der Bevölkerung in Relation der dafür zu leistenden Arbeit wird in einer Kooperation unter Gleichen durch die Bedürfnisse angetrieben, nicht durch den Profit. Der hierfür erforderliche gesellschaftliche Planungsaufwand für Materialbeschaffung, Produktion und Logistik verringert sich zudem im Vergleich zur Marktwirtschaft erheblich. Sobald man einen Moment von der in der Marktwirtschaft aus Konkurrenzgründen erforderlichen Markenvielfalt absieht, ist neben dem grundlegenden quantitativen und qualitativen Bedarf an Nahrung, Kleidung, Wohnung und Infrastruktur auch der darüberhinausgehende Bedarf an Konsum und Luxusgütern leicht zu erfassen. Die in der Marktwirtschaft in den Unternehmen parallel und in Konkurrenz zueinander praktizierte Vervielfachung der Planung, die zudem bezogen auf die gegeneinander gerichteten Auftragseingangsziele je nach Markterfolg einschließlich der erfolgten Investitionen in Produktion-, Logistik- und Verkaufseinrichtungen ständig revidiert und angepasst werden muss, entfällt in einem auf vergesellschafteten Produktionsmitteln gegründeten und gemeinschaftlich geplanten Produktionsverhältnis.
In einer Kooperation unter Gleichen bieten sich für grundsätzliche Entscheidungen verschiedene Formen basis- und rätedemokratischer Verfahren an, bei denen – ausgehend von Basiseinheiten auf lokaler Gemeinde- und Betriebsebene bis zu Organisationen für übergreifende gesellschaftliche Planungs- und Regelungsangelegenheiten – die Abgesandten an grundlegende Weisungen gebunden und jederzeit abrufbar sind. Da es natürlich nicht möglich und sinnvoll ist, dass jeder in jeder Sachfrage kompetent mitentscheidet, wird in vielen Fällen ein »grober Konsens« ausreichend sein, um Detailfragen verantwortlichen Abgesandten bzw. Experten zu überlassen. Im Gegensatz zur Marktwirtschaft, in der die individuelle Bereicherung die Maxime ist, ist in einer auf Gemeineigentum basierenden Gesellschaft auch bei Meinungsverschiedenheiten das einigende Band das gemeinsame Interesse, die für die gesellschaftliche Bedürfnisbefriedigung notwendige Arbeit effektiv zu organisieren.
In der Marktwirtschaft werden grundsätzliche gesellschaftspolitische Entscheidungen im Rahmen der demokratischen Parteienkonkurrenz darüber entschieden, dass die Bevölkerung in der Regel alle vier Jahre im wahrsten Sinne des Wortes ihre Stimme abgibt. Mit der Stimmabgabe sind die Vertreter der gewählten Partei ermächtigt, die für den marktwirtschaftlichen Erfolg der Nation erforderlichen Maßnahmen als ideeller Gesamtkapitalist umzusetzen. »Eine irgendwie geartete Möglichkeit, Einfluss auf den Inhalt der späteren Entscheidungen der Staatsgewalt zu nehmen, ist mit dieser Sympathiebekundung des Wählers für die Partei seiner Präferenz nicht verbunden. Aus der Wahl gehen nämlich auf jeden Fall Mandatsträger hervor, die nur ihrem eigenen Gewissen verpflichtet, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und damit ausdrücklich von der Bindung an den Wählerwillen freigesetzt sind (Artikel 38 Abs. 1 GG). ... Im Wahlkreuz ist jede individuelle Überlegung oder Erwartung, die den Wähler zu seiner Stimmabgabe bewegt haben mögen, ausgelöscht in dem Ja zu einer Partei und reduziert sich damit auf eine von seinen Interessen und Ansprüchen an die Politik getrennte Zustimmung zur politischen Herrschaft über ihn.«
(Albert Krölls, Das Grundgesetz – ein Grund zum Feiern?, 2009, S. 189f)
Die notwendige Arbeit
Grundprinzip einer auf der Grundlage gesellschaftlicher Produktionsmittel von den Produzenten bestimmten Produktionsweise wäre es, den für die Güterherstellung notwendigen Aufwand unter den Menschen, die diese Güter haben wollen, aufzuteilen. Grundprinzip der Marktwirtschaft ist, über den Kauf von Arbeitskräften andere für sich arbeiten zu lassen, um über die Differenz zwischen dem Preis der Arbeitskraft und den von ihr geschaffenen Werten den eigenen privaten Reichtum zu mehren. In der Marktwirtschaft ist das Interesse des Privatbesitzers der Produktionsmittel die Arbeitskräfte möglichst lange, intensiv und kostengünstig für sich arbeiten zu lassen. In der gemeingüterbasierten Produktionsweise relativiert der individuelle Aufwand, der zu leisten ist, den Nutzen der produzierten Güter und Dienste. Hier ist es daher zweckmäßig, den notwendigen Arbeitsaufwand wegzuautomatisieren, angenehmer zu gestalten (unterhaltsamer, interessanter, sicherer, leichter) oder soweit wie möglich, zu verkürzen.
In der Marktwirtschaft wird in Maschinen und Anlagen zur Erleichterung oder Automatisierung der Arbeit investiert, wenn das Verhältnis von Vor- zu Überschuss sich für den Unternehmer im Vergleich zu alternativen Investments lohnt. Wenn die Lohnkosten für die auf dem Arbeitsmarkt miteinander konkurrierenden Arbeitskräfte günstiger sind als die Investition in Maschinen, lohnt sich Automatisierung für die Unternehmen nicht. Sie würden gemessen an den billigen Arbeitskräften teurer produzieren und Gefahr laufen, gegenüber ihrer Konkurrenz, die auf Automatisierung verzichtet, ins Hintertreffen zu geraten. In der Marktwirtschaft sind bezogen auf die Entscheidung, wie der Arbeitsprozess organisiert wird, die Arbeitsmühe und der physische Verschleiß ökonomisch nicht relevant. »Bei der gemeinsamen Produktion sieht das ganz anders aus – wenn alle Mitglieder eines Peer-Projekts bestimmte Aufgaben vermeiden wollen, können sie erhebliche Anstrengungen auf sich nehmen, um sie los zu werden oder (wenn sich die Arbeit noch nicht wegautomatisieren lässt) sie zumindest weniger umfangreich oder weniger unangenehm zu machen. ... Dafür gibt es viele Möglichkeiten, ja nach Art der Aufgabe: unsichere Arbeitsbedingungen kann man sicherer machen; unbeliebte Arbeitszeiten können aufgegeben werden ... Zahlreiche Aufgaben können unterhaltsamer, interessanter oder anspruchsvoller gemacht werden als sie heute sind, wenn diejenigen, die die Aufgabe erledigen, auch entscheiden, wie sie erledigt wird – und für Peer-Projekte wird das der normale Modus sein.« (Christian Siefkes, Beitragen statt tauschen, S.26f) Darüber hinaus können in einer Kooperation unter Gleichen unangenehme Aufgaben, die nicht über verbesserte Arbeitsabläufe erleichtert oder verkürzt werden können, auch dadurch reduziert werden, dass man sie höher gewichtet. »Eine unangenehme Aufgabe wird angenehmer, wenn man weniger Zeit damit verbringen muss, so dass einem mehr Zeit für andere Aktivitäten verbleibt. ... Wenn ich mich entscheiden muss, ob ich eine vorgegebene Zeitspanne mit einer Aufgabe verbringe, die mir gefällt (sagen wir Programmieren), oder aber mit einer, die ich nicht mag (z.B. Müllabfuhr), wird mir die Wahl nicht schwerfallen. Aber wenn ich mich zwischen zwanzig Wochenstunden Programmieren und fünf Wochenstunden Müllabfuhr entscheiden muss, könnte meine Entscheidung anders ausfallen – die unbeliebte Tätigkeit ist plötzlich um einiges attraktiver geworden.« (Christian Siefkes, Beitragen statt tauschen, S.28f) Für den Zweck, die Konsumierendenperspektive der Gesellschaftsmitglieder (bestimmte Aufgaben sollen erledigt werden) mit ihrer Produzierendenperspektive (manche Aufgaben sind beliebt, andere weniger) in Einklang zu bringen, kann in einer Produktion unter Gleichen ein Aufgabenversteigerungssystem eingerichtet werden: »Dieses System listet alle zu erledigenden Aufgaben auf und ermöglicht es allen Projektmitgliedern, sich Aufgaben, die ihnen am besten gefallen, auszusuchen. Gibt es nicht genügend Freiwillige für eine Aufgabe, wird das Gewicht dieser Aufgabe erhöht: Wer diese Aufgabe übernimmt, muss weniger Zeit für das Projekt aufbringen. Umgekehrt wird das Gewicht von Aufgaben, für die sich mehr Freiwillige als nötig interessieren, reduziert – man muss also mehr Zeit für das Projekt aufbringen, wenn man sie übernehmen will. ... Die Beiträge zu einem Projekt werden also nicht einfach in Arbeitszeit, sondern in gewichteter Arbeitszeit gemessen. ... Ein solches Aufgabenversteigerungssystem stellt also sicher, dass alle relevanten Aufgaben übernommen werden und dass sich alle Projektmitglieder gemäß ihrer Präferenzen entscheiden können – niemand wird gezwungen etwas zu tun oder zu lassen.« (Christian Siefkes, Beitragen statt tauschen, S.29f. Bezüglich verschiedener denkbaren Varianten sowie der mathematischen Details der Auktionsmodelle vgl. ebenda S. 155ff)
Im Kapitalismus wird bezogen auf den Arbeitsmarkt auch niemand direkt gezwungen etwas zu tun oder zu lassen. Marktwirtschaftlich wird die notwendige Arbeit darüber verteilt, dass die mittellosen Arbeitskräfte auf dem Arbeitsmarkt um die Arbeitsplätze konkurrieren. Wer aus welchen Gründen auch immer keinen der attraktiven, gut bezahlten Arbeitsplätze bekommt, muss weniger attraktive Arbeit für wenig Geld verrichten. Da der Zugang zu Bildung wie alles in der Marktwirtschaft davon abhängig ist, über wie viel Geld jemand verfügt, erzeugt und manifestiert die kapitalistische Wirtschaftsordnung eine dem Geschäftsinteresse des Kapitals angemessene Trennung der Bevölkerung in qualifizierte und weniger qualifizierte, billige Arbeitskräfte. Wer Pech hat, keine lohnende Verwendung zu finden, lebt als Arbeitsloser neben den Reichtümern der Gesellschaft am Existenzminimum und außerhalb der reichsten Industriestaaten der Welt auch darunter. In einer Kooperation unter Gleichen, in der der für die Güterherstellung notwendige Aufwand unter den Menschen, die diese Güter haben wollen, aufgeteilt wird, bedeutet Arbeitslosigkeit schlicht, dass die zu verteilende notwendige Arbeit erledigt ist, und das Reich der Freizeit beginnt.
Die Koppelung zwischen Geben und Nehmen
In der globalisierten Marktwirtschaft ist auf der Grundlage des Privateigentums an Produktionsmitteln die Kopplung zwischen Geben und Nehmen darüber organisiert, dass ca. 10 % der Weltbevölkerung, die über 90 % der Reichtümer verfügen, mit dem Einsatz ihres Kapitals die Anderen für sich arbeiten lassen und so ihren Reichtum ständig vermehren. Da sämtliche produzierten Güter das Privateigentum der Produktionsmittelbesitzer sind, trennt die Menge des Geldes, über die jemand verfügt, die Bevölkerung in arm und reich. Selbst Dinge, die ohne zusätzlichen Aufwand teilbar sind, werden in der Marktwirtschaft prinzipiell zwecks geschäftlicher Verwertung vor fremder Benutzung geschützt (Betriebsgeheimnisse, Patente, copy right auf elektronische Medien, Software etc.). In einer Kooperation unter Gleichen wäre es dumm, Ideen und Wissen geheim zu halten, statt sie zu teilen. In einer gemeingüterbasierten Produktionsweise sind die Ressourcen und Produktionsmittel Gemeingüter ebenso wie die damit produzierten Güter, die man benutzt und die im Unterschied zum Eigentum bei Nichtbenutzung grundsätzlich an andere übergehen können. (Christian Siefkes, Ist Commonismus Kommunismus? Commonbasierte Peer-Produktion und der kommunistische Anspruch, in: Prokla, Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, Heft 155, 39. Jg., 2009, Nr. 2, S. 252f)
Ausgehend von einer Gesellschaftsform, die auf der Grundlage der Konkurrenz um die Macht des Geldes permanent Gründe für Angeberei, Lug und Trug, Mord und Totschlag liefert, wäre es jedoch naiv zu glauben, man könne die Kopplung zwischen Geben und Nehmen mit der Einführung des Gemeineigentums einfach nach dem Motto – »jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen« – organisieren. Auch in einer auf Gemeingüter basierenden Gesellschaft wird schließlich erwartet, dass die Mitglieder der Gesellschaft, die die bereitgestellten Güter und Dienste konsumieren, grundsätzlich etwas zu ihrer Produktion beitragen. Wie lässt sich in einer Kooperation unter Gleichen die Kopplung zwischen Geben und Nehmen organisieren?
Abhängig von den besonderen Eigenschaften der zu verteilenden Güter sind verschiedene Beitragsmodelle denkbar (vgl. hierzu Christian Siefkes, Beitragen statt tauschen, S.32ff):
»Die Kopplung zwischen Nehmen und Geben kommt dadurch zustande, dass Projekte den zur Güterproduktion nötigen Aufwand erfassen und anteilig an die Konsument/innen ihrer Güter weitergeben. Im Fall des proportionalen Allokationsmodells wird dabei erwartet, dass die Konsument/innen jeweils ihren Anteil des Produktionsaufwandes dem Pool »zurückgeben«, indem sie ihrerseits Aufgaben im gleichen Umfang für den Pool erledigen.«9 Die Arbeitszeit dient hier als Maß des individuellen Anteils des Produzenten an der Gemeinarbeit und daher auch an dem individuell verzehrbaren Teil des Gemeinprodukts. Der Produzent »erhält von der Gesellschaft einen Schein, dass er soundso viel Arbeit geliefert (nach Abzug seiner Arbeit für die gemeinschaftlichen Fonds), und zieht mit diesem Schein aus dem gesellschaftlichen Vorrat von Konsumtionsmitteln soviel heraus, als gleich viel Arbeit kostet. Dasselbe Quantum Arbeit, das er der Gesellschaft in einer Form gegeben hat, erhält er in der andern zurück.« (Karl Marx, Kritik des Gothaer Programms, MEW 19, S. 20) Die Ähnlichkeit zum Warentausch täuscht, denn »Inhalt und Form sind verändert, weil unter den veränderten Umständen niemand etwas geben kann außer seiner Arbeit und weil andrerseits nichts in das Eigentum der einzelnen übergehen kann außer individuellen Konsumtionsmitteln.« (Karl Marx, Kritik des Gothaer Programms, MEW 19, S. 20)
Beim Flatrate-Modell wird der Gesamtaufwand der Produktion ebenfalls auf die Gesamtheit der Konsumenten aufgeteilt, aber unabhängig von der individuellen Konsumtion. (Infrastruktur, Gesundheitswesen oder Nahrungsmittel). »In der Peer-Produktion bedeuten solche Modelle, dass alle Beteiligten etwa dasselbe beitragen (oder einen Mindestbetrag leisten) und dass ihnen im Gegenzug die Ergebnisse des Projekts zur freien Verfügung stehen.« (Christian Siefkes, Beitragen statt tauschen, S.35) Eine weitere Möglichkeit, Geben und Nehmen zu koppeln, besteht darin, statt Aufgaben Produkte zu versteigern. »Wenn es für ein bestimmtes Produkt mehr Nachfrage gibt als befriedigt werden kann, kann die Gesellschaft die relativen Kosten (den Umfang der erforderten Beiträge) dieses Produkts so lange erhöhen, bis sich genügend potentielle Interessenten umentscheiden (Aufwärtsversteigerung). ... ein Anstieg der relativen Kosten (benötigten Beiträge) für ein bestimmtes Produkt führt automatisch dazu, dass die relativen Kosten für alle anderen Produkte fallen ... Übernimmt also ein Gesellschaftsmitglied zusätzliche Aufgaben, um ein aufwärtsversteigertes Produkt zu erwerben, haben die anderen Gesellschaftsmitglieder entsprechend weniger zu tun – ihnen verbleibt mehr Zeit für andere Aktivitäten ...« (Christian Siefkes, Beitragen statt tauschen, S.39 Im Zitat wurde zur besseren Einordnung das Wort Projekt mit Gesellschaft ersetzt.)
Wenn mit der Einführung des Gemeineigentums der Gegensatz zwischen Verkäufer und Käufer, zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer erst einmal aufgehoben ist, wenn auf der Grundlage des gemeinsamen Zwecks der Gemeingüterproduktion sich eine Gesellschaft unter Gleichen entwickelt hat, nachdem also »die knechtende Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit, damit auch der Gegensatz geistiger und körperlicher Arbeit verschwunden ist; nachdem die Arbeit nicht nur Mittel zum Leben, sondern selbst das erste Lebensbedürfnis geworden; nachdem mit der allseitigen Entwicklung der Individuen auch ihre Produktivkräfte gewachsen und alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen - erst dann kann der enge bürgerliche Rechtshorizont ganz überschritten werden und die Gesellschaft auf ihre Fahne schreiben: jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!« (Karl Marx, Kritik des Gothaer Programms, MEW 19, S. 21)
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Christian Siefkes "Beitragen statt tauschen" als ganzes eBook: http://books.google.ch/books?id=usmCi9shwGoC&lpg=PP1&ots=kq_ZsKQsKE&dq=Christian%20Siefkes%20beitragen%20statt%20tauschen&pg=PA9#v=onepage&q&f=false
hier noch ein weiterer Artikel zum Thema: http://www.keimform.de/2011/wie-es-den-kapitalismus-zum-commonismus-treibt/
Warum verhungern täglich 100'000 Menschen?
Das Buch "Warum verhungern täglich 100'000 Menschen?" gibts hier bei books.google.com: http://books.google.com/books?id=dgGPSKaJE6wC&lpg=PP1&dq=warum%20verhunger%20t%C3%A4glich%20menschen&hl=de&pg=PA9#v=onepage&q&f=false
Es gibt alles …
die berühmten Agrarüberschüsse: Milchseen, Fleischberge und sogar Fördermittel, um Ackerland in Brachland umzuwandeln. Die Wunder der Technik: Von der fortgeschrittenen Medizintechnik über die weltweite Kommunikation im Internet bis hin zur Raumfahrt ist heute fast alles machbar. Die grenzenlosen Konsummöglichkeiten: Alle Verrücktheiten können befriedigt werden, millionenschwere Motorjachten, der edle Diamant an der Sandale bis hin zum Picasso Gemälde für 100 Mio. $.
... aber für viele nichts:
Mehr als eine Milliarde Menschen weltweit trinken nach UN-Angaben verschmutztes Wasser und 40 Prozent der Weltbevölkerung haben keinen Zugang zu angemessenen Sanitäranlagen. Mit dem Ausdruck Welthunger wird die dramatische Situation beschrieben, dass derzeit rund 950 Millionen Menschen von Hunger und Unterernährung betroffen sind. Jeden Tag verhungern bis zu 100.000 Menschen oder sterben an den Folgen chronischer Unterernährung.
Offensichtlich ist jede Verrücktheit, die man bezahlen kann, wichtiger als das elementarste Bedürfnis. Verhungern, Trinkwassermangel, Analphabetentum, Straßenkinder, Altersarmut etc. sind im 21. Jahrhundert keine Naturgegebenheit, sondern neben den vorhandenen Reichtümern eine Begleiterscheinung der erfolgeichen globalen Marktwirtschaft. Es ist nicht so, dass die führenden marktwirtschaftlich organisierten Industrienationen technologisch nicht in der Lage wären, die Weltbevölkerung zu ernähren. Offensichtlich gibt es Gründe, warum dies nicht gewollt wird.
... mehr dazu: http://www.whyhunger.com/deutsch/warum-verhungern-taeglich-100000-menschen/index.html
oder eben hier das eBook:
Es gibt alles …
die berühmten Agrarüberschüsse: Milchseen, Fleischberge und sogar Fördermittel, um Ackerland in Brachland umzuwandeln. Die Wunder der Technik: Von der fortgeschrittenen Medizintechnik über die weltweite Kommunikation im Internet bis hin zur Raumfahrt ist heute fast alles machbar. Die grenzenlosen Konsummöglichkeiten: Alle Verrücktheiten können befriedigt werden, millionenschwere Motorjachten, der edle Diamant an der Sandale bis hin zum Picasso Gemälde für 100 Mio. $.
... aber für viele nichts:
Mehr als eine Milliarde Menschen weltweit trinken nach UN-Angaben verschmutztes Wasser und 40 Prozent der Weltbevölkerung haben keinen Zugang zu angemessenen Sanitäranlagen. Mit dem Ausdruck Welthunger wird die dramatische Situation beschrieben, dass derzeit rund 950 Millionen Menschen von Hunger und Unterernährung betroffen sind. Jeden Tag verhungern bis zu 100.000 Menschen oder sterben an den Folgen chronischer Unterernährung.
Offensichtlich ist jede Verrücktheit, die man bezahlen kann, wichtiger als das elementarste Bedürfnis. Verhungern, Trinkwassermangel, Analphabetentum, Straßenkinder, Altersarmut etc. sind im 21. Jahrhundert keine Naturgegebenheit, sondern neben den vorhandenen Reichtümern eine Begleiterscheinung der erfolgeichen globalen Marktwirtschaft. Es ist nicht so, dass die führenden marktwirtschaftlich organisierten Industrienationen technologisch nicht in der Lage wären, die Weltbevölkerung zu ernähren. Offensichtlich gibt es Gründe, warum dies nicht gewollt wird.
... mehr dazu: http://www.whyhunger.com/deutsch/warum-verhungern-taeglich-100000-menschen/index.html
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Donnerstag, 10. März 2011
We've privatized the gains and socialized the losses — Nouriel Roubini
Auf ZDF anschauen:
http://www.zdf.de/ZDFmediathek/beitrag/video/800836/F21-Dokumentation-Das-Milliardenspiel#/beitrag/video/800836/F21-Dokumentation-Das-Milliardenspiel
Dienstag, 8. März 2011
100 Things Challenge
Leben mit nur 100 Sachen:
"The 100 Thing Challenge has been a way to personalize my efforts to fight American-style consumerism and live a life of simplicity, characterized by joyfulness and thoughtfulness."
- http://guynameddave.com/about-the-100-thing-challenge/
Sonntag, 6. März 2011
Coalition Of The Willing from coalitionfilm on Vimeo.
'Coalition of the Willing' is a collaborative animated film and web-based event about an online war against global warming in a 'post Copenhagen' world.
The film offers a response to the major problem of our time: how to galvanize and enlist the global publics in the fight against global warming. This optimistic and principled film explores how we could use new Internet technologies to leverage the powers of activists, experts, and ordinary citizens in collaborative ventures to combat climate change. Through analyses of swarm activity and social revolution, 'Coalition of the Willing' makes a compelling case for the new online activism and explains how to hand the fight against global warming to the people.
Freitag, 4. März 2011
Zuma vergeudet Steuergelder
Scharfe Kritik der südafrikanischen Opposition
NZZ, 3.3.2011
Thomas Knemeyer, Kapstadt
Der südafrikanische Präsident Zuma betont, sein Land könne überhaupt nicht mit Tunesien verglichen werden. Aber Verschwendung und Korruption lassen Zweifel an der Stabilität Südafrikas aufkommen.
Der südafrikanische Präsident Jacob Zuma hat bestritten, dass Südafrika in einigen Jahren eine ähnliche Revolte erleben könnte, wie sie jetzt arabische Länder erfasst hat. In seinem Land, sagte Zuma, werde niemand unterdrückt, jeder habe das Recht auf Meinungsfreiheit und freie Stimmabgabe. «Es wird in Südafrika niemals einen Umsturz wie in Tunesien geben. Dies ist unmöglich», erklärte Zuma.
Kritik Moeletsi Mbekis
Der südafrikanische Präsident reagierte damit auf eine Warnung des Regierungskritikers Moeletsi Mbeki, der ein Bruder des früheren Präsidenten Thabo Mbeki ist. Moeletsi Mbeki hatte in einem aufsehenerregenden Artikel im Februar erklärt, in etwa einem Jahrzehnt werde dem Staat das Geld ausgehen. Der seit 1994 regierende African National Congress (ANC) habe vor vier Jahren die Lebensmittelsicherheit des Landes preisgegeben, für Millionen von Einwanderern die Grenzen geöffnet und eine unbezahlbare Kultur des Anspruchsdenkens gefördert. Der Staat verteile gut dotierte Arbeitsplätze an Parteigänger des ANC und besänftige Millionen von Armen mit Wohlfahrtsgeschenken.
Die jüngsten Wirtschaftszahlen untermauern diese Sorge. Von 50 Millionen Südafrikanern haben nur 13 Millionen einen Job; von ihnen finden 4 Millionen im informellen Sektor ein bescheidenes Auskommen. Auf 6 Millionen erfasste Steuerzahler kommen in diesem Jahr bereits 15 Millionen Empfänger von Sozialleistungen, die meisten von ihnen Eltern, die Kindergeld erhalten. Der Staat verteilt das Geld mit vollen Händen. Beamte beziehen deutlich höhere Gehälter, als in der Privatwirtschaft für vergleichbare Tätigkeiten gezahlt werden.
Auf der höchsten staatlichen Ebene herrschen phantastische Zustände. In Zumas Regierung tummeln sich 68 Minister und Staatssekretäre, von denen jeder im Schnitt umgerechnet jährlich 150 000 Franken verdient. Aber damit ist die Largesse des ANC noch längst nicht erschöpft. Wie die oppositionelle Democratic Alliance akribisch aufzählt, hat der Staat seit Zumas Amtsantritt im Mai 2009 nicht weniger als 3,82 Milliarden Rand verschleudert, verschwendet oder verschenkt, umgerechnet rund 510 Millionen Franken. Auf der Website everyrandcounts.org lässt sich Punkt für Punkt nachlesen, wie Unsummen vergeudet werden. Für neue Dienstwagen der Minister lässt der Staat 69 Millionen Rand springen. Unterhalb der Kategorie «Luxusklasse A1» geht es nicht. Damit sind unter anderem Mercedes der S-Klasse und Topmodelle von Audi und Land Rover gemeint.
Viel Geld für Hotelaufenthalte
Zuma hat auch verlangt, dass für seine drei First Ladies - Zuma ist praktizierender Polygamist - in allen neun Provinzen des Landes ständig eine Limousine zur Verfügung stehe. Die fünf offiziellen Residenzen des Präsidenten werden innerhalb der nächsten drei Jahre für 191 Millionen Rand renoviert, obwohl das vor sechs Jahren von seinem Amtsvorgänger Mbeki schon einmal vorgenommen wurde. Überhaupt genügen ein paar Risse in einer ministeriellen Residenz - und schon wird die Villa als baufällig deklariert. Der Minister lebt dann monatelang in der Suite eines Luxushotels. Kostenpunkt für Renovationen und Hotelaufenthalte: 167 Millionen.
Jeder Minister hat Anspruch auf zwei Residenzen - eine in Kapstadt, wo das Parlament tagt, eine in Pretoria, dem Regierungssitz. Das streng abgeschirmte Regierungsviertel in Pretoria heisst Bryntirion. Hier werden Zuma und seine Minister bedient und bewacht. Demnächst sollen sie das exklusive Areal auch im Krankheitsfall nicht mehr verlassen müssen. Das Militär wurde soeben beauftragt, bis 2013 für 63 Millionen ein Spital zu errichten. das nur für die Elite zuständig ist. Alles in allem, kündigte der Finanzminister in der vergangenen Woche an, werde man in Bryntirion in den kommenden drei Jahren 356 Millionen Rand ausgeben.
Bezeichnenderweise geniesst der Sicherheitsaspekt Vorrang. Minister im friedlichen Südafrika werden heutzutage ungleich besser geschützt als ihre Vorgänger vor 25 Jahren, als bürgerkriegsähnliche Zustände die Grossstädte des Landes erschütterten. Selbstgefällig und frei von Gewissensbissen rücken Provinzpremiers und Minister grosse und völlig überflüssige Anzeigen in Südafrikas Zeitungen ein. Es handelt sich meistens um eitle Selbstbeweihräucherungen, allerdings mit 20 Millionen Rand vom Steuerzahler finanziert. Für üppige Empfänge, Partys und fragwürdige Konferenzen werden weitere 161 Millionen berappt. Dazu gehört selbstverständlich immer ein reichhaltiges Buffet.
Gefährliches Spiel
Schliesslich bleibt man auch alten Weggefährten aus dunklen Widerstandszeiten dankbar. Kuba wurde die Restschuld von 1,4 Milliarden Rand erlassen. Der «African Renaissance Fund» erhielt 770 Millionen - zu welchem Zweck, ist unklar geblieben. In der armen Provinz Ostkap mangelt es unterdessen an Schulbroten, es drohen erneut Stromausfälle, und die Warteliste beim sozialen Wohnungsbau geht in die Hunderttausende. Moeletsi Mbeki meint, die Chefs des ANC seien wie Kinder, die mit einer Handgranate spielten. Eines Tages werde sie explodieren.
NZZ, 3.3.2011
Thomas Knemeyer, Kapstadt
Der südafrikanische Präsident Zuma betont, sein Land könne überhaupt nicht mit Tunesien verglichen werden. Aber Verschwendung und Korruption lassen Zweifel an der Stabilität Südafrikas aufkommen.
Der südafrikanische Präsident Jacob Zuma hat bestritten, dass Südafrika in einigen Jahren eine ähnliche Revolte erleben könnte, wie sie jetzt arabische Länder erfasst hat. In seinem Land, sagte Zuma, werde niemand unterdrückt, jeder habe das Recht auf Meinungsfreiheit und freie Stimmabgabe. «Es wird in Südafrika niemals einen Umsturz wie in Tunesien geben. Dies ist unmöglich», erklärte Zuma.
Kritik Moeletsi Mbekis
Der südafrikanische Präsident reagierte damit auf eine Warnung des Regierungskritikers Moeletsi Mbeki, der ein Bruder des früheren Präsidenten Thabo Mbeki ist. Moeletsi Mbeki hatte in einem aufsehenerregenden Artikel im Februar erklärt, in etwa einem Jahrzehnt werde dem Staat das Geld ausgehen. Der seit 1994 regierende African National Congress (ANC) habe vor vier Jahren die Lebensmittelsicherheit des Landes preisgegeben, für Millionen von Einwanderern die Grenzen geöffnet und eine unbezahlbare Kultur des Anspruchsdenkens gefördert. Der Staat verteile gut dotierte Arbeitsplätze an Parteigänger des ANC und besänftige Millionen von Armen mit Wohlfahrtsgeschenken.
Die jüngsten Wirtschaftszahlen untermauern diese Sorge. Von 50 Millionen Südafrikanern haben nur 13 Millionen einen Job; von ihnen finden 4 Millionen im informellen Sektor ein bescheidenes Auskommen. Auf 6 Millionen erfasste Steuerzahler kommen in diesem Jahr bereits 15 Millionen Empfänger von Sozialleistungen, die meisten von ihnen Eltern, die Kindergeld erhalten. Der Staat verteilt das Geld mit vollen Händen. Beamte beziehen deutlich höhere Gehälter, als in der Privatwirtschaft für vergleichbare Tätigkeiten gezahlt werden.
Auf der höchsten staatlichen Ebene herrschen phantastische Zustände. In Zumas Regierung tummeln sich 68 Minister und Staatssekretäre, von denen jeder im Schnitt umgerechnet jährlich 150 000 Franken verdient. Aber damit ist die Largesse des ANC noch längst nicht erschöpft. Wie die oppositionelle Democratic Alliance akribisch aufzählt, hat der Staat seit Zumas Amtsantritt im Mai 2009 nicht weniger als 3,82 Milliarden Rand verschleudert, verschwendet oder verschenkt, umgerechnet rund 510 Millionen Franken. Auf der Website everyrandcounts.org lässt sich Punkt für Punkt nachlesen, wie Unsummen vergeudet werden. Für neue Dienstwagen der Minister lässt der Staat 69 Millionen Rand springen. Unterhalb der Kategorie «Luxusklasse A1» geht es nicht. Damit sind unter anderem Mercedes der S-Klasse und Topmodelle von Audi und Land Rover gemeint.
Viel Geld für Hotelaufenthalte
Zuma hat auch verlangt, dass für seine drei First Ladies - Zuma ist praktizierender Polygamist - in allen neun Provinzen des Landes ständig eine Limousine zur Verfügung stehe. Die fünf offiziellen Residenzen des Präsidenten werden innerhalb der nächsten drei Jahre für 191 Millionen Rand renoviert, obwohl das vor sechs Jahren von seinem Amtsvorgänger Mbeki schon einmal vorgenommen wurde. Überhaupt genügen ein paar Risse in einer ministeriellen Residenz - und schon wird die Villa als baufällig deklariert. Der Minister lebt dann monatelang in der Suite eines Luxushotels. Kostenpunkt für Renovationen und Hotelaufenthalte: 167 Millionen.
Jeder Minister hat Anspruch auf zwei Residenzen - eine in Kapstadt, wo das Parlament tagt, eine in Pretoria, dem Regierungssitz. Das streng abgeschirmte Regierungsviertel in Pretoria heisst Bryntirion. Hier werden Zuma und seine Minister bedient und bewacht. Demnächst sollen sie das exklusive Areal auch im Krankheitsfall nicht mehr verlassen müssen. Das Militär wurde soeben beauftragt, bis 2013 für 63 Millionen ein Spital zu errichten. das nur für die Elite zuständig ist. Alles in allem, kündigte der Finanzminister in der vergangenen Woche an, werde man in Bryntirion in den kommenden drei Jahren 356 Millionen Rand ausgeben.
Bezeichnenderweise geniesst der Sicherheitsaspekt Vorrang. Minister im friedlichen Südafrika werden heutzutage ungleich besser geschützt als ihre Vorgänger vor 25 Jahren, als bürgerkriegsähnliche Zustände die Grossstädte des Landes erschütterten. Selbstgefällig und frei von Gewissensbissen rücken Provinzpremiers und Minister grosse und völlig überflüssige Anzeigen in Südafrikas Zeitungen ein. Es handelt sich meistens um eitle Selbstbeweihräucherungen, allerdings mit 20 Millionen Rand vom Steuerzahler finanziert. Für üppige Empfänge, Partys und fragwürdige Konferenzen werden weitere 161 Millionen berappt. Dazu gehört selbstverständlich immer ein reichhaltiges Buffet.
Gefährliches Spiel
Schliesslich bleibt man auch alten Weggefährten aus dunklen Widerstandszeiten dankbar. Kuba wurde die Restschuld von 1,4 Milliarden Rand erlassen. Der «African Renaissance Fund» erhielt 770 Millionen - zu welchem Zweck, ist unklar geblieben. In der armen Provinz Ostkap mangelt es unterdessen an Schulbroten, es drohen erneut Stromausfälle, und die Warteliste beim sozialen Wohnungsbau geht in die Hunderttausende. Moeletsi Mbeki meint, die Chefs des ANC seien wie Kinder, die mit einer Handgranate spielten. Eines Tages werde sie explodieren.
Mittwoch, 2. März 2011
Dienstag, 1. März 2011
Die vergessene Ölpest
Während die Weltöffentlichkeit gebannt auf die BP-Katastrophe im Golf von Mexiko starrt, gehört die Ölpest in Nigeria zum Alltag.
Wie Blutspuren ziehen sich die braunen Flecken den einsamen Strand beim Fischerdorf Iwuo-Okpom entlang. Erdöl treibt die Wirtschaft Nigerias an und macht seine Strände kaputt. Regelmässig schwappt es an Land, sagen die Dorfbewohner, ruiniert ihren Fang und ihren kargen Lebensunterhalt.
Während die Weltöffentlichkeit gebannt auf die BP-Katastrophe im Golf von Mexiko starrt, gehört die Ölpest in Nigeria zum Alltag. Seit 50 Jahren fördern hier ausländische Konzerne das leicht zu raffinierende nigerianische Öl. Nach Schätzung von Umweltschützern sind seither zwei Milliarden Liter davon ins Nigerdelta geflossen - das ist ungefähr einem Tankerunglück wie bei der «Exxon Valdez» jährlich vergleichbar.
Schwarzes Rohöl verpestet die Sümpfe, die Mangroven und Wasserläufe im Nigerdelta, ein Gebiet etwa so gross wie Portugal. Doch wer ist verantwortlich, wer müsste saubermachen? Die Antworten sind so trübe wie das Wasser.
6800 Ölunfälle in 25 Jahren
«Sie zahlen, wenn in ihrem eigenen Land etwas ausläuft. Alle diese Ölfirmen kommen aus Ländern der Weissen», sagt Pastor Samuel Ayadi, der für die Fischer spricht. «Aber in unserem Land, da lassen sie die Fischer leiden.»
Nigerias Aufstieg zur Ölmacht begann 1956 mit der ersten erfolgreichen Bohrung von Royal Dutch Shell im Nigerdelta. Andere Konzerne folgten, darunter Chevron und Exxon Mobil, Total und Eni. Alle arbeiten mit der staatlichen nigerianischen Ölgesellschaft zusammen.
Die OPEC beziffert die tägliche Fördermenge auf zwei Millionen Barrel. Nach amtlichen Angaben gab es in Nigeria von 1976 bis 2001 6800 Ölunfälle, bei denen fast 500 Millionen Liter beziehungsweise drei Millionen Barrel Öl ausliefen. Umweltschützern zufolge ist darin noch nicht die Menge enthalten, die in entlegenen und gefährlichen Gebieten sowie bei Überfällen Radikaler austritt, die ein grösseres Stück des Kuchens für die Deltaregion fordern.
«Alles wird schwarz»
Von Iwuo-Okpom aus, einem Küstenort mit 7.000 Einwohnern, ist am Horizont eine winzige Flamme zu sehen: eine Bohrinsel von Exxon Mobil. Hier an der Atlantikküste kam es im Januar 1998 zu einem der schwersten Ölunfälle Nigerias, als aus einer geborstenen Mobil-Pipeline sechs Millionen Liter ins Meer liefen. Der Ölteppich breitete sich bis zur 200 Kilometer entfernten Millionenstadt Lagos aus.
Tade Amuwa räuchert in Iwuo-Okpom Fische. Die in Ortsnähe gefangenen liessen sich schlecht verarbeiten, klagt die 35-Jährige. «All das Zeug, alles wird schwarz», sagt sie und zeigt auf öldurchtränktes Treibholz und mickrige, verfärbte Fische.
Die nigerianische Tochterfirma von Exxon Mobil erklärt, sie habe Ölflecken der letzten Zeit mit Lösungsmitteln besprüht, doch sei «bedauerlicherweise etwas Öl an die Küstengebiete gelangt». Auch seien den Einheimischen Arbeitsverträge angeboten worden, beim Säubern zu helfen. Die Dorfältesten sagen, sie wüssten nichts davon.
Keine Vögel, keine Fische
Über 7000 Kilometer Pipelines laufen durch das Delta, manche jahrzehntealt, verrostet und anfällig. Nicht alle Öllecks sind den Konzernen anzulasten. Seit 2006 greifen militante Gruppen die Leitungen an, verschleppen Ölarbeiter und kämpfen gegen Regierungssoldaten. Aus Furcht vor Überfällen und Entführungen zögern die Firmen, Personal zu den Lecks zu schicken. Häufig sind die Beschäftigten auf die Bohrinseln oder militärisch bewachte Unterkünfte beschränkt.
Im Ogoniland probten die Einheimischen in den 90er Jahren den Aufstand und verjagten die Ölfirmen. Doch immer noch verlaufen Shell-Pipelines durch das Sumpfgebiet im Delta. In Bodo City im Ogoniland triefen bei Ebbe die freiliegenden Mangrovenwurzeln vor Öl. Es gibt keine Vögel am Himmel, keine Fische im Wasser. «Die sind eingegangen», sagt Mike Vipene, ein Jugendvertreter des Orts. «Die kommen nicht wieder.»
Raffinerie im Busch
Die Einheimischen geben einer lecken Shell-Pipeline die Schuld. Das Unternehmen möchte sich zu Einzelfällen nicht äussern. Einem Umweltbericht der Firma zufolge waren nahezu alle Fälle austretenden Öls vergangenes Jahr, über 15 Millionen Liter, auf Sabotage zurückzuführen.
In entlegenen Gegenden werden Pipelines öfters von kriminellen Banden angezapft. Amtlichen Schätzungen zufolge stehlen sie bis zu 15 Prozent des Öls aus dem Delta. Es wird für den Schwarzmarkt verschifft oder gleich im Busch raffiniert und am Strassenrand als Treibstoff verscherbelt. Das Motiv der Diebe ist ganz einfach, sagt Young Kibara von der Bewegung für das Überleben des Ogoni-Volks: «Armut - jeder will überleben.»
Vom Konflikt zur Krise zum Krieg
Im Gegensatz zu den Diebstählen haben die Überfälle in den vergangenen Monaten nach einem Amnestieangebot der Regierung nachgelassen. Der neue Präsident Goodluck Jonathan stammt selbst aus dem Delta und hat versprochen, sich vorrangig um eine Friedenslösung zu kümmern. Doch die Amnestie scheint an Zugkraft zu verlieren, und die vom Öl Betroffenen verlangen weiterhin Entschädigung.
Der Dorfvorsteher von Iwuo-Okpom, Okon Sunday, verlangt von Exxon Mobil Milliardensummen für seine Gemeinde. Wenn die Entschädigungsforderungen nicht ernst genommen würden, werde das unausweichlich zu Gewalt führen, warnt er: «Da wird ein Konflikt zur Krise, eine Krise zum richtigen Krieg.»
(jak/Jon Gambrell, dapd)
Wie Blutspuren ziehen sich die braunen Flecken den einsamen Strand beim Fischerdorf Iwuo-Okpom entlang. Erdöl treibt die Wirtschaft Nigerias an und macht seine Strände kaputt. Regelmässig schwappt es an Land, sagen die Dorfbewohner, ruiniert ihren Fang und ihren kargen Lebensunterhalt.
Während die Weltöffentlichkeit gebannt auf die BP-Katastrophe im Golf von Mexiko starrt, gehört die Ölpest in Nigeria zum Alltag. Seit 50 Jahren fördern hier ausländische Konzerne das leicht zu raffinierende nigerianische Öl. Nach Schätzung von Umweltschützern sind seither zwei Milliarden Liter davon ins Nigerdelta geflossen - das ist ungefähr einem Tankerunglück wie bei der «Exxon Valdez» jährlich vergleichbar.
Schwarzes Rohöl verpestet die Sümpfe, die Mangroven und Wasserläufe im Nigerdelta, ein Gebiet etwa so gross wie Portugal. Doch wer ist verantwortlich, wer müsste saubermachen? Die Antworten sind so trübe wie das Wasser.
6800 Ölunfälle in 25 Jahren
«Sie zahlen, wenn in ihrem eigenen Land etwas ausläuft. Alle diese Ölfirmen kommen aus Ländern der Weissen», sagt Pastor Samuel Ayadi, der für die Fischer spricht. «Aber in unserem Land, da lassen sie die Fischer leiden.»
Nigerias Aufstieg zur Ölmacht begann 1956 mit der ersten erfolgreichen Bohrung von Royal Dutch Shell im Nigerdelta. Andere Konzerne folgten, darunter Chevron und Exxon Mobil, Total und Eni. Alle arbeiten mit der staatlichen nigerianischen Ölgesellschaft zusammen.
Die OPEC beziffert die tägliche Fördermenge auf zwei Millionen Barrel. Nach amtlichen Angaben gab es in Nigeria von 1976 bis 2001 6800 Ölunfälle, bei denen fast 500 Millionen Liter beziehungsweise drei Millionen Barrel Öl ausliefen. Umweltschützern zufolge ist darin noch nicht die Menge enthalten, die in entlegenen und gefährlichen Gebieten sowie bei Überfällen Radikaler austritt, die ein grösseres Stück des Kuchens für die Deltaregion fordern.
«Alles wird schwarz»
Von Iwuo-Okpom aus, einem Küstenort mit 7.000 Einwohnern, ist am Horizont eine winzige Flamme zu sehen: eine Bohrinsel von Exxon Mobil. Hier an der Atlantikküste kam es im Januar 1998 zu einem der schwersten Ölunfälle Nigerias, als aus einer geborstenen Mobil-Pipeline sechs Millionen Liter ins Meer liefen. Der Ölteppich breitete sich bis zur 200 Kilometer entfernten Millionenstadt Lagos aus.
Tade Amuwa räuchert in Iwuo-Okpom Fische. Die in Ortsnähe gefangenen liessen sich schlecht verarbeiten, klagt die 35-Jährige. «All das Zeug, alles wird schwarz», sagt sie und zeigt auf öldurchtränktes Treibholz und mickrige, verfärbte Fische.
Die nigerianische Tochterfirma von Exxon Mobil erklärt, sie habe Ölflecken der letzten Zeit mit Lösungsmitteln besprüht, doch sei «bedauerlicherweise etwas Öl an die Küstengebiete gelangt». Auch seien den Einheimischen Arbeitsverträge angeboten worden, beim Säubern zu helfen. Die Dorfältesten sagen, sie wüssten nichts davon.
Keine Vögel, keine Fische
Über 7000 Kilometer Pipelines laufen durch das Delta, manche jahrzehntealt, verrostet und anfällig. Nicht alle Öllecks sind den Konzernen anzulasten. Seit 2006 greifen militante Gruppen die Leitungen an, verschleppen Ölarbeiter und kämpfen gegen Regierungssoldaten. Aus Furcht vor Überfällen und Entführungen zögern die Firmen, Personal zu den Lecks zu schicken. Häufig sind die Beschäftigten auf die Bohrinseln oder militärisch bewachte Unterkünfte beschränkt.
Im Ogoniland probten die Einheimischen in den 90er Jahren den Aufstand und verjagten die Ölfirmen. Doch immer noch verlaufen Shell-Pipelines durch das Sumpfgebiet im Delta. In Bodo City im Ogoniland triefen bei Ebbe die freiliegenden Mangrovenwurzeln vor Öl. Es gibt keine Vögel am Himmel, keine Fische im Wasser. «Die sind eingegangen», sagt Mike Vipene, ein Jugendvertreter des Orts. «Die kommen nicht wieder.»
Raffinerie im Busch
Die Einheimischen geben einer lecken Shell-Pipeline die Schuld. Das Unternehmen möchte sich zu Einzelfällen nicht äussern. Einem Umweltbericht der Firma zufolge waren nahezu alle Fälle austretenden Öls vergangenes Jahr, über 15 Millionen Liter, auf Sabotage zurückzuführen.
In entlegenen Gegenden werden Pipelines öfters von kriminellen Banden angezapft. Amtlichen Schätzungen zufolge stehlen sie bis zu 15 Prozent des Öls aus dem Delta. Es wird für den Schwarzmarkt verschifft oder gleich im Busch raffiniert und am Strassenrand als Treibstoff verscherbelt. Das Motiv der Diebe ist ganz einfach, sagt Young Kibara von der Bewegung für das Überleben des Ogoni-Volks: «Armut - jeder will überleben.»
Vom Konflikt zur Krise zum Krieg
Im Gegensatz zu den Diebstählen haben die Überfälle in den vergangenen Monaten nach einem Amnestieangebot der Regierung nachgelassen. Der neue Präsident Goodluck Jonathan stammt selbst aus dem Delta und hat versprochen, sich vorrangig um eine Friedenslösung zu kümmern. Doch die Amnestie scheint an Zugkraft zu verlieren, und die vom Öl Betroffenen verlangen weiterhin Entschädigung.
Der Dorfvorsteher von Iwuo-Okpom, Okon Sunday, verlangt von Exxon Mobil Milliardensummen für seine Gemeinde. Wenn die Entschädigungsforderungen nicht ernst genommen würden, werde das unausweichlich zu Gewalt führen, warnt er: «Da wird ein Konflikt zur Krise, eine Krise zum richtigen Krieg.»
(jak/Jon Gambrell, dapd)
Grüne Rhetorik und schmutzige Realität
Bernhard Bartsch, Guangdong
24. Februar 2011, Neue Zürcher Zeitung
China propagiert den Umweltschutz und setzt dabei auf eine Strategie, die bisher katastrophal gescheitert ist
Im neuen Fünfjahreplan rückt Chinas Regime den Umweltschutz ins Zentrum des Interesses. Doch auf regionaler und lokaler Ebene verschliesst man die Augen vor den Problemen. Die Umweltzerstörung wächst schneller als die Wirtschaft.
Yu Li hat die Hände eines Ausserirdischen. «Sieht aus wie ein blauer Alien», scherzt der Enddreissiger und macht Krallen. Die blaue Farbe reicht bis an die Unterarme und lässt sich schon lange nicht mehr abwaschen. Doch daran hat sich Yu Li ebenso gewöhnt wie an den Juckreiz, den die Chemikalien auf seiner aufgeweichten Haut auslösen. Zwölf Stunden steht er jeden Tag an einer grossen Waschtrommel, in der Jeans-Hosen mit Lavasteinen und Bleichmitteln geschleudert werden, um ihnen den modischen Stone-washed-Look zu verleihen. Pro Schicht gehen Tausende von Jeans durch seine Hände. Am Monatsende bekommt er dafür 1800 Yuan, umgerechnet rund 265 Franken.
Ratten in blauen Müllbergen
Nicht nur auf Yu Lis Haut hinterlassen die Bluejeans Spuren, sondern auch in der Umwelt. Aus einem Rohr in der Fabrikmauer fliesst tiefblaues Abwasser in den Fluss. An dessen Ufern türmen sich blau gefärbte Müllberge, in denen sich dicke Ratten tummeln, deren Fell ebenfalls die Farbe von Jeans angenommen hat. Einzig der Himmel ist nicht blau, sondern hängt in schwerem Smoggrau über Xintang, einem Industrieort in der südchinesischen Provinz Guangdong, der in der Textilbranche den Spitznamen «Welthauptstadt der Bluejeans» trägt.
Mehr als 260 Millionen Hosen werden jährlich in Xintang genäht, gefärbt, gebleicht, gewaschen, bedruckt, abgerieben und kunstvoll zerschlissen. Nach offiziellen Statistiken wird knapp die Hälfte davon exportiert. Rund 700 000 Menschen arbeiten in Xintangs gut 4000 Jeansunternehmen, unter denen sich riesige Färbereien und Akkordnähereien mit Tausenden von Angestellten befinden, aber auch kleine Familienbetriebe, in denen man häufig Kinder bei der Arbeit sieht. Berühmte Modemarken lassen hier ebenso fertigen wie Billiganbieter. Egal wo auf der Welt man eine Jeans kauft – die Wahrscheinlichkeit, dass sie aus Xintang stammt, ist gross.
Damit besteht auch eine direkte Verbindung zwischen Tausenden von Schweizer Jeansträgern und einer gewaltigen Umweltkatastrophe. Vergangenes Jahr kam Greenpeace in einer heimlich durchgeführten Untersuchung zum Ergebnis, dass Xintangs Dong-Fluss, der in den grossen Perlfluss mündet, stark mit Schwermetallen und anderen Chemikalien aus der Textilindustrie belastet ist. Allein die Konzentration des krebserregenden Cadmiums lag 128 Mal über dem in China zulässigen Höchstwert. «Viele Unternehmen verwenden in ihrer Produktion Schwermetalle und entsorgen diese gefährlichen Chemikalien einfach in der Umwelt», urteilte die Umweltschutzorganisation. Die gesundheitlichen Folgen für die Bevölkerung dürften gravierend sein – lassen sich jedoch nicht belegen, weil die lokale Regierung keine unabhängigen Untersuchungen zur Situation in ihrer Stadt erlaubt.
Preis des Aufschwungs
Xintang ist unter Chinas Industriestädten kein Einzelfall, eher ein Prototyp. Dass die Volksrepublik heute die zweitgrösste Wirtschaftsmacht der Welt ist, verdankt sie massgeblich einem Wachstumsmodell, das auf Umwelt und Arbeiterrechte wenig Rücksicht nimmt. Zwar hat der Boom seit Anfang der Achtziger Hunderte von Millionen Chinesen aus der Armut befreit, doch welchen Preis das Land für diesen Fortschritt bezahlen muss, wird zunehmend sichtbar. «Das Bruttoinlandprodukt hat für Chinas Politiker höchste Priorität, egal wie es zustande kommt», sagt Chen Gang, Experte für chinesische Umweltfragen an der National University of Singapore. «Die Regierung weiss zwar, dass dieses Modell nicht nachhaltig ist, aber ein neues ist bis jetzt nicht in Sicht.»
Das sieht man in Peking anders. Anfang März soll der Nationale Volkskongress, Chinas Quasiparlament, einen neuen Fünfjahreplan verabschieden, der den Umweltschutz ins Zentrum der politischen Aufmerksamkeit rückt. Mit Milliardeninvestitionen will der Staat die Entwicklung sogenannter grüner Technologien fördern und sie nicht nur in China breitflächig einsetzen, sondern auch in grossem Massstab exportieren. Ausserdem soll die Leistung lokaler Parteichefs künftig nicht mehr nur an Wachstum und Investitionen gemessen werden, sondern auch an der Einhaltung von Öko-Standards.
Optimisten reden bereits von Chinas «grüner Revolution». Dabei sind die Ankündigungen keineswegs neu. Schon seit Jahren verspricht Peking, die Umweltprobleme mit einer Mischung aus Hightech und Verwaltungsreformen zu bewältigen, bis heute ohne Erfolg. Im Dezember kam eine im Auftrag der Regierung erstellte Studie zu dem Ergebnis, dass sich die Folgekosten der Umweltzerstörung im Jahr 2008 auf umgerechnet 189 Milliarden Franken beliefen. «Der Druck, Verschmutzung und Umweltschäden zu bewältigen, steigt, und die Verschmutzungskosten sind in den fünf Jahren (2003–08) um 75 Prozent gestiegen», heisst es in dem Bericht.
Chinas Umweltzerstörung wächst deutlich schneller als die Wirtschaft. Experten haben berechnet, dass sich der verheerende Trend nur stoppen liesse, wenn China 2 Prozent seines BIP in den Umweltschutz investieren würde; um die bestehende Verschmutzung allmählich zu beseitigen, müssten es sogar 3 Prozent sein. Doch soweit die Eckdaten des 12. Fünfjahresplans bis jetzt bekannt sind, werden für Umweltschutzmassnahmen nur 1,4 Prozent des BIP vorgesehen. «Ich bin nicht sehr optimistisch, dass China in absehbarer Zeit Herr der Lage wird», sagt Chen Gang. «Dafür fehlen leider die richtigen Strukturen.»
Was er damit meint, zeigt sich in Gurao, einem fünf Autostunden südöstlich von Xintang gelegenen Landkreis, der ebenfalls von der Textilindustrie lebt. 80 Prozent der schätzungsweise 300 000 Einwohner produzieren Unterwäsche. Auf den Fabrikhöfen der selbsternannten «City of Sexy» sieht man Kisten mit BH-Lieferungen für ausländische Kunden wie die Kleidermarktkette KiK. Auch Zhang Xuemei arbeitet für den deutschen Markt. Die 41-jährige Wanderarbeiterin aus der Provinz Sichuan sitzt vor ihrem Haus und schneidet abstehende Fäden aus Herrentangas mit Leopardenmuster. Für jede Unterhose gibt es einen Fen (0,001 Franken). «An einem Tag schaffe ich zwischen 500 und 700 Stück», sagt Zhang.
Dass Guraos Fabriken sparen, wo sie nur können, kann Zhang buchstäblich riechen. In der Luft liegt der stechende Geruch des nahen Ximei-Flusses, dessen Wasser seine Farbe mit den Moden ändert: Bald ist er blau, bald rot, bald schwarz. Aus den Tiefen steigen faul riechende Gasblasen auf. «Die Verschmutzung ist bis ins Grundwasser gedrungen», sagt Zhang. «Wasser zum Kochen und Trinken müssen wir auf dem Markt kaufen.» Ein Eimer kostet 0,05 Franken – das entspricht 50 Schlüpfern oder einer knappen Stunde Arbeit.
«Die Stadt macht uns krank»
Obwohl die Verschmutzung und ihre Ursachen offensichtlich sind und vergangenes Jahr ebenfalls von Greenpeace belegt wurden, gehört die Umwelt für die Menschen in Gurao nicht zu den Hauptsorgen. «Natürlich macht die Stadt uns krank», sagt die Besitzerin eines Kleinunternehmens schulterzuckend. «Aber wenn wir Geld verdienen wollen, müssen wir das eben in Kauf nehmen.» Anlagen zur Abwasserreinigung würden die Färbereien der Stadt teuer zu stehen kommen, und dies könnte sie angesichts des harten Verdrängungswettbewerbs in der Branche in den Ruin treiben. «Wem es hier nicht gefällt, der kann ja wegziehen», meint die Unternehmerin. Auch in der Kreisverwaltung verschliesst man vor den Umweltproblemen die Augen. «Ist der Ximei-Fluss wirklich so dreckig?», fragt Chen Wenjia, Chef der lokalen Propagandaabteilung der Kommunistischen Partei. Vor vier Jahren sei er aus einem anderen Landkreis nach Gurao geschickt worden, doch die Verschmutzung des Flusses sei ihm noch nie aufgefallen, erzählt er. Trotzdem befinde sich derzeit Guraos erste Kläranlage im Bau, fügt er stolz hinzu.
Pekings Direktiven ignoriert
Fliessen seit Jahrzehnten also alle Abwässer ganz offiziell ungefiltert in den Fluss? Wie passt das zu Pekings Vorgabe, lokale Parteichefs müssten sich nicht nur um Wirtschaftswachstum kümmern, sondern auch um Umweltschutz? Chen erklärt freimütig, dass die Parteichefs in Gurao zu schnell wechseln, um effektive Massnahmen einleiten zu können. «In meiner Zeit hier habe ich sieben verschiedene Parteichefs erlebt», sagt er. Der Grund für die schnelle Rotation – normalerweise bleiben Parteichefs mindestens drei Jahre – ist ein offenes Geheimnis: In Problemstädten wie Gurao will niemand die Verantwortung für die Missstände übernehmen. «Die Weigerung, Verantwortung zu übernehmen, ist institutionalisiert», erklärt der Politologe Zhao Litao. «Pekings Direktiven werden in den Provinzen häufig ignoriert.»
Fragt man chinesische Experten nach einem Beispiel für eine chinesische Stadt, in der Umweltprobleme erfolgreich gelöst wurden, blickt man in betretene Gesichter. Zwar wurde in Peking vor den Olympischen Spielen 2008 der grösste Verschmutzer der Stadt, das Stahlwerk Shougang, umgesiedelt oder in Schanghai für die Weltausstellung 2010 eine alte Schwerindustriezone saniert. Doch bei allen Erfolgsgeschichten war der Umweltschutz nur Mittel zum Zweck, um das Image einer Stadt zu verbessern oder neues, teures Bauland zu erschliessen. «In Chinas grossen Städten hat sich in den vergangenen Jahren zwar einiges verbessert, aber dafür wird die Verschmutzung ins Hinterland verlegt», erklärt der Forscher Chen Gang. Vergangenes Jahr war auch die Jeanshauptstadt Xintang von einem derartigen Verschmutzungsumzug betroffen. Weil die nahe Metropole Guangzhou die Asienspiele ausrichtete, bestand die Provinzregierung darauf, Xintangs schlimmste Schandflecke zu beseitigen. «Entlang den Hauptstrassen wurden Dutzende von verschmutzenden Fabriken abgerissen», erklärt ein lokaler Unternehmer. «Aber ein paar Kilometer weiter haben sie alle wieder aufgemacht.» Die Schuld für das ökologische Laisser-faire sieht er allerdings nicht nur bei Politikern und Fabrikbetreibern, sondern auch bei den Kunden aus dem In- und Ausland, die unentwegt die Preise drücken.
Machen sich westliche Jeansträger – und Käufer anderer Made-in-China-Waren – also mitschuldig an Chinas ökologischer Tragödie und ihren gesundheitlichen Auswirkungen auf Millionen von Menschen? Bei den meisten chinesischen Produkten ist die Herkunft kaum nachzuvollziehen, ein Umstand, der schäbige Herstellungsbedingungen begünstigt. Allerdings verfehlt der öffentliche Druck auf grosse Markenunternehmen, in ihren Fabriken von sich aus für einwandfreie Verhältnisse zu sorgen, seine Wirkung nicht.
«Wir sind gerne bereit, unser Werk jedem zu zeigen», erklärt Fang Yong, Exportleiter des chinesischen Textilkonzerns Conshing Clothing, der unter anderem Jeans für Marken wie Veromoda, Jack & Jones, Polo und Guess produziert. Die 4000-Mitarbeiter-Fabrik am Rande von Xintang zeigt, dass Jeansfabriken keine Umweltsünder sein müssen: Die Angestellten an den grossen Waschmaschinen tragen Handschuhe, die Arbeiter mit den Farbspritzen benutzen einen Mundschutz, und die Abwässer fliessen in ein modernes Klärwerk. «Unsere Produktionskosten sind natürlich höher als in den Fabriken, denen die Umwelt und die Mitarbeiter egal sind», sagt Fang. Doch der Aufpreis lohnt sich für die Marken allemal, lässt er sich dem Endverbraucher doch gleich mehrfach in Rechnung stellen. Denn welcher westliche Kunde weiss schon, dass selbst eine Jeans aus bester organischer Baumwolle in Fangs Fabrik gerade einmal 20 Franken kostet?
http://www.greenpeace.org/eastasia/news/textile-pollution-xintang-gurao
24. Februar 2011, Neue Zürcher Zeitung
China propagiert den Umweltschutz und setzt dabei auf eine Strategie, die bisher katastrophal gescheitert ist
Im neuen Fünfjahreplan rückt Chinas Regime den Umweltschutz ins Zentrum des Interesses. Doch auf regionaler und lokaler Ebene verschliesst man die Augen vor den Problemen. Die Umweltzerstörung wächst schneller als die Wirtschaft.
Yu Li hat die Hände eines Ausserirdischen. «Sieht aus wie ein blauer Alien», scherzt der Enddreissiger und macht Krallen. Die blaue Farbe reicht bis an die Unterarme und lässt sich schon lange nicht mehr abwaschen. Doch daran hat sich Yu Li ebenso gewöhnt wie an den Juckreiz, den die Chemikalien auf seiner aufgeweichten Haut auslösen. Zwölf Stunden steht er jeden Tag an einer grossen Waschtrommel, in der Jeans-Hosen mit Lavasteinen und Bleichmitteln geschleudert werden, um ihnen den modischen Stone-washed-Look zu verleihen. Pro Schicht gehen Tausende von Jeans durch seine Hände. Am Monatsende bekommt er dafür 1800 Yuan, umgerechnet rund 265 Franken.
Ratten in blauen Müllbergen
Nicht nur auf Yu Lis Haut hinterlassen die Bluejeans Spuren, sondern auch in der Umwelt. Aus einem Rohr in der Fabrikmauer fliesst tiefblaues Abwasser in den Fluss. An dessen Ufern türmen sich blau gefärbte Müllberge, in denen sich dicke Ratten tummeln, deren Fell ebenfalls die Farbe von Jeans angenommen hat. Einzig der Himmel ist nicht blau, sondern hängt in schwerem Smoggrau über Xintang, einem Industrieort in der südchinesischen Provinz Guangdong, der in der Textilbranche den Spitznamen «Welthauptstadt der Bluejeans» trägt.
Mehr als 260 Millionen Hosen werden jährlich in Xintang genäht, gefärbt, gebleicht, gewaschen, bedruckt, abgerieben und kunstvoll zerschlissen. Nach offiziellen Statistiken wird knapp die Hälfte davon exportiert. Rund 700 000 Menschen arbeiten in Xintangs gut 4000 Jeansunternehmen, unter denen sich riesige Färbereien und Akkordnähereien mit Tausenden von Angestellten befinden, aber auch kleine Familienbetriebe, in denen man häufig Kinder bei der Arbeit sieht. Berühmte Modemarken lassen hier ebenso fertigen wie Billiganbieter. Egal wo auf der Welt man eine Jeans kauft – die Wahrscheinlichkeit, dass sie aus Xintang stammt, ist gross.
Damit besteht auch eine direkte Verbindung zwischen Tausenden von Schweizer Jeansträgern und einer gewaltigen Umweltkatastrophe. Vergangenes Jahr kam Greenpeace in einer heimlich durchgeführten Untersuchung zum Ergebnis, dass Xintangs Dong-Fluss, der in den grossen Perlfluss mündet, stark mit Schwermetallen und anderen Chemikalien aus der Textilindustrie belastet ist. Allein die Konzentration des krebserregenden Cadmiums lag 128 Mal über dem in China zulässigen Höchstwert. «Viele Unternehmen verwenden in ihrer Produktion Schwermetalle und entsorgen diese gefährlichen Chemikalien einfach in der Umwelt», urteilte die Umweltschutzorganisation. Die gesundheitlichen Folgen für die Bevölkerung dürften gravierend sein – lassen sich jedoch nicht belegen, weil die lokale Regierung keine unabhängigen Untersuchungen zur Situation in ihrer Stadt erlaubt.
Preis des Aufschwungs
Xintang ist unter Chinas Industriestädten kein Einzelfall, eher ein Prototyp. Dass die Volksrepublik heute die zweitgrösste Wirtschaftsmacht der Welt ist, verdankt sie massgeblich einem Wachstumsmodell, das auf Umwelt und Arbeiterrechte wenig Rücksicht nimmt. Zwar hat der Boom seit Anfang der Achtziger Hunderte von Millionen Chinesen aus der Armut befreit, doch welchen Preis das Land für diesen Fortschritt bezahlen muss, wird zunehmend sichtbar. «Das Bruttoinlandprodukt hat für Chinas Politiker höchste Priorität, egal wie es zustande kommt», sagt Chen Gang, Experte für chinesische Umweltfragen an der National University of Singapore. «Die Regierung weiss zwar, dass dieses Modell nicht nachhaltig ist, aber ein neues ist bis jetzt nicht in Sicht.»
Das sieht man in Peking anders. Anfang März soll der Nationale Volkskongress, Chinas Quasiparlament, einen neuen Fünfjahreplan verabschieden, der den Umweltschutz ins Zentrum der politischen Aufmerksamkeit rückt. Mit Milliardeninvestitionen will der Staat die Entwicklung sogenannter grüner Technologien fördern und sie nicht nur in China breitflächig einsetzen, sondern auch in grossem Massstab exportieren. Ausserdem soll die Leistung lokaler Parteichefs künftig nicht mehr nur an Wachstum und Investitionen gemessen werden, sondern auch an der Einhaltung von Öko-Standards.
Optimisten reden bereits von Chinas «grüner Revolution». Dabei sind die Ankündigungen keineswegs neu. Schon seit Jahren verspricht Peking, die Umweltprobleme mit einer Mischung aus Hightech und Verwaltungsreformen zu bewältigen, bis heute ohne Erfolg. Im Dezember kam eine im Auftrag der Regierung erstellte Studie zu dem Ergebnis, dass sich die Folgekosten der Umweltzerstörung im Jahr 2008 auf umgerechnet 189 Milliarden Franken beliefen. «Der Druck, Verschmutzung und Umweltschäden zu bewältigen, steigt, und die Verschmutzungskosten sind in den fünf Jahren (2003–08) um 75 Prozent gestiegen», heisst es in dem Bericht.
Chinas Umweltzerstörung wächst deutlich schneller als die Wirtschaft. Experten haben berechnet, dass sich der verheerende Trend nur stoppen liesse, wenn China 2 Prozent seines BIP in den Umweltschutz investieren würde; um die bestehende Verschmutzung allmählich zu beseitigen, müssten es sogar 3 Prozent sein. Doch soweit die Eckdaten des 12. Fünfjahresplans bis jetzt bekannt sind, werden für Umweltschutzmassnahmen nur 1,4 Prozent des BIP vorgesehen. «Ich bin nicht sehr optimistisch, dass China in absehbarer Zeit Herr der Lage wird», sagt Chen Gang. «Dafür fehlen leider die richtigen Strukturen.»
Was er damit meint, zeigt sich in Gurao, einem fünf Autostunden südöstlich von Xintang gelegenen Landkreis, der ebenfalls von der Textilindustrie lebt. 80 Prozent der schätzungsweise 300 000 Einwohner produzieren Unterwäsche. Auf den Fabrikhöfen der selbsternannten «City of Sexy» sieht man Kisten mit BH-Lieferungen für ausländische Kunden wie die Kleidermarktkette KiK. Auch Zhang Xuemei arbeitet für den deutschen Markt. Die 41-jährige Wanderarbeiterin aus der Provinz Sichuan sitzt vor ihrem Haus und schneidet abstehende Fäden aus Herrentangas mit Leopardenmuster. Für jede Unterhose gibt es einen Fen (0,001 Franken). «An einem Tag schaffe ich zwischen 500 und 700 Stück», sagt Zhang.
Dass Guraos Fabriken sparen, wo sie nur können, kann Zhang buchstäblich riechen. In der Luft liegt der stechende Geruch des nahen Ximei-Flusses, dessen Wasser seine Farbe mit den Moden ändert: Bald ist er blau, bald rot, bald schwarz. Aus den Tiefen steigen faul riechende Gasblasen auf. «Die Verschmutzung ist bis ins Grundwasser gedrungen», sagt Zhang. «Wasser zum Kochen und Trinken müssen wir auf dem Markt kaufen.» Ein Eimer kostet 0,05 Franken – das entspricht 50 Schlüpfern oder einer knappen Stunde Arbeit.
«Die Stadt macht uns krank»
Obwohl die Verschmutzung und ihre Ursachen offensichtlich sind und vergangenes Jahr ebenfalls von Greenpeace belegt wurden, gehört die Umwelt für die Menschen in Gurao nicht zu den Hauptsorgen. «Natürlich macht die Stadt uns krank», sagt die Besitzerin eines Kleinunternehmens schulterzuckend. «Aber wenn wir Geld verdienen wollen, müssen wir das eben in Kauf nehmen.» Anlagen zur Abwasserreinigung würden die Färbereien der Stadt teuer zu stehen kommen, und dies könnte sie angesichts des harten Verdrängungswettbewerbs in der Branche in den Ruin treiben. «Wem es hier nicht gefällt, der kann ja wegziehen», meint die Unternehmerin. Auch in der Kreisverwaltung verschliesst man vor den Umweltproblemen die Augen. «Ist der Ximei-Fluss wirklich so dreckig?», fragt Chen Wenjia, Chef der lokalen Propagandaabteilung der Kommunistischen Partei. Vor vier Jahren sei er aus einem anderen Landkreis nach Gurao geschickt worden, doch die Verschmutzung des Flusses sei ihm noch nie aufgefallen, erzählt er. Trotzdem befinde sich derzeit Guraos erste Kläranlage im Bau, fügt er stolz hinzu.
Pekings Direktiven ignoriert
Fliessen seit Jahrzehnten also alle Abwässer ganz offiziell ungefiltert in den Fluss? Wie passt das zu Pekings Vorgabe, lokale Parteichefs müssten sich nicht nur um Wirtschaftswachstum kümmern, sondern auch um Umweltschutz? Chen erklärt freimütig, dass die Parteichefs in Gurao zu schnell wechseln, um effektive Massnahmen einleiten zu können. «In meiner Zeit hier habe ich sieben verschiedene Parteichefs erlebt», sagt er. Der Grund für die schnelle Rotation – normalerweise bleiben Parteichefs mindestens drei Jahre – ist ein offenes Geheimnis: In Problemstädten wie Gurao will niemand die Verantwortung für die Missstände übernehmen. «Die Weigerung, Verantwortung zu übernehmen, ist institutionalisiert», erklärt der Politologe Zhao Litao. «Pekings Direktiven werden in den Provinzen häufig ignoriert.»
Fragt man chinesische Experten nach einem Beispiel für eine chinesische Stadt, in der Umweltprobleme erfolgreich gelöst wurden, blickt man in betretene Gesichter. Zwar wurde in Peking vor den Olympischen Spielen 2008 der grösste Verschmutzer der Stadt, das Stahlwerk Shougang, umgesiedelt oder in Schanghai für die Weltausstellung 2010 eine alte Schwerindustriezone saniert. Doch bei allen Erfolgsgeschichten war der Umweltschutz nur Mittel zum Zweck, um das Image einer Stadt zu verbessern oder neues, teures Bauland zu erschliessen. «In Chinas grossen Städten hat sich in den vergangenen Jahren zwar einiges verbessert, aber dafür wird die Verschmutzung ins Hinterland verlegt», erklärt der Forscher Chen Gang. Vergangenes Jahr war auch die Jeanshauptstadt Xintang von einem derartigen Verschmutzungsumzug betroffen. Weil die nahe Metropole Guangzhou die Asienspiele ausrichtete, bestand die Provinzregierung darauf, Xintangs schlimmste Schandflecke zu beseitigen. «Entlang den Hauptstrassen wurden Dutzende von verschmutzenden Fabriken abgerissen», erklärt ein lokaler Unternehmer. «Aber ein paar Kilometer weiter haben sie alle wieder aufgemacht.» Die Schuld für das ökologische Laisser-faire sieht er allerdings nicht nur bei Politikern und Fabrikbetreibern, sondern auch bei den Kunden aus dem In- und Ausland, die unentwegt die Preise drücken.
Machen sich westliche Jeansträger – und Käufer anderer Made-in-China-Waren – also mitschuldig an Chinas ökologischer Tragödie und ihren gesundheitlichen Auswirkungen auf Millionen von Menschen? Bei den meisten chinesischen Produkten ist die Herkunft kaum nachzuvollziehen, ein Umstand, der schäbige Herstellungsbedingungen begünstigt. Allerdings verfehlt der öffentliche Druck auf grosse Markenunternehmen, in ihren Fabriken von sich aus für einwandfreie Verhältnisse zu sorgen, seine Wirkung nicht.
«Wir sind gerne bereit, unser Werk jedem zu zeigen», erklärt Fang Yong, Exportleiter des chinesischen Textilkonzerns Conshing Clothing, der unter anderem Jeans für Marken wie Veromoda, Jack & Jones, Polo und Guess produziert. Die 4000-Mitarbeiter-Fabrik am Rande von Xintang zeigt, dass Jeansfabriken keine Umweltsünder sein müssen: Die Angestellten an den grossen Waschmaschinen tragen Handschuhe, die Arbeiter mit den Farbspritzen benutzen einen Mundschutz, und die Abwässer fliessen in ein modernes Klärwerk. «Unsere Produktionskosten sind natürlich höher als in den Fabriken, denen die Umwelt und die Mitarbeiter egal sind», sagt Fang. Doch der Aufpreis lohnt sich für die Marken allemal, lässt er sich dem Endverbraucher doch gleich mehrfach in Rechnung stellen. Denn welcher westliche Kunde weiss schon, dass selbst eine Jeans aus bester organischer Baumwolle in Fangs Fabrik gerade einmal 20 Franken kostet?
http://www.greenpeace.org/eastasia/news/textile-pollution-xintang-gurao
Das Öl-Business für Dummies
Von Markus Diem Meier.
1.3.2011
Was treibt die Erdölpreise hoch und wie bedrohlich ist das für die Wirtschaft? Die fünf wichtigsten Fragen und Antworten rund ums Öl.
Die fünf wichtigsten Fragen
1. Was treibt die Ölpreise hoch?
2. Was bedeuten steigende Ölpreise für die Weltwirtschaft?
3. Worin liegen die Gefahren durch steigende Ölpreise?
4. Welche Rolle spielt die Politik?
5. Was bedeuten steigende Ölpreise für die Schweiz?
1. Was treibt die Ölpreise hoch?
Die unmittelbare Ursache der Preisausschläge sind die Ereignisse in den arabischen Ländern. In Ägypten machte sich die Sorge breit, der Versorgungsweg durch eine wichtige Pipeline und den Suez-Kanal könnte gefährdet sein. Im Fall von Libyen besteht die Gefahr des Produktionsausfalls von einem der wichtigsten Ölproduzenten für Europa. Die in London gehandelte Ölsorte Brent hat sich seit Anfang Jahr bis letzte Woche um fast 26 Prozent auf knapp unter 120 Dollar pro Fass verteuert. Mittlerweile hat sich der Preis wieder etwas erholt und liegt bei 112 Dollar, was noch immer einem Anstieg von beinahe 20 Prozent seit Jahresbeginn entspricht. Weniger ausgeprägt war der Preisanstieg an der Börse von New York, wo die Sorte «West Texas Intermediate» oder «Crude» gehandelt wird. Weltweit haben die Börsen auf die Preisausschläge reagiert, erst deutlich mit Abschlägen, nach dem leichten Nachgeben der Preise dann wieder mit leichten Gewinnen.
Obwohl die Unsicherheit zum Ausgang in Libyen weiter anhält, hat vor allem die Ankündigung Saudiarabiens, die eigene Produktion weiter hochzuschrauben, für die kleine Entspannung an den Märkten gesorgt. Dies obwohl das saudische Öl qualitativ nicht mit dem libyschen mithalten kann und die Fähigkeiten von Saudiarabien nicht unumstritten sind, die eigene Produktion überhaupt ausreichend hochfahren zu können. So hat der bekannte Rohstoff-«Guru» Jim Rogers auf Bloomberg die Saudis offen der Lüge bezichtigt.
Der starke Anstieg der Preise in den letzten Tagen und Wochen geht weniger auf unmittelbar veränderte Ölströme zurück, sondern hat mehr mit der Spekulation darauf zu tun, dass die Versorgungsunsicherheit gefährdet bleiben oder noch zunehmen könnte. Der Grund dafür ist die wachsende Unsicherheit in der ganzen Region der wichtigsten Erdöl produzierenden Länder. Diese Unsicherheiten dürften daher auch für weitere Schwankungen der Preise sorgen. Für einen weiteren langfristigen Anstieg der Ölpreise sprechen aber auch andere Gründe: Auf der Nachfrageseite der wachsende Bedarf in boomenden aufstrebenden Volkswirtschaften und auf der Angebotsseite die von vielen behauptete Verknappung der leicht zugänglichen Ölvorräte.
2. Was bedeuten steigende Ölpreise für die Weltwirtschaft?
Steigende Ölpreise sind Gift für die Wirtschaft. Das gilt ganz besonders für Länder, die bisher wenig getan haben, um ihre Abhängigkeit vom schwarzen Gold zu reduzieren – vor allem die USA. Das Schreckbeispiel sind die 70er-Jahre, als der so genannte «Ölschock» nicht nur dieses Land, sondern gleich die ganze westliche Welt in Rezessionen gestürzt hat. Die USA, deren Wirtschaft noch immer wichtiger ist für die Weltwirtschaft als jede andere, haben die Auswirkungen der Finanzkrise noch immer nicht überwunden und befinden sich auf einem sehr fragilen Erholungspfad mit einer anhaltend hohen Arbeitslosigkeit von 9 Prozent. Weiterhin deutlich steigende Erdölpreise haben daher das Potenzial, das Land erneut in die Krise zurückzuwerfen. Da steigende Ölpreise das gesamte Preisniveau hinaufdrücken, sind aber aktuell auch stark wachsende, so genannte aufstrebende Volkswirtschaften wie zum Beispiel China gefährdet, da sich dort die Teuerungsraten ohnehin schon auf einem ungemütlich hohen Niveau bewegen.
3. Worin liegen die Gefahren durch steigende Ölpreise?
Steigende Ölpreise gefährden die Wirtschaft von zwei Seiten: Erstens allein deshalb, weil sie ganz generell zu höheren Kosten führen. Das bremst Konsum und Investitionen. Zweitens können sie zu dem führen, was als «Lohn-Preis-Spirale» bekannt ist. Wenn durch das teurere Öl das Preisniveau steigt und die Beschäftigten für diesen Aufschlag einen entsprechend höheren Lohn fordern, verteuern sich die Produktionskosten gleich noch einmal und auch die Inflation steigt weiter. Das führt zu dem, was Ökonomen eine Stagflation nennen: eine stagnierende oder sogar rückläufige Wirtschaftsleistung bei gleichzeitiger Teuerung. Gewöhnliche Rezessionen haben wenigsten den Vorteil, dass die Inflation zurückgeht oder tief ist, weil sie durch eine sinkende Nachfrage ausgelöst werden. In einer Stagflation liegt die Ursache dagegen beim Angebot an Gütern und Diensten, diese geht wegen höheren Kosten zurück.
4. Welche Rolle spielt die Politik?
Die Politik im Umgang mit gefährdeten Erdöl produzierenden Ländern spielt eine wichtige Rolle dabei, ob die Preise in nächster Zeit weiter ansteigen. So werden westliche Länder bei ihren Aktivitäten und Äusserungen sehr darauf bedacht sein, keine Reaktion zu provozieren, die in irgendeiner Weise die Erdölversorgung gefährden könnte. Schon der Erdölschock der 70er-Jahre ging auf militärisch-politische Auseinandersetzungen im arabisch-israelischen Konflikt zurück. Angesichts der unsicheren aktuellen Lage ist allerdings die Gefahr von Fehlentscheiden und entsprechenden Reaktionen hoch.
Entscheidend ist aber auch die Wirtschaftspolitik. Sie muss auf jeden Fall darauf bedacht sein, eine Lohn-Preis-Spirale zu verhindern. Dabei dürfen die höheren Energiepreise nicht auf die Teuerungserwartungen durchschlagen. Zeichnet sich eine solche Entwicklung ab, treten Notenbanken in der Regel bei ihrer Geldversorgung der Wirtschaft hart auf die Bremse. Eine solche Rosskur, die eine angesichts steigender Kosten und Preisen schon schwächelnde Wirtschaft weiter in die Krise drückt, hat zu Beginn der 80er-Jahre Paul Volcker, der damalige Notenbankchef der USA, angewandt. Damit hat er dem Land zwischenzeitlich eine Rekordarbeitslosigkeit von beinahe 11 Prozent beschert, aber gleichzeitig die Inflationsrate von 13,5 Prozent als Folge einer Lohn-Preisspirale innert zweiter Jahre wieder auf das Niveau von 3,2 Prozent hinuntergedrückt. Trotz den angestiegenen Ölpreisen befindet sich die entscheidende Kerninflation in den USA wie auch in der Schweiz allerdings noch immer auf tiefem Niveau. Die Kerninflation schliesst unter anderem Energiepreise aus. Beginnt sie auszuschlagen, wäre das ein Anzeichen für so genannte Zweitrundeneffekte. Damit ist gemeint, dass die Erdölpreise die Löhne und weitere Produkte verteuern. Die noch immer schwache Nachfrage dämpft bisher in den USA den Preisdruck
Angesichts der noch immer schwachen Wirtschaftslage und den anhaltenden Problemen im Finanzsektor ist die US-Notenbank ohnehin nicht daran, eine drohende Teuerung zu bekämpfen. Mit ihrem im letzten Jahr beschlossenen zweiten «Quantitative Easing»-Programm pumpt sie insgesamt 600 Milliarden Dollar über Käufe von US-Staatsanleihen in die Wirtschaft. Viele sehen in der dadurch geschaffenen Liquidität ebenfalls einen Grund für spekulative Erdöl- und andere Rohstoffkäufe. Ausserdem spiegelt sich allein der dadurch geschwächte Dollar in den höheren Preisen des Öls.
5. Was bedeuten steigende Ölpreise für die Schweiz?
Die Schwäche des US-Dollars ist für die Schweiz zumindest in Bezug auf die Erdölpreise ein Vorteil. Der Preisanstieg beim Öl wurde durch einen Absturz der US-Währung begleitet, die auf historischen Tiefstständen notiert. Dennoch hat der Ölpreis in den letzten Wochen prozentual deutlich stärker zugelegt, als der Dollar sich abgeschwächt hat – seit Mitte Februar ist er von 97 Rappen auf rund 93 Rappen gefallen. Das heisst, dass ein anhaltender Preisanstieg des Öls auch den Aufschwung in der Schweiz bedrohen kann. Das gilt umso mehr, als Prognoseinstitute im laufenden Jahr auch einen dämpfenden Einfluss durch schwächere Exporte als Folge der Frankenstärke erwarten.
Quelle: Tagesanzeiger.ch/Newsnetz
1.3.2011
Was treibt die Erdölpreise hoch und wie bedrohlich ist das für die Wirtschaft? Die fünf wichtigsten Fragen und Antworten rund ums Öl.
Die fünf wichtigsten Fragen
1. Was treibt die Ölpreise hoch?
2. Was bedeuten steigende Ölpreise für die Weltwirtschaft?
3. Worin liegen die Gefahren durch steigende Ölpreise?
4. Welche Rolle spielt die Politik?
5. Was bedeuten steigende Ölpreise für die Schweiz?
1. Was treibt die Ölpreise hoch?
Die unmittelbare Ursache der Preisausschläge sind die Ereignisse in den arabischen Ländern. In Ägypten machte sich die Sorge breit, der Versorgungsweg durch eine wichtige Pipeline und den Suez-Kanal könnte gefährdet sein. Im Fall von Libyen besteht die Gefahr des Produktionsausfalls von einem der wichtigsten Ölproduzenten für Europa. Die in London gehandelte Ölsorte Brent hat sich seit Anfang Jahr bis letzte Woche um fast 26 Prozent auf knapp unter 120 Dollar pro Fass verteuert. Mittlerweile hat sich der Preis wieder etwas erholt und liegt bei 112 Dollar, was noch immer einem Anstieg von beinahe 20 Prozent seit Jahresbeginn entspricht. Weniger ausgeprägt war der Preisanstieg an der Börse von New York, wo die Sorte «West Texas Intermediate» oder «Crude» gehandelt wird. Weltweit haben die Börsen auf die Preisausschläge reagiert, erst deutlich mit Abschlägen, nach dem leichten Nachgeben der Preise dann wieder mit leichten Gewinnen.
Obwohl die Unsicherheit zum Ausgang in Libyen weiter anhält, hat vor allem die Ankündigung Saudiarabiens, die eigene Produktion weiter hochzuschrauben, für die kleine Entspannung an den Märkten gesorgt. Dies obwohl das saudische Öl qualitativ nicht mit dem libyschen mithalten kann und die Fähigkeiten von Saudiarabien nicht unumstritten sind, die eigene Produktion überhaupt ausreichend hochfahren zu können. So hat der bekannte Rohstoff-«Guru» Jim Rogers auf Bloomberg die Saudis offen der Lüge bezichtigt.
Der starke Anstieg der Preise in den letzten Tagen und Wochen geht weniger auf unmittelbar veränderte Ölströme zurück, sondern hat mehr mit der Spekulation darauf zu tun, dass die Versorgungsunsicherheit gefährdet bleiben oder noch zunehmen könnte. Der Grund dafür ist die wachsende Unsicherheit in der ganzen Region der wichtigsten Erdöl produzierenden Länder. Diese Unsicherheiten dürften daher auch für weitere Schwankungen der Preise sorgen. Für einen weiteren langfristigen Anstieg der Ölpreise sprechen aber auch andere Gründe: Auf der Nachfrageseite der wachsende Bedarf in boomenden aufstrebenden Volkswirtschaften und auf der Angebotsseite die von vielen behauptete Verknappung der leicht zugänglichen Ölvorräte.
2. Was bedeuten steigende Ölpreise für die Weltwirtschaft?
Steigende Ölpreise sind Gift für die Wirtschaft. Das gilt ganz besonders für Länder, die bisher wenig getan haben, um ihre Abhängigkeit vom schwarzen Gold zu reduzieren – vor allem die USA. Das Schreckbeispiel sind die 70er-Jahre, als der so genannte «Ölschock» nicht nur dieses Land, sondern gleich die ganze westliche Welt in Rezessionen gestürzt hat. Die USA, deren Wirtschaft noch immer wichtiger ist für die Weltwirtschaft als jede andere, haben die Auswirkungen der Finanzkrise noch immer nicht überwunden und befinden sich auf einem sehr fragilen Erholungspfad mit einer anhaltend hohen Arbeitslosigkeit von 9 Prozent. Weiterhin deutlich steigende Erdölpreise haben daher das Potenzial, das Land erneut in die Krise zurückzuwerfen. Da steigende Ölpreise das gesamte Preisniveau hinaufdrücken, sind aber aktuell auch stark wachsende, so genannte aufstrebende Volkswirtschaften wie zum Beispiel China gefährdet, da sich dort die Teuerungsraten ohnehin schon auf einem ungemütlich hohen Niveau bewegen.
3. Worin liegen die Gefahren durch steigende Ölpreise?
Steigende Ölpreise gefährden die Wirtschaft von zwei Seiten: Erstens allein deshalb, weil sie ganz generell zu höheren Kosten führen. Das bremst Konsum und Investitionen. Zweitens können sie zu dem führen, was als «Lohn-Preis-Spirale» bekannt ist. Wenn durch das teurere Öl das Preisniveau steigt und die Beschäftigten für diesen Aufschlag einen entsprechend höheren Lohn fordern, verteuern sich die Produktionskosten gleich noch einmal und auch die Inflation steigt weiter. Das führt zu dem, was Ökonomen eine Stagflation nennen: eine stagnierende oder sogar rückläufige Wirtschaftsleistung bei gleichzeitiger Teuerung. Gewöhnliche Rezessionen haben wenigsten den Vorteil, dass die Inflation zurückgeht oder tief ist, weil sie durch eine sinkende Nachfrage ausgelöst werden. In einer Stagflation liegt die Ursache dagegen beim Angebot an Gütern und Diensten, diese geht wegen höheren Kosten zurück.
4. Welche Rolle spielt die Politik?
Die Politik im Umgang mit gefährdeten Erdöl produzierenden Ländern spielt eine wichtige Rolle dabei, ob die Preise in nächster Zeit weiter ansteigen. So werden westliche Länder bei ihren Aktivitäten und Äusserungen sehr darauf bedacht sein, keine Reaktion zu provozieren, die in irgendeiner Weise die Erdölversorgung gefährden könnte. Schon der Erdölschock der 70er-Jahre ging auf militärisch-politische Auseinandersetzungen im arabisch-israelischen Konflikt zurück. Angesichts der unsicheren aktuellen Lage ist allerdings die Gefahr von Fehlentscheiden und entsprechenden Reaktionen hoch.
Entscheidend ist aber auch die Wirtschaftspolitik. Sie muss auf jeden Fall darauf bedacht sein, eine Lohn-Preis-Spirale zu verhindern. Dabei dürfen die höheren Energiepreise nicht auf die Teuerungserwartungen durchschlagen. Zeichnet sich eine solche Entwicklung ab, treten Notenbanken in der Regel bei ihrer Geldversorgung der Wirtschaft hart auf die Bremse. Eine solche Rosskur, die eine angesichts steigender Kosten und Preisen schon schwächelnde Wirtschaft weiter in die Krise drückt, hat zu Beginn der 80er-Jahre Paul Volcker, der damalige Notenbankchef der USA, angewandt. Damit hat er dem Land zwischenzeitlich eine Rekordarbeitslosigkeit von beinahe 11 Prozent beschert, aber gleichzeitig die Inflationsrate von 13,5 Prozent als Folge einer Lohn-Preisspirale innert zweiter Jahre wieder auf das Niveau von 3,2 Prozent hinuntergedrückt. Trotz den angestiegenen Ölpreisen befindet sich die entscheidende Kerninflation in den USA wie auch in der Schweiz allerdings noch immer auf tiefem Niveau. Die Kerninflation schliesst unter anderem Energiepreise aus. Beginnt sie auszuschlagen, wäre das ein Anzeichen für so genannte Zweitrundeneffekte. Damit ist gemeint, dass die Erdölpreise die Löhne und weitere Produkte verteuern. Die noch immer schwache Nachfrage dämpft bisher in den USA den Preisdruck
Angesichts der noch immer schwachen Wirtschaftslage und den anhaltenden Problemen im Finanzsektor ist die US-Notenbank ohnehin nicht daran, eine drohende Teuerung zu bekämpfen. Mit ihrem im letzten Jahr beschlossenen zweiten «Quantitative Easing»-Programm pumpt sie insgesamt 600 Milliarden Dollar über Käufe von US-Staatsanleihen in die Wirtschaft. Viele sehen in der dadurch geschaffenen Liquidität ebenfalls einen Grund für spekulative Erdöl- und andere Rohstoffkäufe. Ausserdem spiegelt sich allein der dadurch geschwächte Dollar in den höheren Preisen des Öls.
5. Was bedeuten steigende Ölpreise für die Schweiz?
Die Schwäche des US-Dollars ist für die Schweiz zumindest in Bezug auf die Erdölpreise ein Vorteil. Der Preisanstieg beim Öl wurde durch einen Absturz der US-Währung begleitet, die auf historischen Tiefstständen notiert. Dennoch hat der Ölpreis in den letzten Wochen prozentual deutlich stärker zugelegt, als der Dollar sich abgeschwächt hat – seit Mitte Februar ist er von 97 Rappen auf rund 93 Rappen gefallen. Das heisst, dass ein anhaltender Preisanstieg des Öls auch den Aufschwung in der Schweiz bedrohen kann. Das gilt umso mehr, als Prognoseinstitute im laufenden Jahr auch einen dämpfenden Einfluss durch schwächere Exporte als Folge der Frankenstärke erwarten.
Quelle: Tagesanzeiger.ch/Newsnetz
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