Donnerstag, 29. November 2012
Gemachte Armut in Europa
Arte-Dok-Sendung vom 27.11.12
http://videos.arte.tv/de/videos/gemachte-armut--7075488.html
Lange Zeit galt Armut in Westeuropa als überwunden; etwas, das aus den Industrieländern ein für allemal verbannt schien. Doch nun kehrt sie mit Schärfe zurück, als Folge der Umbrüche und Umstürze in der Wirtschaftswelt und dem "Umbau" des Sozialstaates. Die neoliberalen Reformen, die größere ökonomische Effektivität und größeren Wohlstand bringen sollten, haben viele Menschen in eine existenzielle Sackgasse geführt. Und das nicht nur in sogenannten Problemländern wie zum Beispiel Spanien. Dort ist die Lage besonders bedenklich. Ein Viertel der Bevölkerung ist arbeitslos, Millionen Kinder leben in Armut oder drohen dahin abzusteigen.
Aber auch im reichen Deutschland, dem europäischen Wirtschaftswunderland, nimmt die Zahl der Armen zu, ebenso wie in Frankreich. Und nichts deutet darauf hin, dass diese Situation sich in absehbarer Zukunft zum Besseren wenden wird. Ganze Bevölkerungsgruppen fühlen sich zunehmend ausgegrenzt. Und die Armut wird "vererbt". Das stellt auch die Gesamtgesellschaft vor ernste Herausforderungen: Denn die Kinder sollten eigentlich die Zukunft sein. Wenn diese aber in den Kreislauf von sozialer Abhängigkeit, Mutlosigkeit und Perspektivlosigkeit geraten, werden sie nicht in der Lage sein, an der Zukunft mitzuwirken.
Lourdes Picareta beschreibt und analysiert in ihrem Film die Situation in Spanien, Deutschland und Frankreich. Und lässt darin unter anderem Sozialforscher und Politikwissenschaftler zu Wort kommen, die von der "gemachten Armut" sprechen, von einer Entwicklung, die keineswegs natürlich entstanden ist und vermeidbar gewesen wäre.
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Modetrends in Europa, Tote in Bangladesch
original: http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/nach-brand-in-textilfabrik-modetrends-in-europa-tote-in-bangladesch-1.1533689
Jetzt werden wieder alle aufschreien. So wie im September 2012, als in Pakistan zwei Fabriken abbrannten und mehr als 300 Menschen in den Trümmern erstickten.
Es sind immer die gleichen Bilder: verschmurgelte Nähmaschinen, Männer,
die mit bloßen Händen nach ihren Frauen oder Töchtern graben. Es sind
immer die gleichen Probleme: abgesperrte Notausgänge, vergitterte
Fenster, gefälschte Sicherheitszertifikate, korrupte Fabrikbesitzer. Es
sind immer die gleichen Ausreden: der Druck der Weltwirtschaft.
Jetzt kommen die Bilder also aus Bangladesch. Jetzt graben die Männer in Savar nach den Resten ihrer Frauen, sammeln Sandalen und bunte Schals aus der Asche. Mehr als 112 Menschen sind am Wochenende in der Tazreen-Fashion-Fabrik gestorben, in der jeden Monat eine Million T-Shirts, 800.000 Polo-Shirts und 300.000 Fleecejacken produziert wurden, unter anderem für C&A, Carrefour, Kik und Walmart. Fliederfarben, orange, wie es die Branche gerade wünscht. Jeder neue Trend in Europa bedeutet, dass die Frauen in Bangladesch Überstunden machen.
In Bangladesch trauerten sie, Nationalflaggen im ganzen Land wurden auf Halbmast gesetzt, in den Tempeln beteten die Menschen, Politiker sagten, was zu sagen ist. Dann schlug die Trauer um in Wut. Tausende Arbeiter gingen in den vergangenen Tagen auf die Straße, bewarfen Fabrikgebäude mit Steinen, zerstörten Autos und blockierten Straßen. Hunderte Fabriken wurden geschlossen.
Jetzt standen sie auf der Straße, die meisten von ihnen Frauen. Mit glitzernden Ohrringen und golddurchwirkten Saris. Es war das erste Mal, dass sie aufbegehrten. Die Fabrikdirektoren jammerten, dass sie die Forderungen ihrer westlichen Auftraggeber nicht werden erfüllen können. Es gab Verletzte, Tote. Dann war wieder Ruhe.
Millionen von Menschen arbeiten in den Bekleidungsfabriken Bangladeschs. Die Textilindustrie ist der wichtigste Industriezweig des Landes. Knapp zehn Prozent aller Textilimporte von Europa kommen aus Bangladesch, das nach China und der Türkei der drittgrößte Exporteur von Kleidung nach Europa ist. In einer Umfrage unter den Einkaufschefs großer Modeunternehmen nannten mehr als drei Viertel der Befragten Bangladesch als das am stärksten aufstrebende Einkaufsland für Textil. Aber zu welchem Preis?
Nach Angaben der "Kampagne für Saubere Kleidung" starben in Bangladesch seit 2006 mehr als 470 Menschen bei Bränden in Textilfabriken. Die Sicherheitsmaßnahmen aber sind meist noch genau so lausig wie schon immer. Elektrokabel hängen ungeschützt von der Decke, Notausgänge sind verschlossen, wenn es überhaupt welche gibt. Fenster sind vergittert. Übungen zum Brandschutz? Meist unbekannt.
Gisela Burckhardt von der "Kampagne für Saubere Kleidung" kämpft seit Jahren für bessere Arbeitsbedingungen, für eine bessere Bezahlung und für bessere Sicherheitsmaßnahmen in der Branche. Sie hat Diagramme erstellen lassen, in denen gezeigt wird, wie sich der Preis der Kleider zusammensetzt: 50 Prozent Gewinn und Kosten des Einzelhandels, 25 Prozent Markenwerbung, 13 Prozent Fabrikkosten, 11 Prozent Transport und Steuern. Und nur ein Prozent Lohnkosten.
Vor ein paar Jahren hat sie Arbeiterinnen aus Bangladesch nach Deutschland eingeladen. Sie sollten der Ausbeutung ein Gesicht geben und den deutschen Käufern zeigen, wer den Preis zahlt für Kleidungsstücke, die so billig sind, dass man sich schämen muss.
Suma Sarker stand in ihrem glitzernden Gewand im Neonlicht eines Kik-Discounters in Mannheim und fuhr mit der Hand über die bunten Nähte kleiner Kinderhosen. Winzige Reisverschlüsse, zierliche Hosentaschen. 60 bis 70 dieser Taschen näht sie in der Stunde. Dann sah sie das Preisschild: 4,99 Euro. Und konnte es selbst nicht glauben, wie billig ihre Arbeit ist.
Die Frauen nähen wie Getriebene. Und auch das: Sie werden beleidigt, sexuell belästigt, geschlagen. Wer einer Gewerkschaft beitritt, riskiert es, den Job zu verlieren. Gisela Burckhardt kennt das schon, wenn ihre Telefone nicht mehr stillstehen nach einer Katastrophe wie dieser. Und in der Zeit dazwischen? Hat sie Mühe, das Thema zu den Menschen zu bringen.
Es kann allerdings erst in Kraft treten, wenn mindestens vier große Modefirmen mitmachen. Firmen wie H&M und Gap weigern sich bis jetzt. Gisela Burckhardt hofft nun auf Metro (Real, Kaufhof) und Lidl. Beide hat die "Kampagne für Saubere Kleidung" vor kurzem aufgefordert, das Brandschutzabkommen zu unterzeichnen. Bis jetzt - keine Antwort.
Das Problem ist nicht, dass es keine Zertifizierungssysteme gibt. Im Gegenteil. Allein deutschen Unternehmen stehen etwa 80 verschiedene Instrumente zur Verfügung. Viele Firmen haben außerdem selbst einen Code of Conduct oder Compliance-Richtlinien festgelegt. Aber Aufträge werden von Subunternehmer zu Subunternehmer weitergereicht. Die wenigsten Firmen kennen ihre Lieferkette. Gisela Burckhardt macht das wütend, wie sich die große Firmen seit Jahren herausreden. Sie will verhindern, dass es so ist wie immer: Es werden alle aufschreien.
Aber passieren wird - nichts.
Die Frauen nähen wie Getriebene, sie werden beleidigt, sexuell
belästigt, geschlagen. Die Textilproduktion für westliche Konzerne in
Billiglohnländern fußt auf der Ausbeutung von Frauen. Wenn Menschen bei
der Herstellung von Billigtextilien sterben wie jetzt in Bangladesch,
ist der Aufschrei jedes Mal groß. Doch an der Situation ändert sich
nichts.
Von Karin Steinberger und Stefan Weber
Jetzt kommen die Bilder also aus Bangladesch. Jetzt graben die Männer in Savar nach den Resten ihrer Frauen, sammeln Sandalen und bunte Schals aus der Asche. Mehr als 112 Menschen sind am Wochenende in der Tazreen-Fashion-Fabrik gestorben, in der jeden Monat eine Million T-Shirts, 800.000 Polo-Shirts und 300.000 Fleecejacken produziert wurden, unter anderem für C&A, Carrefour, Kik und Walmart. Fliederfarben, orange, wie es die Branche gerade wünscht. Jeder neue Trend in Europa bedeutet, dass die Frauen in Bangladesch Überstunden machen.
In Bangladesch trauerten sie, Nationalflaggen im ganzen Land wurden auf Halbmast gesetzt, in den Tempeln beteten die Menschen, Politiker sagten, was zu sagen ist. Dann schlug die Trauer um in Wut. Tausende Arbeiter gingen in den vergangenen Tagen auf die Straße, bewarfen Fabrikgebäude mit Steinen, zerstörten Autos und blockierten Straßen. Hunderte Fabriken wurden geschlossen.
Ein Mindestlohn von 46 Euro im Monat
Es herrscht eine Stimmung wie im Sommer 2010, als Zehntausende durch die Straßen der Hauptstadt Dhaka zogen und für eine bessere Bezahlung in der Branche demonstrierten. Damals kämpften sie für einen Mindestlohn von 5000 Taka im Monat, 46 Euro. Sie hatten es satt, mit einem Drittel davon abgespeist zu werden. Sie hatten es satt, ihr Leben zu riskieren für so wenig Geld. Nichts hatte man von ihnen gehört in all den Jahren, nichts gelesen außer dem kleinen Schild hinten in zahllosen T-Shirts und Hosen, in Millionen von knappen Sommerkleidchen und dicken Winterpullovern: Made in Bangladesch.Jetzt standen sie auf der Straße, die meisten von ihnen Frauen. Mit glitzernden Ohrringen und golddurchwirkten Saris. Es war das erste Mal, dass sie aufbegehrten. Die Fabrikdirektoren jammerten, dass sie die Forderungen ihrer westlichen Auftraggeber nicht werden erfüllen können. Es gab Verletzte, Tote. Dann war wieder Ruhe.
Millionen von Menschen arbeiten in den Bekleidungsfabriken Bangladeschs. Die Textilindustrie ist der wichtigste Industriezweig des Landes. Knapp zehn Prozent aller Textilimporte von Europa kommen aus Bangladesch, das nach China und der Türkei der drittgrößte Exporteur von Kleidung nach Europa ist. In einer Umfrage unter den Einkaufschefs großer Modeunternehmen nannten mehr als drei Viertel der Befragten Bangladesch als das am stärksten aufstrebende Einkaufsland für Textil. Aber zu welchem Preis?
Nach Angaben der "Kampagne für Saubere Kleidung" starben in Bangladesch seit 2006 mehr als 470 Menschen bei Bränden in Textilfabriken. Die Sicherheitsmaßnahmen aber sind meist noch genau so lausig wie schon immer. Elektrokabel hängen ungeschützt von der Decke, Notausgänge sind verschlossen, wenn es überhaupt welche gibt. Fenster sind vergittert. Übungen zum Brandschutz? Meist unbekannt.
Gisela Burckhardt von der "Kampagne für Saubere Kleidung" kämpft seit Jahren für bessere Arbeitsbedingungen, für eine bessere Bezahlung und für bessere Sicherheitsmaßnahmen in der Branche. Sie hat Diagramme erstellen lassen, in denen gezeigt wird, wie sich der Preis der Kleider zusammensetzt: 50 Prozent Gewinn und Kosten des Einzelhandels, 25 Prozent Markenwerbung, 13 Prozent Fabrikkosten, 11 Prozent Transport und Steuern. Und nur ein Prozent Lohnkosten.
Vor ein paar Jahren hat sie Arbeiterinnen aus Bangladesch nach Deutschland eingeladen. Sie sollten der Ausbeutung ein Gesicht geben und den deutschen Käufern zeigen, wer den Preis zahlt für Kleidungsstücke, die so billig sind, dass man sich schämen muss.
Suma Sarker stand in ihrem glitzernden Gewand im Neonlicht eines Kik-Discounters in Mannheim und fuhr mit der Hand über die bunten Nähte kleiner Kinderhosen. Winzige Reisverschlüsse, zierliche Hosentaschen. 60 bis 70 dieser Taschen näht sie in der Stunde. Dann sah sie das Preisschild: 4,99 Euro. Und konnte es selbst nicht glauben, wie billig ihre Arbeit ist.
Die Frauen nähen wie Getriebene. Und auch das: Sie werden beleidigt, sexuell belästigt, geschlagen. Wer einer Gewerkschaft beitritt, riskiert es, den Job zu verlieren. Gisela Burckhardt kennt das schon, wenn ihre Telefone nicht mehr stillstehen nach einer Katastrophe wie dieser. Und in der Zeit dazwischen? Hat sie Mühe, das Thema zu den Menschen zu bringen.
Brandschutzabkommen werden von H&M und Gap verhindert
Sie sagt: "Es ist dringend notwendig, das Brandrisiko branchenweit zu bekämpfen. Nur wenn man Gewerkschaften vor Ort mit einbindet, wird sich etwas ändern." Immerhin: Tchibo und die US-Bekleidungsfirma PVH, zu der Marken wie Tommy Hilfiger und Calvin Klein gehören, haben ein Brandschutzabkommen mit Arbeitnehmervertretern vereinbart.Es kann allerdings erst in Kraft treten, wenn mindestens vier große Modefirmen mitmachen. Firmen wie H&M und Gap weigern sich bis jetzt. Gisela Burckhardt hofft nun auf Metro (Real, Kaufhof) und Lidl. Beide hat die "Kampagne für Saubere Kleidung" vor kurzem aufgefordert, das Brandschutzabkommen zu unterzeichnen. Bis jetzt - keine Antwort.
Das Problem ist nicht, dass es keine Zertifizierungssysteme gibt. Im Gegenteil. Allein deutschen Unternehmen stehen etwa 80 verschiedene Instrumente zur Verfügung. Viele Firmen haben außerdem selbst einen Code of Conduct oder Compliance-Richtlinien festgelegt. Aber Aufträge werden von Subunternehmer zu Subunternehmer weitergereicht. Die wenigsten Firmen kennen ihre Lieferkette. Gisela Burckhardt macht das wütend, wie sich die große Firmen seit Jahren herausreden. Sie will verhindern, dass es so ist wie immer: Es werden alle aufschreien.
Aber passieren wird - nichts.
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Mittwoch, 21. November 2012
Das Ungleichgewicht des Schreckens
original: http://www.tagesanzeiger.ch/ausland/naher-osten-und-afrika/Das-Ungleichgewicht-des-Schreckens/story/30251819
Eine Analyse von Christof Münger.
Gaza und Goma: Die Eskalation im Nahen Osten wird stark beachtet, jene im Kongo jedoch kaum. Die Hintergründe.
«Wenn das, was bei uns passiert, im Nahen Osten geschähe, gäbe es einen weltweiten Aufschrei», sagte ein Kongolese in Goma. Das war vor ein paar Jahren, als gerade die x-te Gewaltwelle über den Ostkongo hereinbrach. Einmal mehr wurden Unschuldige ermordet, Kindersoldaten verschleppt und Frauen jeden Alters vergewaltigt. Das kümmere niemanden, stellte der Hilfswerksmitarbeiter resigniert fest. Schon damals fiel es schwer zu widersprechen.
Seither hat sich nicht viel geändert. Das zeigt sich dieser Tage exemplarisch, weil die beiden Konflikte gleichzeitig eskaliert sind: Der Krieg zwischen Israel und der Hamas wird breit thematisiert, die Demokratische Republik Kongo ist hingegen nur ein Randthema. Damit kontrastieren die Opferzahlen: Während zuletzt gut hundert Palästinenser und einzelne Israelis getötet wurden, kamen allein bei einem Massaker in der Provinz Nord-Kivu fast 300 Menschen ums Leben.
Weshalb besteht dieses Ungleichgewicht des Schreckens? Einleuchtend ist erstens die Erklärung, dass uns Israel politisch und vor allem historisch und kulturell näher steht als ein afrikanisches Land. Deshalb schnellt der Puls bei jeder Eskalation im Gazastreifen in die Höhe, egal, ob nun Israel oder die Hamas kritisiert wird. Kommt hinzu, dass sich fast alle westlichen Regierungschefs äussern, wenn in Nahost geschossen wird, angefangen beim US-Präsidenten über die EU-Aussenbeauftragte bis zum Bundesrat. Und soeben ist der UNO-Generalsekretär wieder einmal in die Region gereist, um zu vermitteln; wird hingegen wie gestern Goma angegriffen, äussert sich allenfalls sein Sprecher in New York.
Unterschätzter Krieg im Kongo
Zweitens erlaubt der Konflikt im Nahen Osten im Gegensatz zu jenem im Kongo eine Identifikation. Je nach Standpunkt kann man Partei ergreifen. Die einen sind die Guten, die anderen die Bösen. Dagegen tritt im Kongo alle paar Monate eine neue Rebellengruppe auf, die Begriffe wie Demokratie oder Freiheit in ihrem Namen trägt, aber mordet und vergewaltigt. Das gilt selbst für die Regierungstruppen. Vor diesem scheinbaren Durcheinander haben die westlichen Medien längst kapituliert. Beachtung erhalten dagegen allerlei moderne Wunderwaffen, die im Nahen Osten vorgeführt werden – der dritte Punkt, der die Aufmerksamkeit fördert. Derzeit ist es der «Iron Dome», das neue Raketenabwehrsystem der Israelis. Ausserdem kommunizieren beide Seiten neuerdings über die digitale Gerüchteküche Twitter. In Goma hingegen wird nicht mit Hightech gemordet, sondern mit Macheten und ohne trendigen Tweet darüber.
Trotzdem ist der Fokus auf den Nahost-Konflikt nur bedingt nachvollziehbar. Denn er hat kaum jene globale Bedeutung, die ihm zugeschrieben wird. So galt nach 9/11 die Lösung des Palästinaproblems als Voraussetzung, um die al-Qaida zu besiegen. Inzwischen ist Osama bin Laden tot und seine Terrororganisation zumindest eingedämmt, Frieden in Nahost aber ferner denn je. Und auch die Mullahs in Teheran würden kaum ihre Atomwaffenpläne schubladisieren, wenn die Palästinenser endlich ihren Staat erhielten.
Die internationale Bedeutung des Krieges im Kongo hingegen wird unterschätzt. Dabei ist jeder, der auf seinem Smartphone die News aus dem Gazastreifen abruft, abhängig vom Kongo: Die Kondensatoren, die tropfenförmigen Perlen im labyrinthischen Inneren jedes Mobiltelefons und jedes Laptops, sind aus dem Metall Tantal hergestellt, das aus Coltan gewonnen wird, und dieses stammt hauptsächlich aus dem Ostkongo.
Rohstoffreservoir für den Reichtum des Westens
Damit hat der Kongo den Rohstoff für die Informationsrevolution geliefert, wie zuvor Kupfer und Kautschuk für die industrielle Revolution; auch das Uran für den Startschuss ins atomare Zeitalter kam aus dem Kongo. Seit dem 19. Jahrhundert ist der Subkontinent das Rohstoffreservoir für den Reichtum des Westens. Entsprechend haben hier die europäischen Grossmächte sowie Washington und Moskau um Einfluss gekämpft. Inzwischen hat China die Nase vorn; Anfang Woche hat Peking gar angekündigt, eigens für den Kongo einen Kommunikationssatelliten ins All zu schiessen – das ärmste Land der Welt ist von enormer strategischer Bedeutung. Das wird oft ignoriert, ganz zu schweigen vom Leid, das seinen Bewohnern regelmässig widerfährt, derzeit in Goma.
Eine Analyse von Christof Münger.
Gaza und Goma: Die Eskalation im Nahen Osten wird stark beachtet, jene im Kongo jedoch kaum. Die Hintergründe.
«Wenn das, was bei uns passiert, im Nahen Osten geschähe, gäbe es einen weltweiten Aufschrei», sagte ein Kongolese in Goma. Das war vor ein paar Jahren, als gerade die x-te Gewaltwelle über den Ostkongo hereinbrach. Einmal mehr wurden Unschuldige ermordet, Kindersoldaten verschleppt und Frauen jeden Alters vergewaltigt. Das kümmere niemanden, stellte der Hilfswerksmitarbeiter resigniert fest. Schon damals fiel es schwer zu widersprechen.
Seither hat sich nicht viel geändert. Das zeigt sich dieser Tage exemplarisch, weil die beiden Konflikte gleichzeitig eskaliert sind: Der Krieg zwischen Israel und der Hamas wird breit thematisiert, die Demokratische Republik Kongo ist hingegen nur ein Randthema. Damit kontrastieren die Opferzahlen: Während zuletzt gut hundert Palästinenser und einzelne Israelis getötet wurden, kamen allein bei einem Massaker in der Provinz Nord-Kivu fast 300 Menschen ums Leben.
Fünf Millionen Tote
Ohne
Zweifel ist jedes Opfer, hier wie dort, eines zu viel, und ohne Zweifel
ist der Schmerz der Angehörigen überall enorm. Trotzdem frappiert die
unterschiedliche Resonanz, insbesondere wenn man die Zahl der Toten
insgesamt vergleicht: Im arabisch-israelischen Konflikt kamen seit 1948,
dem Jahr, als Israel gegründet wurde, 110'000 bis 150'000 Menschen ums
Leben. Im Kongokrieg starben allein seit 1998 über 5 Millionen Menschen –
das öffentliche Interesse ist umgekehrt proportional.Weshalb besteht dieses Ungleichgewicht des Schreckens? Einleuchtend ist erstens die Erklärung, dass uns Israel politisch und vor allem historisch und kulturell näher steht als ein afrikanisches Land. Deshalb schnellt der Puls bei jeder Eskalation im Gazastreifen in die Höhe, egal, ob nun Israel oder die Hamas kritisiert wird. Kommt hinzu, dass sich fast alle westlichen Regierungschefs äussern, wenn in Nahost geschossen wird, angefangen beim US-Präsidenten über die EU-Aussenbeauftragte bis zum Bundesrat. Und soeben ist der UNO-Generalsekretär wieder einmal in die Region gereist, um zu vermitteln; wird hingegen wie gestern Goma angegriffen, äussert sich allenfalls sein Sprecher in New York.
Unterschätzter Krieg im Kongo
Zweitens erlaubt der Konflikt im Nahen Osten im Gegensatz zu jenem im Kongo eine Identifikation. Je nach Standpunkt kann man Partei ergreifen. Die einen sind die Guten, die anderen die Bösen. Dagegen tritt im Kongo alle paar Monate eine neue Rebellengruppe auf, die Begriffe wie Demokratie oder Freiheit in ihrem Namen trägt, aber mordet und vergewaltigt. Das gilt selbst für die Regierungstruppen. Vor diesem scheinbaren Durcheinander haben die westlichen Medien längst kapituliert. Beachtung erhalten dagegen allerlei moderne Wunderwaffen, die im Nahen Osten vorgeführt werden – der dritte Punkt, der die Aufmerksamkeit fördert. Derzeit ist es der «Iron Dome», das neue Raketenabwehrsystem der Israelis. Ausserdem kommunizieren beide Seiten neuerdings über die digitale Gerüchteküche Twitter. In Goma hingegen wird nicht mit Hightech gemordet, sondern mit Macheten und ohne trendigen Tweet darüber.
Trotzdem ist der Fokus auf den Nahost-Konflikt nur bedingt nachvollziehbar. Denn er hat kaum jene globale Bedeutung, die ihm zugeschrieben wird. So galt nach 9/11 die Lösung des Palästinaproblems als Voraussetzung, um die al-Qaida zu besiegen. Inzwischen ist Osama bin Laden tot und seine Terrororganisation zumindest eingedämmt, Frieden in Nahost aber ferner denn je. Und auch die Mullahs in Teheran würden kaum ihre Atomwaffenpläne schubladisieren, wenn die Palästinenser endlich ihren Staat erhielten.
Die internationale Bedeutung des Krieges im Kongo hingegen wird unterschätzt. Dabei ist jeder, der auf seinem Smartphone die News aus dem Gazastreifen abruft, abhängig vom Kongo: Die Kondensatoren, die tropfenförmigen Perlen im labyrinthischen Inneren jedes Mobiltelefons und jedes Laptops, sind aus dem Metall Tantal hergestellt, das aus Coltan gewonnen wird, und dieses stammt hauptsächlich aus dem Ostkongo.
Rohstoffreservoir für den Reichtum des Westens
Damit hat der Kongo den Rohstoff für die Informationsrevolution geliefert, wie zuvor Kupfer und Kautschuk für die industrielle Revolution; auch das Uran für den Startschuss ins atomare Zeitalter kam aus dem Kongo. Seit dem 19. Jahrhundert ist der Subkontinent das Rohstoffreservoir für den Reichtum des Westens. Entsprechend haben hier die europäischen Grossmächte sowie Washington und Moskau um Einfluss gekämpft. Inzwischen hat China die Nase vorn; Anfang Woche hat Peking gar angekündigt, eigens für den Kongo einen Kommunikationssatelliten ins All zu schiessen – das ärmste Land der Welt ist von enormer strategischer Bedeutung. Das wird oft ignoriert, ganz zu schweigen vom Leid, das seinen Bewohnern regelmässig widerfährt, derzeit in Goma.
Dienstag, 20. November 2012
Glencores Hinterhof - Wie Schweizer in Sambia Kupfer gewinnen
Nirgendwo sonst in Afrika wird so viel Kupfer produziert wie in
Mufulira. Der Schweizer Rohstoffkonzern Glencore betreibt in dieser
Stadt in Sambia mehrere Untertageminen und eine riesige Kupferhütte.
Mufulira heisst zu Deutsch „Ort des Reichtums“. «Reporter» zeigt ein
Portrait der Minenstadt und geht der Frage nach, wie die Einwohner vom
Rohstoffreichtum profitieren.
Glencore hat die Mine in Sambia 2001 übernommen und die Kupferproduktion massiv gesteigert. Dabei sind die Schwefeldioxid-Emissionen des Werks derart angestiegen, dass sie Gesundheitsschäden verursachen, wie der Chefarzt des Spitals, Makasa Sichela, erzählt: „Wenn die Fabrik viel Abgase ausstösst, werden hier Neugeborene mit Atemnot und Lungeninfektionen eingeliefert.“
Die Schweizer Besitzer sind daran die Kupferhütte zu erneuern. Dabei werden einige der Umweltprobleme nicht gelöst, sondern verlagert, wie Reporter Res Gehriger in Mufulira feststellt.
http://www.videoportal.sf.tv/video?id=c47c3175-53af-4a62-afa3-b9128ee90208
Glencore hat die Mine in Sambia 2001 übernommen und die Kupferproduktion massiv gesteigert. Dabei sind die Schwefeldioxid-Emissionen des Werks derart angestiegen, dass sie Gesundheitsschäden verursachen, wie der Chefarzt des Spitals, Makasa Sichela, erzählt: „Wenn die Fabrik viel Abgase ausstösst, werden hier Neugeborene mit Atemnot und Lungeninfektionen eingeliefert.“
Die Schweizer Besitzer sind daran die Kupferhütte zu erneuern. Dabei werden einige der Umweltprobleme nicht gelöst, sondern verlagert, wie Reporter Res Gehriger in Mufulira feststellt.
http://www.videoportal.sf.tv/video?id=c47c3175-53af-4a62-afa3-b9128ee90208
Freitag, 16. November 2012
Presse, Demokratie und Meinung. Eine Rede vor den Aktionären und Freunden der «Basler Zeitung»
Constantin Seibt am Dienstag den 13. November 2012 im
Tages-Anzeier Blog: Deadline, Journalismus im 21. Jahrhundert
http://blog.tagesanzeiger.ch/deadline/index.php/1769/presse-demokratie-und-meinung-eine-rede-vor-den-aktionaren-und-freunden-der-basler-zeitung/
Letzen Freitag veranstaltete die Besitzerin der BaZ, die Medienvielfalt Holding AG, einen geschlossenen Anlass zum Thema «Die Rolle der Medien in der Demokratie». Referenten waren Markus Spillmann, Chefredaktor der NZZ, Ruedi Matter, Direktor von Radio und Fernsehen, Roger Köppel, Verleger der «Weltwoche», und ich. Hier meine Rede.
Sehr geehrte Frau Präsidentin Masoni,
Sehr geehrter Herr Tettamanti,
Sehr geehrte Damen und Herren,
ich danke Ihnen für Ihre Einladung. Es ist ein Privileg, hier kurz über Journalismus und Demokratie nachzudenken, denn Journalismus ist ein Handwerk und Demokratie eine grosse Sache, und normalerweise sitzt man in seinem Büro mit halb geleerten Eisteeflaschen und halb fertigen Texten und denkt nicht an Demokratie.
Im Grund braucht es das auch nicht. Denn bei den spektakuläreren Momenten des Schreibens – den Momenten der Erkenntnis, des Zorns, des Witzes – ist man ganz bei sich und das ist gut so. Denn am stärksten ist Journalismus, wenn er so einfach wie möglich ist: Wenn er die Stimme eines einzelnen Menschen ist, der sagt, was er gesehen oder gedacht hat.
Der wichtigste Moment, wo ich im Alltag an die Wirkung, also das Publikum, also im weitesten Sinne an die Demokratie denke, passiert in den stillsten, unspektakulärsten Teilen des Textes. Dort, wo ich unauffällig Erklärungen nachschiebe, etwa, was zum Teufel ein Derivat ist oder wie sich eine Transaktion genau abspielt hat.
Ich feile oft am längsten an diesen stillen Passagen, denn sie müssen klar und genau sein, trotz aller Knappheit. Sie müssen Volkshochschule sein, ohne dass sie nach Volkshochschule klingen.
Denn das ist meine wichtigste Aufgabe als Journalist, mein Service an die Öffentlichkeit: präzis die Grundlagen zu liefern, von denen aus diskutiert werden kann. Mein Job ist, eine komplexe Welt verständlich zu machen, ohne ihre Komplexität zu verraten. Der Rest, nicht zuletzt meine Meinung, ist sekundär: Es ist der Anstrich des Hauses, nicht sein Fundament.
Die Anti-Mainstream-Strategie
Deshalb zweifle ich auch an der Art Journalismus, den Sie als Verein fördern. Sowohl handwerklich, als auch, ob dieser die Demokratie stützt. Ihre Medienvielfalt Holding AG hat bisher in ähnlicher Besetzung zwei Blätter neu lanciert: die «Weltwoche» und die «Basler Zeitung». Beide mit Herrn Tettamanti als Hauptaktionär, Herrn Matter als Banker, Herrn Wagner als Anwalt, Herrn Leutenegger als Verlagschef. Und mit Herrn Blocher als Hauptgesprächspartner des Chefredaktors.
Ihre Zeitungen sollen, wie Ihr Verein im Namen schon sagt, die Medien- und die Meinungsvielfalt fördern. Dazu, wie man in Interviews liest, wollen Sie Transparenz schaffen und Denkblockaden abbauen. Doch mit welchen Mitteln tun sie das?
Nun, wenn man die «Weltwoche» ansieht, so ist deren technischer Haupttrick, das Gegenteil vom sogenannten Mainstream zu schreiben. Das erscheint zunächst als gute Idee: Das Gegenteil der allgemeinen Gedanken ist oft ein inspirierender Gedanke. Die Frage ist nur, ob es auf lange Sicht eine kluge Strategie ist.
Ich glaube das nicht, aus folgenden Gründen:
Der Bau von Paralleluniversen
Denn die Aufgabe der Presse ist es ja, mal recht, mal schlecht, einen Mainstream herzustellen: eine holprige, vage, aber dennoch brauchbare Einigung über Fakten und Einschätzungen, auf Grund deren man debattieren kann.
Wenn aber nun mit Mainstream und Anti-Mainstream zwei Paralleluniversen mit je eigenen Fakten und Logiken bestehen, ist das ein Schaden für die Demokratie. Dann gibt es keine Gemeinsamkeiten, keine Grundlagen mehr, sondern nur noch Meinungen. Und Anhänger davon. Also zwei Lager, die nicht verschiedene Ansichten, sondern verschiedene Wirklichkeiten haben.
Es ist kein Wunder, dass die «Weltwoche» dieses Lagerdenken intern wie in ihren Artikeln immer stärker betont: Es gibt nur noch wir und ihr. Kein Wunder, schleichen sich paranoide Züge in ihre Weltsicht ein: Etwa, wenn sie ernsthaft behauptet, die seit mehr als 150 Jahren solid bürgerliche Schweiz werde in Wahrheit von getarnten Sozialisten regiert. Und typisch wie für jedes Lagerdenken ist ihre zunehmende Polizeimentalität: Politiker, Publizisten, Professoren erscheinen auf wie Fahndungsplakate gestalteten Titelblättern als Irrlehrer oder Landesverräter. Diese Art Grafik ist kein Scherz. Es ist ein Zeichen der Verachtung für alle, die die Meinung des Blatts nicht teilen.
So kommt es auch, dass – wegen ihrer Berechenbarkeit, aber auch ihrer Isolation – zwar die Kraft der «Weltwoche», Themen durchzusetzen, zunehmend erodiert. Nichts, was sie schreibt, überrascht mehr. Aber Ihr Drohpotential ist gewachsen: Schon wegen des engen Bündnisses mit dem reichsten Politiker des Landes wird die «Weltwoche» gefürchtet. Das nicht zuletzt in der Partei von Christoph Blocher selbst.
Investieren in den Realitätsverlust
Der Aufbau einer Parallelwelt ist aber auch gefährlich für Sie, meine Damen und Herren. Für alle, die an die «Weltwoche» glauben. Das grosse Vorbild für alle Medien, die vor allem politischen Einfluss suchen, ist Fox News. Fox hat den Durchbruch geschafft: Die republikanische Partei der USA hat mit der Speerspitze Fox ein eigenes, geschlossenes Mediensystem aus Radioshows, Magazinen und Blogs errichtet. Und damit ihre eigene Wahrheit, ihre eigenen Fakten, ihr eigenes Universum. Und hat sich dadurch zunehmend radikalisiert. So radikalisiert, dass nicht nur die Politik des ganzen Landes durch zwei Wirklichkeiten gelähmt ist. Sondern auch die republikanische Partei sich selbst sabotiert: Bei der jüngsten Wahl sorgten etwa vier ultrakonservative, steinreiche Milliardäre im Bündnis mit ultrakonservativen Fox-Moderatoren dafür, dass in den parteiinternen Vorwahlen die untauglichen Konkurrenten von Herrn Romney fast bis zum Schluss im Rennen blieben. Und ihn weit in ihre Parallelwelt nach Rechts trieben. Obwohl Präsidentschaftswahlen in der Mitte gewonnen werden.
Am Ende glaubte der unglückliche Kandidat Romney selbst an die Fox-Welt: Wie man jetzt liest, glaubte er tatsächlich, dass sämtliche Zahlen von neutralen Umfrageinstituten falsch seien. Also dass in Wahrheit er weit vorne liege, weil alle ausser den parteieigenen Spezialisten und den Fox-Experten sich irrten. Darauf baute Romney dann eine vollkommen falsche Kampagnentaktik. Die Niederlage traf den Kandidaten, sein Team, seine Geldgeber, die ganze Partei dann völlig unerwartet. Das Paralleluniversum zerschellte an der Wirklichkeit.
Sie, meine Damen und Herren, riskieren also als Investoren in eine mediale Gegenwelt mehr als nur viel Geld: den Realitätsverlust.
Denn die Denkverbote sind heute längst auf Ihrer Seite. Etwa wenn Roger Köppel sagt:
Die zwei grössten Probleme der BaZ
Damit zu Ihrem aktuellen Projekt, der «Basler Zeitung». Es ist unschwer zu erkennen, dass Sie damit versuchen, das Projekt «Weltwoche» zu kopieren, «die ja schon das Richtige tut», wie Ihr Hauptaktionär Tito Tettamanti sagt.
Und tatsächlich läuft alles wieder gleich ab: Sie haben Köppels langjährige Nummer zwei als Chefredaktor eingesetzt, wie in der ersten Zeit nach der Machtübernahme Köppels gibt es Verwirrung und Protest überall, der neue Chef beschwört – wie einst Köppel – den «Pluralismus»: und zwar mit demselben Konzept von Pluralismus als Polemik von beiden Seiten. In der Praxis heisst das: Einige linke Alt-Politiker schreiben Feigenblatt-Kolumnen, während wie damals bei der «Weltwoche» mehrere Säuberungswellen durch die Zeitung jagen. Die alten Redaktoren gehen, linientreues Personal kommt.
Die Frage bleibt, wie Sie hier Ihre grossen Ziele Medienvielfalt, Transparenz, Pluralismus verwirklichen wollen. Sie haben dabei mindestens zwei Probleme:
Kein Wunder, haben Sie mit ihrer Zeitung furchtbare Probleme: Die Auflage hat einen Viertel verloren, Herr Blocher hat bereits 20 Millionen eingeschossen und fungiert – wie erst letzte Woche in der «NZZ am Sonntag» – als Unternehmenssprecher, der die Strategie – eine «nackte Zeitung ohne Druckerei» – bekannt gibt. Und der politische Erfolg hält sich auch in Grenzen: Nach einer monatelangen Kriminalitätskampagne in der “Basler Zeitung” wurde kein einziger der Politiker, die in der BaZ darauf einstiegen, in die Regierung gewählt; und im Parlament gewann die SVP nur zwei kümmerliche Sitze dazu.
Diese Rechnung ist sogar für einen Milliardär teuer: 10 Millionen Franken pro gewonnenen Sitz in einem Regionalparlament.
Drei Ratschläge
Zum Schluss: Was sollten Sie tun?
Korrektur: Die SVP Basel gewann nach der ersten Auszählung der Briefstimmen 2 Sitze im Basler Grossrat. Doch das änderte sich. Nachdem zusätzlich auch die Urnen ausgezählt waren, war es nur einer. Das lässt die Kosten des gewonnenen Sitzes auf 20 Millionen Franken hochschnellen. So viel wie die Kosten des landesweiten SVP-Wahlkampfs in den Wahlen 2011. (Mit Dank an Renato Beck)
Letzen Freitag veranstaltete die Besitzerin der BaZ, die Medienvielfalt Holding AG, einen geschlossenen Anlass zum Thema «Die Rolle der Medien in der Demokratie». Referenten waren Markus Spillmann, Chefredaktor der NZZ, Ruedi Matter, Direktor von Radio und Fernsehen, Roger Köppel, Verleger der «Weltwoche», und ich. Hier meine Rede.
Sehr geehrte Frau Präsidentin Masoni,
Sehr geehrter Herr Tettamanti,
Sehr geehrte Damen und Herren,
ich danke Ihnen für Ihre Einladung. Es ist ein Privileg, hier kurz über Journalismus und Demokratie nachzudenken, denn Journalismus ist ein Handwerk und Demokratie eine grosse Sache, und normalerweise sitzt man in seinem Büro mit halb geleerten Eisteeflaschen und halb fertigen Texten und denkt nicht an Demokratie.
Im Grund braucht es das auch nicht. Denn bei den spektakuläreren Momenten des Schreibens – den Momenten der Erkenntnis, des Zorns, des Witzes – ist man ganz bei sich und das ist gut so. Denn am stärksten ist Journalismus, wenn er so einfach wie möglich ist: Wenn er die Stimme eines einzelnen Menschen ist, der sagt, was er gesehen oder gedacht hat.
Der wichtigste Moment, wo ich im Alltag an die Wirkung, also das Publikum, also im weitesten Sinne an die Demokratie denke, passiert in den stillsten, unspektakulärsten Teilen des Textes. Dort, wo ich unauffällig Erklärungen nachschiebe, etwa, was zum Teufel ein Derivat ist oder wie sich eine Transaktion genau abspielt hat.
Ich feile oft am längsten an diesen stillen Passagen, denn sie müssen klar und genau sein, trotz aller Knappheit. Sie müssen Volkshochschule sein, ohne dass sie nach Volkshochschule klingen.
Denn das ist meine wichtigste Aufgabe als Journalist, mein Service an die Öffentlichkeit: präzis die Grundlagen zu liefern, von denen aus diskutiert werden kann. Mein Job ist, eine komplexe Welt verständlich zu machen, ohne ihre Komplexität zu verraten. Der Rest, nicht zuletzt meine Meinung, ist sekundär: Es ist der Anstrich des Hauses, nicht sein Fundament.
Die Anti-Mainstream-Strategie
Deshalb zweifle ich auch an der Art Journalismus, den Sie als Verein fördern. Sowohl handwerklich, als auch, ob dieser die Demokratie stützt. Ihre Medienvielfalt Holding AG hat bisher in ähnlicher Besetzung zwei Blätter neu lanciert: die «Weltwoche» und die «Basler Zeitung». Beide mit Herrn Tettamanti als Hauptaktionär, Herrn Matter als Banker, Herrn Wagner als Anwalt, Herrn Leutenegger als Verlagschef. Und mit Herrn Blocher als Hauptgesprächspartner des Chefredaktors.
Ihre Zeitungen sollen, wie Ihr Verein im Namen schon sagt, die Medien- und die Meinungsvielfalt fördern. Dazu, wie man in Interviews liest, wollen Sie Transparenz schaffen und Denkblockaden abbauen. Doch mit welchen Mitteln tun sie das?
Nun, wenn man die «Weltwoche» ansieht, so ist deren technischer Haupttrick, das Gegenteil vom sogenannten Mainstream zu schreiben. Das erscheint zunächst als gute Idee: Das Gegenteil der allgemeinen Gedanken ist oft ein inspirierender Gedanke. Die Frage ist nur, ob es auf lange Sicht eine kluge Strategie ist.
Ich glaube das nicht, aus folgenden Gründen:
- Zunächst ist schon die Annahme seltsam, dass der Mainstream immer falsch liegt. Noch seltsamer ist die Annahme, dass er immer genau falsch liegt: um 180 Grad, so wie eine Kompassnadel, die stets nach Süden zeigt.
- Am Anfang kann man mit Anti-Mainstream die Leute verblüffen, ärgern, vielleicht sogar zum Denken, ja zum Ändern der eigenen Meinung bringen. Aber ziemlich bald ist diese Strategie nichts als negativer Opportunismus: Man sagt stets das Gegenteil des vermuteten Konsenses. Und ist dadurch im Kopf vom Mainstream genau so abhängig wie sonst nur der modischste Mensch. Und genau so blind: Denn es geht einem nicht um die Tatsachen, nur um die Meinungen über die Tatsachen in der Öffentlichkeit.
- Die Themenwahl eines solchen Blattes wird extrem berechenbar: Die eskalierende Finanzkrise – existiert nicht; Fukushima – war keine Katastrophe; Berlusconi und Putin – sind ehrenwerte Männer; das Weltklima – kühlt sich ab; Frauen – sind das regierende Geschlecht; Radioaktivität – ist gesund.
- Die Folge: Sie werden unglaubwürdig. Zwar wären viele Thesen – etwa dass Radioaktivität gesund, Bundesrätin Widmer-Schlumpf eine Landesverräterin oder der Klimawandel eine Massenverblendung von tausenden Experten ist – interessant. Aber dadurch, dass gar nichts anderes in dem Blatt stehen kann – also kein positives Wort über Widmer-Schlumpf, nicht, dass Fukushima doch eine Katastrophe war – ist ihr Dynamit nass geworden: Man hat nun bei jeder These in der «Weltwoche» das Gefühl, man müsse sie erst persönlich nachrecherchieren. Und dazu fehlt einem die Zeit. Ich habe ein Kind, einen Job, einen Blog und eine Liebe. Da bleibt kein Platz für die «Weltwoche».
- Das auch, weil das Blatt durch seine Berechenbarkeit längst kaum mehr aufregt. Es langweilt. Es langweilt immer mehr.
Der Bau von Paralleluniversen
Denn die Aufgabe der Presse ist es ja, mal recht, mal schlecht, einen Mainstream herzustellen: eine holprige, vage, aber dennoch brauchbare Einigung über Fakten und Einschätzungen, auf Grund deren man debattieren kann.
Wenn aber nun mit Mainstream und Anti-Mainstream zwei Paralleluniversen mit je eigenen Fakten und Logiken bestehen, ist das ein Schaden für die Demokratie. Dann gibt es keine Gemeinsamkeiten, keine Grundlagen mehr, sondern nur noch Meinungen. Und Anhänger davon. Also zwei Lager, die nicht verschiedene Ansichten, sondern verschiedene Wirklichkeiten haben.
Es ist kein Wunder, dass die «Weltwoche» dieses Lagerdenken intern wie in ihren Artikeln immer stärker betont: Es gibt nur noch wir und ihr. Kein Wunder, schleichen sich paranoide Züge in ihre Weltsicht ein: Etwa, wenn sie ernsthaft behauptet, die seit mehr als 150 Jahren solid bürgerliche Schweiz werde in Wahrheit von getarnten Sozialisten regiert. Und typisch wie für jedes Lagerdenken ist ihre zunehmende Polizeimentalität: Politiker, Publizisten, Professoren erscheinen auf wie Fahndungsplakate gestalteten Titelblättern als Irrlehrer oder Landesverräter. Diese Art Grafik ist kein Scherz. Es ist ein Zeichen der Verachtung für alle, die die Meinung des Blatts nicht teilen.
So kommt es auch, dass – wegen ihrer Berechenbarkeit, aber auch ihrer Isolation – zwar die Kraft der «Weltwoche», Themen durchzusetzen, zunehmend erodiert. Nichts, was sie schreibt, überrascht mehr. Aber Ihr Drohpotential ist gewachsen: Schon wegen des engen Bündnisses mit dem reichsten Politiker des Landes wird die «Weltwoche» gefürchtet. Das nicht zuletzt in der Partei von Christoph Blocher selbst.
Investieren in den Realitätsverlust
Der Aufbau einer Parallelwelt ist aber auch gefährlich für Sie, meine Damen und Herren. Für alle, die an die «Weltwoche» glauben. Das grosse Vorbild für alle Medien, die vor allem politischen Einfluss suchen, ist Fox News. Fox hat den Durchbruch geschafft: Die republikanische Partei der USA hat mit der Speerspitze Fox ein eigenes, geschlossenes Mediensystem aus Radioshows, Magazinen und Blogs errichtet. Und damit ihre eigene Wahrheit, ihre eigenen Fakten, ihr eigenes Universum. Und hat sich dadurch zunehmend radikalisiert. So radikalisiert, dass nicht nur die Politik des ganzen Landes durch zwei Wirklichkeiten gelähmt ist. Sondern auch die republikanische Partei sich selbst sabotiert: Bei der jüngsten Wahl sorgten etwa vier ultrakonservative, steinreiche Milliardäre im Bündnis mit ultrakonservativen Fox-Moderatoren dafür, dass in den parteiinternen Vorwahlen die untauglichen Konkurrenten von Herrn Romney fast bis zum Schluss im Rennen blieben. Und ihn weit in ihre Parallelwelt nach Rechts trieben. Obwohl Präsidentschaftswahlen in der Mitte gewonnen werden.
Am Ende glaubte der unglückliche Kandidat Romney selbst an die Fox-Welt: Wie man jetzt liest, glaubte er tatsächlich, dass sämtliche Zahlen von neutralen Umfrageinstituten falsch seien. Also dass in Wahrheit er weit vorne liege, weil alle ausser den parteieigenen Spezialisten und den Fox-Experten sich irrten. Darauf baute Romney dann eine vollkommen falsche Kampagnentaktik. Die Niederlage traf den Kandidaten, sein Team, seine Geldgeber, die ganze Partei dann völlig unerwartet. Das Paralleluniversum zerschellte an der Wirklichkeit.
Sie, meine Damen und Herren, riskieren also als Investoren in eine mediale Gegenwelt mehr als nur viel Geld: den Realitätsverlust.
Denn die Denkverbote sind heute längst auf Ihrer Seite. Etwa wenn Roger Köppel sagt:
Die Wirtschaft wird durch den Wettbewerb kontrolliert. Als Journalist kann ich mir nicht anmassen, Unternehmen oder das Management zu kritisieren. Kritische Unternehmensberichterstattung ist nicht Sache des Journalismus.Wenn ein Profi-Beobachter die halbe Welt aus der Kritik, ja überhaupt aus dem Blick ausschliesst, und dies einfach aus Prinzip, dann sollten Sie gewarnt sein: Das ist die Haltung eines bereits blinden Ideologen.
Die zwei grössten Probleme der BaZ
Damit zu Ihrem aktuellen Projekt, der «Basler Zeitung». Es ist unschwer zu erkennen, dass Sie damit versuchen, das Projekt «Weltwoche» zu kopieren, «die ja schon das Richtige tut», wie Ihr Hauptaktionär Tito Tettamanti sagt.
Und tatsächlich läuft alles wieder gleich ab: Sie haben Köppels langjährige Nummer zwei als Chefredaktor eingesetzt, wie in der ersten Zeit nach der Machtübernahme Köppels gibt es Verwirrung und Protest überall, der neue Chef beschwört – wie einst Köppel – den «Pluralismus»: und zwar mit demselben Konzept von Pluralismus als Polemik von beiden Seiten. In der Praxis heisst das: Einige linke Alt-Politiker schreiben Feigenblatt-Kolumnen, während wie damals bei der «Weltwoche» mehrere Säuberungswellen durch die Zeitung jagen. Die alten Redaktoren gehen, linientreues Personal kommt.
Die Frage bleibt, wie Sie hier Ihre grossen Ziele Medienvielfalt, Transparenz, Pluralismus verwirklichen wollen. Sie haben dabei mindestens zwei Probleme:
- Ihr Chefredaktor, Markus Somm, ist ein Mann, der sein halbes Leben lang sämtliche Leute als zu wenig links kritisierte. Heute kritisiert er sie als zu wenig rechts. Dieser Mann ist im Kern kein Journalist. Er ist nicht einmal ein politischer Mensch. Denn sein Standpunkt ist immer – links wie rechts – jenseits des politisch Möglichen. Sie haben als Boss einen Prediger gewählt.
- Sie, meine Damen und Herren, stehen selbst im Verdacht, Marionetten zu sein. Nehmen wir die berühmte Vorgeschichte Ihrer Übernahme der «Basler Zeitung»: Ein Parteiführer und Milliardär lässt im Geheimen seine Tochter eine Zeitung kaufen und schiebt gegenüber der Öffentlichkeit einen Flugunternehmer als Besitzer vor und gegenüber den Banken den ehemaligen Chef einer Grossbank. Und all das, um seinen Biographen als Chefredaktor einzusetzen. Das ist eine Geschichte, die klingt wie aus Russland. So etwas tun Oligarchen.
Kein Wunder, haben Sie mit ihrer Zeitung furchtbare Probleme: Die Auflage hat einen Viertel verloren, Herr Blocher hat bereits 20 Millionen eingeschossen und fungiert – wie erst letzte Woche in der «NZZ am Sonntag» – als Unternehmenssprecher, der die Strategie – eine «nackte Zeitung ohne Druckerei» – bekannt gibt. Und der politische Erfolg hält sich auch in Grenzen: Nach einer monatelangen Kriminalitätskampagne in der “Basler Zeitung” wurde kein einziger der Politiker, die in der BaZ darauf einstiegen, in die Regierung gewählt; und im Parlament gewann die SVP nur zwei kümmerliche Sitze dazu.
Diese Rechnung ist sogar für einen Milliardär teuer: 10 Millionen Franken pro gewonnenen Sitz in einem Regionalparlament.
Drei Ratschläge
Zum Schluss: Was sollten Sie tun?
- Nun, wenn Ihnen – trotz allen Argumenten – eine rechtskonservative Parallelwelt am Herzen liegt, dann deklarieren Sie die «Basler Zeitung» offen als Parteiblatt. Die Schweiz hat eine lange Tradition von Parteiblättern. Zwar waren diese meist gemässigter als die «Basler Zeitung», weil sie sich an der Basis der Partei orientierten. Und nicht am Chef. Aber es gibt enorm Kraft, nicht mehr dauernd Verstecken spielen zu müssen.
- Wenn Ihnen hingegen die Pressevielfalt am Herzen liegt, dann schaffen Sie mit Ihrem Geld, statt es in Basel zu verbrennen, eine Stiftung, die bestehenden kritischen Journalismus unterstützt. Meinetwegen auch nur konservativen. Denn die von Ihnen zu Recht kritisierte Uniformität in einigen Teilen der Presse geht nicht auf Denkverbote oder Ideologie zurück, sondern meist auf die Arbeitsbedingungen: auf Zeit-, also auf Geldmangel.
- Wenn Ihnen aber politische Ziele wie Deregulierung, Stärkung der Banken und Konzerne, sowie Einfluss von finanzkräftigen Individuen am Herz liegen, so tun sie am allerbesten: gar nichts. Denn Erfahrung zeigt: Je schlechter die Leute informiert sind, desto mächtiger sind die bereits Mächtigen. (Ein Beispiel hier.) Und bei der wirtschaftlich bedingten Schrumpfung der Presse regelt Ihr Anliegen diesmal tatsächlich am besten der, der angeblich alles regelt: der Markt.
Korrektur: Die SVP Basel gewann nach der ersten Auszählung der Briefstimmen 2 Sitze im Basler Grossrat. Doch das änderte sich. Nachdem zusätzlich auch die Urnen ausgezählt waren, war es nur einer. Das lässt die Kosten des gewonnenen Sitzes auf 20 Millionen Franken hochschnellen. So viel wie die Kosten des landesweiten SVP-Wahlkampfs in den Wahlen 2011. (Mit Dank an Renato Beck)
Donnerstag, 25. Oktober 2012
Unser täglich Gift
Alternative Links:
http://streamcloud.eu/i4xter97i3cq/sitin-unsertaeggift-xvid.avi.html
http://youtu.be/rAJv9m4eZcg
"Mit kaum etwas befasst sich die moderne Gesellschaft so obsessiv wie mit ihrem Essen. Ein Dokumentarfilm über Pestizide in Lebensmitteln will erklären, wie krank uns unsere Nahrung macht.
Als Arte vor drei Jahren die Dokumentation Monsanto - Mit Gift und Genen zeigte, stellten die Senderstrategen des Kulturkanals einen erstaunlichen Effekt fest. 1,8 Millionen Menschen sahen zunächst die Fernsehausstrahlung in Frankreich und Deutschland. In den folgenden sieben Tagen jedoch - so lange stehen Filme bei Arte in der Mediathek - wurde die Doku über den umstrittenen Hersteller von genverändertem Saatgut noch einmal 217586 Mal im Internet abgerufen. Ein erstaunlicher Wert für das sehr spezielle Thema.
Die Autorin Marie-Monique Robin will in ihrem Dokumentarfilm Unser täglich Gift das Thema "vom Acker des Bauern bis zum Teller des Verbrauchers" untersuchen. Schon mit ihrem Film über den Genmais Monsanto erregte sie viel Aufsehen. (© dpa)
Aufmerksam registrierte man beim Sender auch im Mai 2010 das große Interesse an einem Film über das Bienensterben. Mehr als eine halbe Million Menschen schalteten in Deutschland ein. Nun zeigt der französisch-deutsche Kanal erneut eine Dokumentation über Umweltgifte. Autorin Marie-Monique Robin hat sich drei Jahre nach ihrem Film über Monsanto mit chemischen Zusatzstoffen in unserer Nahrung auseinandergesetzt - also mit Pestiziden, Weichmachern, Farbstoffen, Geschmacksverstärkern.
Mit kaum etwas befasst sich die moderne Gesellschaft so obsessiv wie mit ihrem Essen - und es ist eine Geschichte der Beunruhigung. Fast fünfzig Jahre ist es her, dass der Familienvater Nicolas seinem Ärger Luft machte, in einem Schwarzweißfilm des Wissenschaftsjournalisten Jean Lallier zum Thema Ernährung. Eine Szene aus Le Pain et le Vin de l'an 2000 sieht man am Anfang von Robins Film.
Nicolas ist das Oberhaupt einer französischen Musterfamilie, aber während seine Frau und seine zwei Kinder am gedeckten Tisch brav essen, schimpft er nur vor sich hin. Er hat gehört, dass die Industrie nun auch noch ein Mittel entdeckt hat, das sein Brot besonders weich machen soll. Die Äpfel mit Insektiziden bespritzt und dann auch noch die Farbstoffe im Wein - oh là là! Es reicht ihm langsam. Nicolas findet, dass Studien gestartet werden sollten, um zu untersuchen, ob diese vielen Zusatzstoffe nicht gefährlich sind. "Wir müssten Experten dazu befragen."
Das war 1964 ein aufklärerischer Film, aber seine Fragen sind immer noch aktuell. Welche Auswirkungen haben Farbstoffe oder Rückstände von Pestiziden auf die Gesundheit? Bio-Boom, die Existenz einer Organisation wie Foodwatch und unzählige Magazinveröffentlichungen zu Ernährung, Allergien und anderen Krankheiten sprechen für das große Misstrauen in der Gesellschaft beim Thema Lebensmittelsicherheit.
Marie-Monique Robin gilt als engagierte Rechercheurin, die Provokationen nicht scheut; angreifbar hat sie sich 1995 mit einem Film über Organhandel gemacht, bei dem Details nicht stimmten. Für ihre Dokumentation Unser täglich Gift hat sie zwei Jahre lang in Europa, Nordamerika und Asien recherchiert. Ihr Film ist trotz des komplexen Themas sehr anschaulich: Fachbegriffe, Definitionen, Formeln und Zahlen weiß die Autorin zu erklären, und sie mischt die Daten mit Zeichnungen und historischem Filmmaterial. Sie demonstriert sozusagen Verständlichkeit als Mittel der Glaubwürdigkeit - umso dubioser wirkt da das Schweigen mancher Hersteller."
Quelle Süddeutsche
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Donnerstag, 20. September 2012
Goldman Sachs - Eine Bank lenkt die Welt
Die amerikanische Investmentbank Goldman Sachs ist in den letzten Jahren zum Symbol für Maßlosigkeit und ausufernde Spekulationen im Finanzbereich geworden. Ihre Geschäfte mit der Zahlungsunfähigkeit amerikanischer Privathaushalte haben sie zwar an den Rand des Bankrotts gebracht, aber letztlich wurde sie dank ihrer politischen Verbindungen vor dem Aus bewahrt. Auch gegen den Euro soll Goldman Sachs spekuliert haben und an der Wirtschaftskrise Griechenlands nicht unbeteiligt sein.
Der Dokumentarfilm gibt Einblicke in die Mechanismen der finanziellen und politischen Machenschaften der Bank.
Seit fünf Jahren steht die amerikanische Investmentbank Goldman Sachs für sämtliche Exzesse und Entgleisungen der Finanzspekulation. Durch hochspekulative Geschäfte mit der Zahlungsunfähigkeit der amerikanischen Privathaushalte konnte sich die Bank an der aktuellen Finanzkrise bereichern und wurde dank ihrer politischen Verbindungen selbst vor dem Bankrott bewahrt. Als die amerikanische Krise über den Atlantik nach Europa schwappte, wurde Goldman Sachs zu einem der Protagonisten der Euro-Krise: Die Bank soll gegen die europäische Einheitswährung spekuliert und die griechische Staatsschuldenbilanz mit Hilfe komplexer und undurchsichtiger Währungsgeschäfte geschönt haben. Als die europäischen Regierungen nacheinander dem Zorn der Wähler zum Opfer fielen, nutzte Goldman Sachs die Gunst der Stunde, um ihr komplexes Einflussgeflecht auf den alten Kontinent auszuweiten.
Goldman Sachs ist mehr als eine Bank. Sie ist ein unsichtbares Imperium, dessen Vermögen mit 700 Milliarden Euro das Budget des französischen Staates um das Zweifache übersteigt. Sie ist ein Finanzimperium auf der Sonnenseite, das die Welt mit seinen wilden Spekulationen und seiner Profitgier in ein riesiges Kasino verwandelt hat. Mit weltweit einzigartigen Verflechtungen und einem Heer aus 30.000 Bankern konnte Goldman Sachs auch in den letzten fünf Krisenjahren kräftige Gewinne einstreichen, seine Finanzkraft weiter ausbauen, seinen Einfluss auf die Regierungen stärken und sich vonseiten der amerikanischen und europäischen Justiz völlige Straffreiheit zusichern.
Das Geschäftsgebaren der Bank ist überaus diskret. Ihr Einfluss reicht weit in den Alltag der Bürger hinein - vom Facebook-Börsengang über die Ernennung des Präsidenten der Europäischen Zentralbank bis hin zum Lobbying gegen die Regulierung des Finanzsektors. Der Arm der Bank ist lang, und sie befindet sich stets auf der Gewinnerseite.
Der Dokumentarfilm gibt Einblicke in die Mechanismen der finanziellen und politischen Machenschaften der Bank.
Seit fünf Jahren steht die amerikanische Investmentbank Goldman Sachs für sämtliche Exzesse und Entgleisungen der Finanzspekulation. Durch hochspekulative Geschäfte mit der Zahlungsunfähigkeit der amerikanischen Privathaushalte konnte sich die Bank an der aktuellen Finanzkrise bereichern und wurde dank ihrer politischen Verbindungen selbst vor dem Bankrott bewahrt. Als die amerikanische Krise über den Atlantik nach Europa schwappte, wurde Goldman Sachs zu einem der Protagonisten der Euro-Krise: Die Bank soll gegen die europäische Einheitswährung spekuliert und die griechische Staatsschuldenbilanz mit Hilfe komplexer und undurchsichtiger Währungsgeschäfte geschönt haben. Als die europäischen Regierungen nacheinander dem Zorn der Wähler zum Opfer fielen, nutzte Goldman Sachs die Gunst der Stunde, um ihr komplexes Einflussgeflecht auf den alten Kontinent auszuweiten.
Goldman Sachs ist mehr als eine Bank. Sie ist ein unsichtbares Imperium, dessen Vermögen mit 700 Milliarden Euro das Budget des französischen Staates um das Zweifache übersteigt. Sie ist ein Finanzimperium auf der Sonnenseite, das die Welt mit seinen wilden Spekulationen und seiner Profitgier in ein riesiges Kasino verwandelt hat. Mit weltweit einzigartigen Verflechtungen und einem Heer aus 30.000 Bankern konnte Goldman Sachs auch in den letzten fünf Krisenjahren kräftige Gewinne einstreichen, seine Finanzkraft weiter ausbauen, seinen Einfluss auf die Regierungen stärken und sich vonseiten der amerikanischen und europäischen Justiz völlige Straffreiheit zusichern.
Das Geschäftsgebaren der Bank ist überaus diskret. Ihr Einfluss reicht weit in den Alltag der Bürger hinein - vom Facebook-Börsengang über die Ernennung des Präsidenten der Europäischen Zentralbank bis hin zum Lobbying gegen die Regulierung des Finanzsektors. Der Arm der Bank ist lang, und sie befindet sich stets auf der Gewinnerseite.
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Dienstag, 4. September 2012
Das Geheimnis des Bienensterbens
2006 machte die Nachricht aus den USA Schlagzeilen, Milliarden von Bienen seien verendet. Viele Bienenzüchter fanden leere Bienenstöcke vor. Die US-Regierung beauftragte eine Gruppe von Wissenschaftlern mit der Untersuchung dieses mysteriösen Sterbens, das sogleich einen eigenen Namen bekam: Colony Collapse Disorder (CCD; auf Deutsch: "Völkerkollaps"). Über die Ursachen gibt es bisher nur Vermutungen - Genmutation, neue Pestizide, Mobilfunkstrahlungen, ein Virus -, aber keine endgültige Erkenntnis. Seit vier Jahren investieren Regierungen und verschiedene wissenschaftliche Einrichtungen beachtliche Mittel in die Erforschung und mögliche Beseitigung der Ursache dieser programmierten Katastrophe. Hat die Wissenschaft eine Antwort gefunden? Kann sie die Bienen überhaupt retten?
Um diese Fragen zu beantworten, verfolgte der Dokumentarfilm "Das Geheimnis des Bienensterbens" die Arbeit verschiedener Wissenschaftlerteams, die mit unterschiedlichen Hypothesen die Ursachen der weltweiten Bedrohung der Honig- und Wildbienen zu verstehen versuchen. Der Film geht auch der Frage nach, wie es zu den radikalen Veränderungen im Verhältnis von Mensch und Biene kam, das sich lange Zeit im Gleichgewicht befand. Lange bevor das Colony Collapse Disorder in die Schlagzeilen geriet, hatten Wissenschaftler und Bienenzüchter den Schwund der Bienen und anderer Bestäuber festgestellt.
Bisher gibt es keine genauen Diagnosen der Wissenschaftler. Aber selbst wenn die Forschung die Ursachen dingfest macht, ist damit noch kein Heilmittel gefunden. Die Wissenschaft bleibt machtlos, solange landwirtschaftliche Produktionsmethoden nicht hinterfragt und verändert werden. Aber ist die Menschheit bereit, sich dieser Herausforderung zu stellen?
(Frankreich, Kanada, 2010, 89mn) ARTE F
Alternativer Link: https://www.youtube.com/watch?v=jL1e5v83EDI
Samstag, 4. August 2012
Bodenschätze: Wie Glencore Afrika ausnimmt
repost: http://beobachter.ch.msn.com/natur/bodensch%c3%a4tze-wie-glencore-%e2%80%a8afrika-ausnimmt
von: Martin Vetterli, Beobachter, Zuletzt aktualisiert: 30.07.2012
von: Martin Vetterli, Beobachter, Zuletzt aktualisiert: 30.07.2012
Bodenschätze: Wie Glencore Afrika ausnimmt
Entwicklungsländer exportieren immer mehr
Bodenschätze.
Doch reich werden damit nur die weltweit tätigen
Rohstoffkonzerne.
Zum Beispiel der Schweizer Riese Glencore im Kongo.
Meinrad SchadeWillis D.
Vaughn
Das Operationsfeld sind Staaten, die so schwach und korrupt sind, dass sie keine Gegenwehr leisten. Dort lassen Männer wie Glencore-Chef Ivan Glasenberg Erze in rauen Mengen abbauen. Die Milliardengewinne versteuern sie aber andernorts, wo die Steuersätze gegen null tendieren. Auf der Strecke bleiben Länder wie die Demokratische Republik Kongo, eines der ärmsten Länder der Welt. Auf dem Wohlstandsbarometer der Uno steht es auf Rang 187 von 187, auf dem Korruptionsindex auf Platz 168 von 182.
Für Entwicklungspolitiker ist der Kongo ein Alptraum. Nach drei Bürgerkriegen ist die Infrastruktur zerstört, der Staat ein Wrack. Vier von fünf Kongolesen leben von weniger als 20 Rappen am Tag. Vier von fünf haben keinen Zugang zu medizinischer Versorgung. Vier von fünf sind unterernährt. Die Jugendarbeitslosigkeit beträgt 70 Prozent. Jedes achte Kind stirbt vor dem ersten Geburtstag, eines von vier besucht die Schule. Das Land zählt 10'000 Festnetzanschlüsse – und 71 Millionen Einwohner.
Meinrad SchadeWillis D.
Vaughn
Auch die Gewinne werden exportiert: Kupfermine im Kongo
Glencore weiss, wie man Steuern umgeht
Dabei ist der Kongo mit Bodenschätzen gesegnet: Gold, Diamanten und das für die Computerindustrie wichtige Erz Coltan. In der Südprovinz Katanga liegen 80 Prozent der Kobalt- und 10 Prozent der weltweiten Kupferreserven. Vor 30 Jahren stammten 70 Prozent der Steuereinnahmen der Provinz aus dem Bergbau, 2006 waren es noch 7 Prozent. In Katanga baut auch der Zuger Branchengigant Glencore Kupfer ab. Sein Konzerngewinn liegt aktuell bei 4,1 Milliarden Dollar. Die Steuerquote ist ein Witz. 2010 fiel sie unter zehn Prozent – dank einer Unternehmensstrategie, die konsequent auf Steuervermeidung zielt.
Wie Glencore vorgeht, haben die christlichen Hilfswerke Fastenopfer und Brot für alle im Kongo recherchiert. Das erstaunliche Ergebnis: Die dortigen Glencore-Firmen schreiben rote Zahlen. Den Gewinn streichen die Glencore-Filialen ein, die Büros in Steuerparadiesen haben.
Die Hilfswerke werfen dem Rohstoffmulti vor, den Kongo in den letzten zwei Jahren um bis zu 196 Millionen Dollar geprellt zu haben. Gelder, die das Land für den Wiederaufbau dringend nötig hätte. Glencore verwendet es lieber anders. Etwa, um die Manager des Bergbaukonzerns Xstrata mit einem 370-Millionen-Franken-Almosen für eine Fusion gefügig zu machen. Das Vorhaben wurde Ende Juni vertagt; der Staatsfonds von Qatar, zweitgrösster Xstrata-Aktionär, will mehr Geld sehen.
Auch die kongolesische Glencore-Filiale Kamoto Copper Company (KCC) schreibt Verlust – zumindest offiziell. Laut einem Firmeninsider deklarierte sie 2011 gegenüber dem kongolesischen Staat 225 Millionen Dollar Verlust – eine Zahl, die sie nie öffentlich machte. Gemäss dem konsolidierten Bericht der Mutterfirma verdiente KCC aber 110 Millionen.
Die Gewinne flossen durch das Glencore-Firmensystem ab. Das funktioniert, weil KCC zu drei Vierteln fünf Glencore-Töchtern gehört, die eins gemeinsam haben: einen Firmensitz in einer Steueroase. Diese fünf sind im Besitz der in Toronto kotierten Katanga Mining. Die wiederum ist zu 75 Prozent in Glencore-Hand (siehe nachfolgende Grafik).
Meinrad SchadeWillis D.
Vaughn
Die Minenfirma Kamoto Copper Company weist gegenüber dem kongolesischen Staat Verluste aus – und muss deshalb nur ein Promille des Umsatzes versteuern. Die Gewinne streichen Glencore-Filialen in Steueroasen und der Mutterkonzern in der Schweiz ein.
Zehn Konzerne, 6000 Tochterfirmen
Die Glencore-Filialen hängen eng zusammen. So arbeitet die Zuger Katanga Mining Services für KCC. Dafür kassierte sie einen beträchtlichen Teil der 202,8 Millionen Dollar (2010: 111,5 Millionen), die das Minenunternehmen für «andere Serviceleistungen» ausweist. Ob diese zu marktüblichen Preisen verrechnet werden, lässt sich kaum überprüfen. Das gilt auch für die letztes Jahr bezahlten 208,3 Millionen Dollar Zinsen (2010: 190,2 Millionen), die KCC verschiedenen Glencore-Töchtern zahlte.
Im Kongo, wo die Unternehmenssteuern 30 Prozent betragen, fallen nur Verluste an. Versteuern muss KCC gemäss Minengesetz so nur ein Promille des Umsatzes. Zudem kann sie ihre Milliardeninvestitionen beschleunigt abschreiben und Verluste über fünf Jahre von späteren Gewinnen abziehen: 2008 beendete die Firma mit einem Minus von 1,25 Milliarden Dollar. Der Kupferpreis war eingebrochen, die Erträge sanken, man stufte den Wert der Kupferreserven ab, schob Projekte auf die lange Bank. Der Buchverlust ist eine Garantie, dass KCCs Steuerlast leicht bleibt.
Steuersparen mit komplexen Firmenstrukturen gehört zum Geschäft der Rohstoffbranche. Den zehn grössten Konzernen gehören 6038 Tochterfirmen. Jede dritte hat den Firmensitz in einer Steueroase. Bei Glencore ist fast die Hälfte der 46 Töchter in einem Steuertiefstland zu Hause.
Fastenopfer und Brot für alle vermuten auch, dass Glencore die Umsatzzahlen im Kongo manipuliert. Mutanda Mining, die andere Glencore-Minengesellschaft vor Ort, wies für 2011 eine Produktionsmenge von 63'700 Tonnen Kupfer aus. Eine Quelle, die die Zahlen kennen muss, sagt: Es waren 10'000 Tonnen mehr. Der Kongo verurteilte Katanga Mining Anfang Mai zu Steuernachzahlungen und einer Busse von 14,5 Millionen Dollar. Die Firma hatte im ersten Quartal zu tiefe Kupferexporte angegeben.
Laut den Hilfswerken beschäftigt KCC zudem im Kongo 136 Ausländer zu 100 Prozent – diese besitzen aber Beraterverträge ausländischer Glencore-Filialen. Für die Angestellten der perfekte Deal. Sie müssen im Kongo deutlich weniger als die sonst fälligen 25 Prozent an den Staat abliefern. Auch damit entgehen dem Land Millionen.
Der Kongo ist nicht das einzige Land, in dem Glencore aggressiv Steuern optimiert. Im benachbarten Sambia wies ihre Minengesellschaft Mopani zwischen 2000 und 2008 konstant Verluste aus. Externe Prüfer entdeckten Unregelmässigkeiten, etwa aufgeblasene Betriebskosten. Jetzt ermittelt eine Kommission des britischen Parlaments.
Für Glencore ist trotzdem «nicht nachvollziehbar», auf welcher Grundlage die Vorwürfe der beiden Hilfsorganisationen basieren. «Glencore hält sich an sämtliche Steuer- und anderen Vorschriften der Demokratischen Republik Kongo», teilt Sprecher Bernhard Schmid dem Beobachter mit. KCC und Mutanda hätten letztes Jahr dem Kongo 166 Millionen Dollar Steuern abgeliefert. Und die Steuerleistungen würden «in den nächsten Jahren substantiell wachsen, weil das gegenwärtig hohe Investitionsniveau entsprechende Einnahmen zu generieren beginnt». Auch habe die Zahl ausländischer Mitarbeiter «signifikant abgenommen». Man versuche, «wo immer möglich kongolesische Staatsangehörige zu beschäftigen».
USA und EU handeln, die Schweiz wartet ab
Die Konsequenzen aggressiver Steuervermeidung spüren alle Förderländer. Obwohl sich der Preis von Gold, Silber und Nickel verdreifachte, jener von Kupfer, Platin und Zinn auf das Vierfache kletterte, Blei fünfmal teurer wurde, blieben ihre Einnahmen zwischen 2003 und 2008 praktisch gleich. Laut Schätzungen der OECD entgehen den Entwicklungsländern jährlich 160 Milliarden Dollar Steuereinnahmen. Das ist deutlich mehr als die 125 Milliarden, die alle OECD-Länder zusammen in die Entwicklungszusammenarbeit investieren.
Gegen diese Form der Steuerflucht gäbe es ein wirksames Mittel: transparentere Konzernrechnungen. Müssten die Firmen wichtige Kennziffern wie Umsatz, Gewinn, Steuerkosten länderweise ausweisen, kämen unsaubere Steuerpraktiken eher ans Licht. Wenn etwa eine auf den Bahamas beheimatete Tochterfirma ohne Personal 10 Prozent des Konzerngewinns erzielt, liegt der Verdacht nahe, dass es sich um eine Briefkastenfirma handelt.
In den USA und in der EU gibt es Anstrengungen, dieses «Country-by-Country-Reporting» einzuführen, die Schweiz wartet jedoch ab. Glencore hält solche Pläne gar für «nicht nützlich». Die Kosten für eine Rechnungslegung nach Ländern stünden in keinem Verhältnis zum Erkenntnisgewinn, sagt ihr oberster Steuerexperte Tim Scott.
Ganz anders sieht es Andreas Missbach von der Erklärung von Bern: «Entwicklungsländer brauchen mehr als nur ausländische Hilfe, um dauerhafte Fortschritte in der Armutsbekämpfung zu machen. Sie müssen rasch ihre Steuereinnahmen erhöhen und den Kapitalabfluss eindämmen.» Steueroptimierung à la Glencore sei nur möglich, solange jede Tochterfirma separat besteuert werde. «Die Fiktion der Selbständigkeit verkennt, dass viele dieser Konstrukte einzig dem Zweck dienen, die Steuerzahlungen der Muttergesellschaft zu drücken.»
François Mercier von Fastenopfer sagt: «Wir wollen mit neuen Rechnungslegungsvorschriften ein Stück Transparenz schaffen.» Wenn klar werde, wie transnationale Konzerne Gewinne ins Ausland schaffen, könnten betroffene Länder besser reagieren – und etwa die Exporte stärker besteuern. «Wir sagen nicht, die Rohstoffkonzerne müssten raus aus dem Kongo. Sie sollen dort nur endlich fair Steuern zahlen.»
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Donnerstag, 21. Juni 2012
Kapitalismus der Dinge
reblog von: http://keimform.de/2012/kapitalismus-der-dinge/
Kapitalismus der Dinge
Von Stefan Meretz
Für mich waren die Commons in vielerlei Hinsicht eine Erleuchtung. Wenn Commons nicht bloß eine »Sache« ist, sondern vor allen die soziale Art und Weise, eine »Sache« herzustellen und zu erhalten, dann gilt das auch für die kapitalistische Elementareinheit, die Ware. Auch die Ware liegt nicht bloß im Regal und wartet darauf gekauft zu werden, sondern sie steht für die soziale Beziehung, die erforderlich ist, sie herzustellen (um Erhalten geht es selten).
Wenn das so ist, dann müsste man die »Sozialität« den Waren oder den Commons als Sachen auch ansehen. Sie müssten die sozialen Beziehungen, die »in sie geflossen sind« auch in ihrer Gestalt zeigen, dachte ich mir. Es ist so. Auf drastische Weise zeigt das der Film Behind the Screen.
Wieso soll man den Handy- und Computer-Waren ihre »Sozialität« ansehen, sie sehen doch im allgemeinen ganz schick aus, oder? Eben. So wie über die unmenschlichen Arbeitsbedingungen der Mantel des Schweigens gedeckt wird, erhält die Ware eine schickes Outfit. Do not open! Nicht hingucken und nicht reingucken.
Und schließlich das Ende der Waren. Ungefähr drei Viertel des Elektronikschrotts landet im Süden — deklariert als Gebrauchtgeräte, denn Müllexport ist verboten. Kinder brennen aus dem Schrott einige Metalle heraus, Kupfer und anderes, und setzen dabei Gifte frei, die sie töten werden: »Eine Menge der Kinder, die hier arbeiten, werden ihren 20. Geburtstag wohl nicht erleben«. Auch das zeigt der Film.
Ökonomen nennen die gemacht-unerwünschten Effekte Externalitäten. In Wikipedia-Worten sind es die »unkompensierten Auswirkungen ökonomischer Entscheidungen auf unbeteiligte Marktteilnehmer«. Unkompensiert, eine Verniedlichung, die das gängige Denkmuster zeigt. Denn wäre durch Kompensation etwas gewonnen? Wenn die Umwelt bereits zerstört ist und die Menschen schwer erkrankt oder gestorben sind? Sicher könnte man etwas »ausbessern« und »helfen«, im Nachhinein, aber eine Lösung wäre das nicht, eher eine Befestigung des schlechten Zustands.
Eine Lösung braucht eine neue Produktionsweise. Doch dieser Gedanke liegt völlig ausserhalb des ökonomischen Denkens. Wie eine Produktionsweise ohne destruktive Externalitäten aussehen kann, habe ich anderswo vorgestellt.
Für mich haben die Commons einen wichtigen Beitrag geleistet, um zu verstehen, dass es nicht reicht, innerhalb der bestehenden Produktionsweise andere Waren herzustellen, sondern dass die Produktion von Waren selbst das Problem ist. Warenproduktion ist nicht neutral, sondern sie verkörpert im unmittelbaren stofflichen Sinne — in den Produktionsmitteln und den Produkten — wozu sie dient: aus Geld mehr Geld zu machen. Der Film Behind the Screen liefert das (unkommentierte) Anschauungsmaterial.
Warenproduktion ist getrennte Privatproduktion. Diese Trennung erzeugt die Externalitäten, unter denen wir letztlich alle leiden (unbesehen der erheblichen Unterschiede). Commons bedeuteten im Kern Aufhebung der Trennung und Vermittlung der unterschiedlichen Bedürfnisse bevor produziert wird. Das ist ein Unterschied ums Ganze. Diese Potenz der Commons gilt es allerdings erst noch zu entfalten, aber sie wird auch weltweit immer mehr erkannt.
Wenn das so ist, dann müsste man die »Sozialität« den Waren oder den Commons als Sachen auch ansehen. Sie müssten die sozialen Beziehungen, die »in sie geflossen sind« auch in ihrer Gestalt zeigen, dachte ich mir. Es ist so. Auf drastische Weise zeigt das der Film Behind the Screen.
Wieso soll man den Handy- und Computer-Waren ihre »Sozialität« ansehen, sie sehen doch im allgemeinen ganz schick aus, oder? Eben. So wie über die unmenschlichen Arbeitsbedingungen der Mantel des Schweigens gedeckt wird, erhält die Ware eine schickes Outfit. Do not open! Nicht hingucken und nicht reingucken.
Was man sieht, wenn man mal hinguckt
… davon handelt der Film Behind the Screen. Er zeigt die zwei Seiten der Warenproduktion: vor der Nutzung durch einen Käufer und danach. Vor der Nutzung geht es um werbewirksame Leistung und Outfit. Für Handys und Computer werden weltweit seltene Rohstoffe eingekauft, die unter für Mensch und Umwelt unvollstellbar zerstörerischen Methoden gewonnen werden. Der Zusammenbau erfolgt in abgeschotteten Fabriken, die nur dann Schlagzeilen machen, wenn die Selbstmordrate der Arbeiterinnen ein gewisses Maß überschreitet.Und schließlich das Ende der Waren. Ungefähr drei Viertel des Elektronikschrotts landet im Süden — deklariert als Gebrauchtgeräte, denn Müllexport ist verboten. Kinder brennen aus dem Schrott einige Metalle heraus, Kupfer und anderes, und setzen dabei Gifte frei, die sie töten werden: »Eine Menge der Kinder, die hier arbeiten, werden ihren 20. Geburtstag wohl nicht erleben«. Auch das zeigt der Film.
Was man sieht, wenn man reinguckt
… dazu muss man schon den eigenen Blick schärfen. Sieht ja alles so schick aus, auch unter der Haube. Doch was sehen wir dort: Extrem hohe Integration der kleinsten Bauteile. Die Ware ist ein monolithischer Klotz. Unreparierbar mit in der Regel inkompatiblen Komponenten, sobald man die Grenzen des Geräts verlässt, und das soll auch so sein. Neukaufen bringt Profit, nicht selbst reparieren. Modularität, Kompatiblität, Interkonnektivität, Langlebigkeit, Wiederverwendbarkeit, Recyclebarkeit sind Fremdworte.Ökonomen nennen die gemacht-unerwünschten Effekte Externalitäten. In Wikipedia-Worten sind es die »unkompensierten Auswirkungen ökonomischer Entscheidungen auf unbeteiligte Marktteilnehmer«. Unkompensiert, eine Verniedlichung, die das gängige Denkmuster zeigt. Denn wäre durch Kompensation etwas gewonnen? Wenn die Umwelt bereits zerstört ist und die Menschen schwer erkrankt oder gestorben sind? Sicher könnte man etwas »ausbessern« und »helfen«, im Nachhinein, aber eine Lösung wäre das nicht, eher eine Befestigung des schlechten Zustands.
Eine Lösung braucht eine neue Produktionsweise. Doch dieser Gedanke liegt völlig ausserhalb des ökonomischen Denkens. Wie eine Produktionsweise ohne destruktive Externalitäten aussehen kann, habe ich anderswo vorgestellt.
Für mich haben die Commons einen wichtigen Beitrag geleistet, um zu verstehen, dass es nicht reicht, innerhalb der bestehenden Produktionsweise andere Waren herzustellen, sondern dass die Produktion von Waren selbst das Problem ist. Warenproduktion ist nicht neutral, sondern sie verkörpert im unmittelbaren stofflichen Sinne — in den Produktionsmitteln und den Produkten — wozu sie dient: aus Geld mehr Geld zu machen. Der Film Behind the Screen liefert das (unkommentierte) Anschauungsmaterial.
Warenproduktion ist getrennte Privatproduktion. Diese Trennung erzeugt die Externalitäten, unter denen wir letztlich alle leiden (unbesehen der erheblichen Unterschiede). Commons bedeuteten im Kern Aufhebung der Trennung und Vermittlung der unterschiedlichen Bedürfnisse bevor produziert wird. Das ist ein Unterschied ums Ganze. Diese Potenz der Commons gilt es allerdings erst noch zu entfalten, aber sie wird auch weltweit immer mehr erkannt.
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Montag, 11. Juni 2012
Commons. Für eine neue Politik jenseits von Markt und Staat
Und hier das ganze Buch online: http://ginger-and-lemon.ch/media/uploads/2012-04-buch-2012-04-buch-commons.pdf
Bei Immunität gegen die handelsübliche Medizin hilft auch eine höhere Dosierung nicht. Die Behandlung muss neu gedacht, das Medikament neu entwickelt werden.
Tatsächlich scheint Ressourcenübernutzung gegen 'mehr Markt' ebenso immun wie gegen 'mehr Staat'. Sozialem Ausschluss beugt der Markt ohnehin nicht vor. Und dem Staat gehen inmitten massiver Krisen die Handlungsspielräume aus. Wir brauchen nicht mehr vom Gleichen, sondern eine politische Programmatik und Kultur jenseits eingefahrener Gleise. Wir brauchen einen Abschied vom Markt-Staat-Duopol, ein alternatives ökonomisches Betriebssystem, eine andere politische Kultur und ein Denken in neuen Kategorien. Doch jeder Übergang zu einem neuen Paradigma setzt voraus, dass genügend Menschen aktiv Teil der Geschichte werden und sich diese neuen Kategorien in ihrer Lebenspraxis aneignen.
90 Autorinnen und Autoren aus aller Welt zeigen, dass dieses Umdenken schwierig, aber möglich ist - in Theorie und Praxis. Der aktuelle Sammelband "Commons. Für eine neue Politik jenseits von Markt und Staat" spiegelt die Aktualität der Commonsdebatte und macht Mut, Neues zu probieren, und Lust auf "commoning".
Mit einer Einführung von Silke Helfrich, Commons Strategies Group und Mit-Herausgeberin des Buches „Commons. Für eine neue Politik jenseits von Markt und Staat", anschließend diskutieren miteinander und mit ihnen
Dr. Hermann E. Ott, MdB Bündnis 90/Die Grünen und
Fabio Reinhardt, Mitglied Abgeordnetenhaus Berlin, Piratenpartei
Moderation: Julia Gechter, Filmemacherin
Zum Buch: http://www.boell.de/publikationen/publikationen-commons-fuer-eine-neue-politi...
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Dienstag, 5. Juni 2012
The radical revolution
Montag, 21. Mai 2012
Willkommen im Hype-Kapitalismus
Der Facebook-Börsengang war vor allem heisse Luft. Die Episode ist das Symptom eines Systems, das vom Hurra-Geschrei seiner Bewunderer und Profiteure lebt. Die grosse Glocke übertönt die Dauerkrise.
Die Medien überschlugen sich: Lohnschreiber tippten sich die Finger wund, TV-Reporter berichteten aufgeregt und live von der Börse und durch das Internet stapfte allenthalben der Firmengründer als Leitfigur: Hereinspaziert zum Hype-Kapitalismus, wie er sich beim insgesamt doch eher laschen Börsengang von Facebook manifestierte und als weiteres Anzeichen für die systemische Krise des geltenden Wirtschaftsmodells zu deuten ist.
Denn der Hype-Kapitalismus lebt vom übertünchenden Hurra-Geschrei seiner Bewunderer und Profiteure und paart sich mit den spekulativen Auswüchsen eines Finanz- und Bankenwesens, das in den Worten des ehemaligen US-Notenbankchefs Paul Volcker seit der Einführung des Bankomaten nichts mehr erschaffen hat, was der Allgemeinheit wirklich gedient hätte. Das geschäftige Gewusel des Hype-Kapitalismus wird zudem untermalt von kultischen Elementen, wie sie etwa bei der Vorstellung eines neuen iPads oder iPhone zu beobachten sind: Die Bühne wird zum Geschäftsmodell, der Entrepreneur zum Magier.
Kapitalismus als prickelnde Unterhaltung
Die wachsende und für das Funktionieren von Demokratien tödliche soziale Ungleichheit übersieht der Hype-Kapitalismus geflissentlich. Ihm geht es zuvorderst um prickelnde Unterhaltung sowie die Verklärung der «Job Creators» als Schaffer von Arbeitsplätzen und mithin Helden, deren Steuerlast möglichst niedrig sein muss und denen Angestellte und Bürger gefälligst auf den Knien zu danken haben.
Verglichen damit war der amerikanische Kapitalismus der fünfziger Jahre allemal erfolgreicher, allerdings mit Spitzensteuersätzen von rund 90 Prozent und einer gewerkschaftlich organisierten Arbeiterschaft, die am Segen wachsender Produktiviät teilhaben durfte und eben jene Mittelklasse konstituierte, die zunehmend ausfranst.
Die Schreihälse sind am Zug
Aber jetzt sind eben die Schreihälse am Zug, deren Modell vor allem einer grossen Glocke bedarf, an die möglichst lautstark alles gehängt wird, was sich vergolden oder versilbern lässt. Dass die Facebook-Aktie am Freitag an der New Yorker Börse wie ein alter Plastikeimer in der Brandung dümpelte, wird dem Hype-Kapitalismus ebensowenig Abbruch tun wie ein mögliches Absacken des Zuckerberg-Papiers, wenn zuerst die Leerverkäufer antreten und danach die Facebook-Insider ihre Aktien auf den Markt werfen.
Immerhin unterhielt die New Yorker Show am Freitag prächtig und lenkte obendrein von der allgemeinen Dauerkrise ab, obschon wir uns ausgiebiger mit Mark Zuckerbergs Hochzeit hätten befassen sollen und weniger mit seinem Börsengang. Die Verehlichung des Facebook-Gründers war schliesslich real und greifbar und wirklich.
Ein Kommentar von Martin Kilian, Washington. Aktualisiert am 20.05.2012, Tages-Anzeiger online
Mittwoch, 9. Mai 2012
Spekulation mit Lebensmitteln Allianz als Hungermacher
Spekulation mit Lebensmitteln Allianz als Hungermacher
09.05.2012, 10:53
Von Michael Bauchmüller und Alexander Hagelüken
Die Finanzwelt muss sich seit kurzem mit einem heiklen Thema befassen: Spekulation mit Nahrungsmitteln. Nun klagt die Entwicklungshilfeorganisation Oxfam die Allianz an. Der deutsche Versicherungskonzern verstärke den Hunger in der Welt. Geht es nach der Entwicklungshilfeorganisation Oxfam, wird es für den Allianz-Vorstand an diesem Mittwoch ungemütlich. Bei der Hauptversammlung in München werden kritische Aktionäre beantragen, den Vorstand nicht zu entlasten. Der Grund: Das Unternehmen spekuliere mit Nahrungsmitteln - und zwar wie kein zweiter deutscher Konzern. Die Finanzwelt muss sich seit dem vergangenen Herbst mit dem heiklen Thema befassen. Damals beschrieb ein Bericht der Organisation Foodwatch den Zusammenhang zwischen Nahrungsmittelspekulation und Hungersnöten. Als Nummer fünf im globalen Rohstoffhandel stand seinerzeit vor allem die Deutsche Bank am Pranger, die daraufhin zumindest zusagte, die fragwürdigen Geschäfte zu überprüfen. "Mit Besorgnis verfolgt auch die Deutsche Bank, dass immer wieder Menschen unter Nahrungsmittelknappheit leiden müssen", schrieb das Geldhaus wenige Monate später. Weitere "börsengehandelte Anlageprodukte auf der Basis von Grundnahrungsmitteln" würden nicht aufgelegt, so lange eigene Untersuchungen der Bank nicht abgeschlossen seien. Sie sind im Gange. Doch eine Studie von Oxfam, die der Süddeutschen Zeitung vorliegt, rückt nun auch den Münchner Allianz-Konzern in den Fokus. Nach Recherchen der Organisation handelt der Versicherer wie kein zweites deutsches Unternehmen an Warenterminbörsen mit Nahrungsmitteln. In fünf Fonds setze das Unternehmen demnach auf steigende Preise für landwirtschaftliche Erzeugnisse, insbesondere über die zum Konzern gehörende Kapitalanlage-Gesellschaft Pimco. Der Studie zufolge hatte die Allianz 2011 mehr als 6,2 Milliarden Euro in solche Fonds investiert, die Deutsche Bank knapp 4,6 Milliarden Euro. In einem globalen Markt, den Analysten auf rund 70 Milliarden Euro schätzen, kämen allein diese beiden Geldinstitute auf einen Anteil von rund 14 Prozent. Manche Anbieter haben die Reißleine gezogen Der Zusammenhang zwischen Termingeschäften und Hunger ist für Oxfam evident. Der Handel mit Agrar-Rohstoffderivaten stieg - einer Barclays-Untersuchung zufolge - von neun Milliarden Dollar im Jahr 2003 auf 99 Milliarden Dollar acht Jahre später. Schon ohne solche Geschäfte sei die Nahrungsmittelproduktion in armen Ländern in den vergangenen Jahren deutlich erschwert worden, schreibt Oxfam - sei es durch den Klimawandel, sei es wegen der Vertreibung von Kleinbauern durch Großinvestoren oder sei es aufgrund der zunehmenden Erzeugung von Biokraftstoffen auf Flächen, die vormals Nahrungsmittel abwarfen.Manche Anbieter haben die Reißleine gezogen Dadurch werde der Markt insgesamt instabiler, die Preise schwankten stärker. "Genau darauf wetten Nahrungsmittelspekulanten", heißt es in der Oxfam-Studie (Titel: "Mit Essen spielt man nicht"): "Sie beschleunigen existierende Trends und treiben Preisaufschläge auf die Spitze." Die Folge für die Ärmsten sei zwangsläufig Hunger. "Menschen in armen Ländern geben bis zu 80 Prozent ihres Einkommens für Nahrungsmittel aus", sagt Frank Braßel, Leiter der Oxfam-Kampagne. Die seien "den Preissprüngen durch die Spekulation mit Nahrungsmitteln schutzlos ausgeliefert". Die deutsche Finanzwirtschaft reagiert unterschiedlich auf die Vorwürfe. Während die Deutsche Bank zwar prüft, aber ansonsten bestehende Fonds einstweilen weiterlaufen lässt, haben die Deka-Fonds im vorigen Monat die Reißleine gezogen. Zwar seien die Auswirkungen noch nicht "hinreichend und abschließend" geklärt, argumentierte die Sparkassen-Finanzgruppe - allerdings gebe es auch keine Entwarnung. Weswegen sich die Deka aus dem Geschäft mit Grundnahrungsmitteln wie Weizen und Soja bis Ende des Jahres zurückziehe. Ein Allianz-Sprecher erklärt zu den Vorwürfen, Ursachen der hohen Nahrungsmittelpreise seien vor allem Bevölkerungswachstum, Klimawandel, politische Krisen oder Biosprit - und nicht der Derivatehandel. Für den Oxfam-Mann Braßel ist das kein Argument: "Viele der Gründe, warum Menschen hungern, können wir nicht beeinflussen. Aber die Spekulation mit Nahrungsmitteln könnten wir sofort stoppen." Aus Sicht der Allianz stellen sich die Dinge anders dar. Der Finanzkonzern investiere weniger als ein Prozent seiner Anlagen in Nahrungsmittelderivate. "Unsere Fonds setzen dabei nicht gezielt auf steigende Preise", sagt ein Sprecher, an den Finanzmärkten lasse sich ja auch auf fallende Preise setzen. Außerdem betont die Allianz, dass sie Geld in Hersteller von Düngemitteln oder Maschinen investiert - und die würden die Produktion von Nahrungsmitteln ankurbeln und den Hunger begrenzen. Kein Wunder, dass der Konzern die Oxfam-Forderung ablehnt, die Spekulation mit Nahrungsmitteln zu stoppen: "Ein Ausstieg steht zurzeit nicht zur Debatte."
sueddeutsche.de wirtschaft
Von Michael Bauchmüller und Alexander Hagelüken
Die Finanzwelt muss sich seit kurzem mit einem heiklen Thema befassen: Spekulation mit Nahrungsmitteln. Nun klagt die Entwicklungshilfeorganisation Oxfam die Allianz an. Der deutsche Versicherungskonzern verstärke den Hunger in der Welt. Geht es nach der Entwicklungshilfeorganisation Oxfam, wird es für den Allianz-Vorstand an diesem Mittwoch ungemütlich. Bei der Hauptversammlung in München werden kritische Aktionäre beantragen, den Vorstand nicht zu entlasten. Der Grund: Das Unternehmen spekuliere mit Nahrungsmitteln - und zwar wie kein zweiter deutscher Konzern. Die Finanzwelt muss sich seit dem vergangenen Herbst mit dem heiklen Thema befassen. Damals beschrieb ein Bericht der Organisation Foodwatch den Zusammenhang zwischen Nahrungsmittelspekulation und Hungersnöten. Als Nummer fünf im globalen Rohstoffhandel stand seinerzeit vor allem die Deutsche Bank am Pranger, die daraufhin zumindest zusagte, die fragwürdigen Geschäfte zu überprüfen. "Mit Besorgnis verfolgt auch die Deutsche Bank, dass immer wieder Menschen unter Nahrungsmittelknappheit leiden müssen", schrieb das Geldhaus wenige Monate später. Weitere "börsengehandelte Anlageprodukte auf der Basis von Grundnahrungsmitteln" würden nicht aufgelegt, so lange eigene Untersuchungen der Bank nicht abgeschlossen seien. Sie sind im Gange. Doch eine Studie von Oxfam, die der Süddeutschen Zeitung vorliegt, rückt nun auch den Münchner Allianz-Konzern in den Fokus. Nach Recherchen der Organisation handelt der Versicherer wie kein zweites deutsches Unternehmen an Warenterminbörsen mit Nahrungsmitteln. In fünf Fonds setze das Unternehmen demnach auf steigende Preise für landwirtschaftliche Erzeugnisse, insbesondere über die zum Konzern gehörende Kapitalanlage-Gesellschaft Pimco. Der Studie zufolge hatte die Allianz 2011 mehr als 6,2 Milliarden Euro in solche Fonds investiert, die Deutsche Bank knapp 4,6 Milliarden Euro. In einem globalen Markt, den Analysten auf rund 70 Milliarden Euro schätzen, kämen allein diese beiden Geldinstitute auf einen Anteil von rund 14 Prozent. Manche Anbieter haben die Reißleine gezogen Der Zusammenhang zwischen Termingeschäften und Hunger ist für Oxfam evident. Der Handel mit Agrar-Rohstoffderivaten stieg - einer Barclays-Untersuchung zufolge - von neun Milliarden Dollar im Jahr 2003 auf 99 Milliarden Dollar acht Jahre später. Schon ohne solche Geschäfte sei die Nahrungsmittelproduktion in armen Ländern in den vergangenen Jahren deutlich erschwert worden, schreibt Oxfam - sei es durch den Klimawandel, sei es wegen der Vertreibung von Kleinbauern durch Großinvestoren oder sei es aufgrund der zunehmenden Erzeugung von Biokraftstoffen auf Flächen, die vormals Nahrungsmittel abwarfen.Manche Anbieter haben die Reißleine gezogen Dadurch werde der Markt insgesamt instabiler, die Preise schwankten stärker. "Genau darauf wetten Nahrungsmittelspekulanten", heißt es in der Oxfam-Studie (Titel: "Mit Essen spielt man nicht"): "Sie beschleunigen existierende Trends und treiben Preisaufschläge auf die Spitze." Die Folge für die Ärmsten sei zwangsläufig Hunger. "Menschen in armen Ländern geben bis zu 80 Prozent ihres Einkommens für Nahrungsmittel aus", sagt Frank Braßel, Leiter der Oxfam-Kampagne. Die seien "den Preissprüngen durch die Spekulation mit Nahrungsmitteln schutzlos ausgeliefert". Die deutsche Finanzwirtschaft reagiert unterschiedlich auf die Vorwürfe. Während die Deutsche Bank zwar prüft, aber ansonsten bestehende Fonds einstweilen weiterlaufen lässt, haben die Deka-Fonds im vorigen Monat die Reißleine gezogen. Zwar seien die Auswirkungen noch nicht "hinreichend und abschließend" geklärt, argumentierte die Sparkassen-Finanzgruppe - allerdings gebe es auch keine Entwarnung. Weswegen sich die Deka aus dem Geschäft mit Grundnahrungsmitteln wie Weizen und Soja bis Ende des Jahres zurückziehe. Ein Allianz-Sprecher erklärt zu den Vorwürfen, Ursachen der hohen Nahrungsmittelpreise seien vor allem Bevölkerungswachstum, Klimawandel, politische Krisen oder Biosprit - und nicht der Derivatehandel. Für den Oxfam-Mann Braßel ist das kein Argument: "Viele der Gründe, warum Menschen hungern, können wir nicht beeinflussen. Aber die Spekulation mit Nahrungsmitteln könnten wir sofort stoppen." Aus Sicht der Allianz stellen sich die Dinge anders dar. Der Finanzkonzern investiere weniger als ein Prozent seiner Anlagen in Nahrungsmittelderivate. "Unsere Fonds setzen dabei nicht gezielt auf steigende Preise", sagt ein Sprecher, an den Finanzmärkten lasse sich ja auch auf fallende Preise setzen. Außerdem betont die Allianz, dass sie Geld in Hersteller von Düngemitteln oder Maschinen investiert - und die würden die Produktion von Nahrungsmitteln ankurbeln und den Hunger begrenzen. Kein Wunder, dass der Konzern die Oxfam-Forderung ablehnt, die Spekulation mit Nahrungsmitteln zu stoppen: "Ein Ausstieg steht zurzeit nicht zur Debatte."
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Montag, 30. April 2012
Good Food - Bad Food
Good Food Bad Food – Anleitung für eine bessere Landwirtschaft ist eine französische Dokumentation von Coline Serreau aus dem Jahr 2010.
Im Film werden Experten, Biologen und Landwirte befragt, die alle dasselbe Ziel verfolgen: eine Optimierung der Böden und die Wiederherstellung der Saatenvielfalt zum Schutz der Umwelt und für gesündere Lebensmittel. Die Protagonisten in Serreaus Film kämpfen nach Aussage des Films dagegen, "dass die Erde durch chemische Dünger und Pestizide vergiftet wird, dass das Saatgutangebot durch multinationale Konzerne auf ein Minimum beschränkt und die Bauern durch die Abhängigkeit zu diesen Konzernen oft in den Ruin getrieben werden."
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Samstag, 7. April 2012
WWF mit Monsanto
Der Pakt mit dem Panda
Die Dokumentation will die Geheimnisse des WWF ergründen. Sie wird zur einer Reise ins Herz des grünen Empire und sie erschüttert den Glauben an den Panda.
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Mittwoch, 14. März 2012
Die post-revolutionäre Möhre. Hier und Jetzt.
reblog: https://ecobasa.org/nkl/?p=201
Publiziert am Februar 29, 2012 von bine
Publiziert am Februar 29, 2012 von bine
Solidarische Landwirtschaft auf dem Weg zur Schenkökonomie
von Jan-Hendrik Cropp
Wir, ein Kollektiv von fünf „Gärtner_innen“, suchten uns eine Gruppe von 60 Personen, die „Begärtnerten“, die von uns durch die Bearbeitung von 5000 qm Ackerfläche im nordhessischen Witzenhausen-Freudenthal mit Gemüse von April bis November versorgt werden wollten. Zusammen formten wir eine verbindliche Gemeinschaft.
Wann und wieviel wir Gärtner_innen in diesem Projekt arbeiten, nein besser, tätig sein wollen, wurde von jedem einzelnen selbstverantwortlich und je nach Bedürfnissen (flexibel) festgelegt und im Kollektiv vereinbart. Der Teil unserer finanziellen Bedürfnisse („Lohn“), der über das Projekt befriedigt werden soll, wurde weitgehend unabhängig von dieser Tätigkeitszeit bestimmt und mit den laufenden Betriebskosten (ohne Investitionen) zu den Gesamtkosten (Budget) einer Jahresproduktion zusammengerechnet.
Die Begärtnerten boten dann anonym einen auf den Zeitraum der Produktion verbindlichen, monatlichen finanziellen Beitrag, der ihren Möglichkeiten entspricht. Von null Euro aufwärts war und ist alles möglich. Diese Zusage und andere Punkte (Entscheidungsfindung, Ausstiegsgründe, Scheiterkriterien, gemeinsame Übernahme von Verantwortung und Risiko, Kommunikation etc.) wurden in einer Vereinbarung schriftlich und verbindlich festgehalten und unterschrieben. Das zuvor beschriebene Budget wurde mit diesen freiwilligen finanziellen Beiträgen gedeckt, woraufhin der genaue Bedarf an Gemüse abgefragt und mit der Produktion des Gemüses begonnen wurde.
Die Ernte wird der Gemeinschaft von Begärtnerten in Depots frei zur Verfügung gestellt. Die Verteilung vor Ort organisiert die Gemeinschaft je nach den individuellen Bedürfnissen. Es gibt keine genormten „Gemüsekisten“, sondern jede_r nimmt, was gebraucht wird. Ein weiteres Mitwirken am Projekt durch Mitarbeit, Erntesicherung / Einmachen und das Einbringen von weiteren Fähigkeiten steht den Mitgliedern frei, ist aber erwünscht und wird gemeinsam organisiert.
Durch dieses Experiment sollen kapitalistische Prinzipien in unserem Verhältnis zueinander überwunden und transformiert werden:
Freiwilliges Beitragen und Schenken statt Tausch, Wert, Ware
Freies Tätigsein statt abstrakter Arbeit in Konkurrenz
Tätigkeit wird zu Arbeit und Arbeit zur Last, wenn unsere Produkte auf dem Markt einen Wert erzielen müssen oder wir primär für einen Lohn arbeiten.
In unserem Projekt müssen wir beides nicht: Wir liefern keine normierten Waren und unsere finanziellen Bedürfnisse werden von vornherein abgedeckt.
Daher können wir Anbauweise und Arbeitsabläufe frei bestimmen, um unsere und die Bedürfnisse anderer Menschen zu befriedigen.
Kommt es zu Problemen, lösen wir diese nicht wie in der Gesellschaft der Vereinzelten mit dem Ellenbogen und dem „Ausschalten von Konkurrenten“ sondern durch kollektive Lösungsfindung.
*Zur Entstehung dieses Textes: Er wurde von mir selbst als persönliche Reflexion verfasst und spricht deshalb hauptsächlich für mich. Allerdings wurde er auch der gesamten Gemeinschaft vorgelegt und etwaige Kommentare wurden berücksichtigt.
Knapp 11 Monate nach Beginn des Projektes haben sich allerdings einige Problemfelder in unserem Projekt aufgetan. Deren Analyse halte ich für wichtig, wenn Projekte über die Waren- und Tauschgesellschaft hinausweisen wollen:
Problemfeld 1
Der verinnerlichte Kapitalismus im Kollektiv
Das Problemfeld betrifft vor allem uns als Kollektiv von Gärtner_innen. Was Tausch und Geld im Kapitalismus so hervorragend machen, nämlich Menschen und Tätigkeiten zu vergleichen und gleichzusetzen, verschwindet in einem weniger kapitalistischen System nicht sofort. Diese Verhaltensweisen scheinen wir tief verinnerlicht zu haben. Wir, also einmalige Individuen, die im Kollektiv zusammenarbeiten, vergleichen weiterhin, wieviel Zeit wir in das Projekt investieren. Wir bekommen ein schlechtes Gewissen, weil wir „zu wenig“ tun, oder werden grummelig, weil wir „zu viel“ tun. Schnell kommt es zu Situationen, in denen wir uns für unsere Bedürfnisse (die ja so sind wie sie sind) rechtfertigen wollen, oder denken, dass wir es müssen. Oft ist es gar nicht das Kollektiv, das diesen Druck erzeugt, sondern wir, die Individuen selbst. Denn schließlich ist unser Kopf vom allgegenwärtigen Kapitalismus vollkommen durchzogen.
Eine schnelle Abhilfe für das Problem scheinen die üblichen Abstraktionen des Kapitalismus zu bieten. So geschieht es beizeiten auch in unserem Kollektiv: Ein Ruf nach einer Abstraktion der Zeit in greifbare „Arbeitsstunden“ oder „Urlaubszeiten“ wird laut. Und darauf aufbauend: Das Verlangen nach einem abstrakten Gerechtigkeitsbegriff. Statt zu sagen: „Es soll allen gut gehen mit dem, was und wieviel sie tun“, sagen wir schnell: „Alle sollen das gleiche Maß an Arbeit verrichten bzw. die gleiche Anzahl an Urlaubswochen haben“. Nicht nur, dass eine Stunde an einem Tag sich anfühlen kann wie acht Stunden an einem anderen. Nein, wer Arbeitsstunden normieren will, ist auch schnell dabei, die ganze Tätigkeit zu normieren: Was zählt als Arbeitszeit? Welche Tätigkeit ist wichtig, welche nicht? Was, wenn eine Person schneller oder „effizienter“ (was ist das?) arbeitet als die andere? Diese Fragen und Probleme und die Erkenntnis, dass es statt Gleichmacherei darum gehen sollte, dass sich alle Beteiligten wohl fühlen, führen diese Abstraktions-Versuche schnell ad absurdum.
Ähnlich schwierig zu akzeptieren scheint auch die Gleichgewichtung aller Tätigkeit außerhalb der Projektes zu sein. Es sollte schließlich egal sein, ob einzelne außerhalb des Projektes (freiwillig) an der Uni büffeln oder in der Badewanne mit einem Glas Sekt liegen und sich ein gutes Buch zu Gemüte führen. Diese Akzeptanz erfordert allerdings eine hohe Selbstverantwortung und ein gutes Reflexionsvermögen.
Hinzu kommt: Der Acker ist vor der Tür. Wir wohnen zwar in verschiedenen WGs, aber doch zusammen auf einem Hof, und die räumliche Nähe führt zu einem Gefühl sozialer Kontrolle, das die oben beschriebenen Tendenzen verstärkt. Wir bekommen schließlich alles von den anderen mit. Ob eine räumliche Distanz das Problem löst oder nicht vielmehr beiseite schiebt, bleibt dahingestellt. Eine Lösung wären klare Vereinbarungen (z.B. feste Tage und Zeiten, in denen man im Projekt tätig ist) und trotzdem ein flexibler Umgang damit (z.B. andere spontane Absprachen, wenn die Zeiten mal nicht passen), um den Bedürfnissen der einzelnen im Jetzt den angemessenen Respekt zu zollen. Dann kann kollektiv nach einer Problemlösung gesucht werden, statt individuelle Schuldzuweisungen und Selbstausbeutungs-Forderungen zu formulieren. Angenommen, eine_r von uns ist überlastet, dann kann so z.B. gemeinsam nach Mithilfe gesucht werden, um der_dem Betroffenen entsprechenden Freiraum zu gewähren. Dennoch bleibt diese Frage bestehen und muss kontinuierlich neu beantwortet werden: Wie stehen individuelle Bedürfnisse im Jetzt und Verantwortung für im Kollektiv getroffene Vereinbarungen zueinander? Klar ist beides wichtig. Eine Grenze ist allerdings überschritten, wenn selbstbestimmte Tätigkeit zu abstrakter, entfremdeter Arbeit wird und es Menschen dadurch mittelfristig schlecht geht.
Wenn Tätigkeit wieder zur abstrakten Arbeit wird (ein fließender Übergang?), wird „der Rest der Zeit“ schnell wieder zur „Freizeit“. Letzteres macht Spaß. Das erstere „muss getan werden“. Sollte die aktuelle „Arbeits“situation tatsächlich unerträglich sein, kann die Wiedereinführung dieser Trennung in Arbeit und Freizeit ein Rettungsanker sein. Eine Möglichkeit zu sagen: Bis hierher und nicht weiter. Dazu braucht es aber sehr wahrscheinlich die oben beschriebene Normierung von Zeit und Tätigkeit. Wenigstens für eine_n selbst: „Ich hab so und so viel gearbeitet – deshalb hab ich jetzt frei!“ Eine Überwindung dieser Trennung und ein konkretes Tätigsein statt einer abstrakten, entfremdeten Arbeit sollten aber weiterhin die Losung bleiben.
Auch in unserem Tätigsein können sich andere (z.B. feministische) Ansprüche verlieren. Wenn das Gemüse ruft und wir alle Hände voll zu tun haben, stellt sich stereotypes Verhalten ein und bleibt wenig Zeit, unsere Privilegien zu reflektieren und uns gegenseitig Fähigkeiten beizubringen, vor deren Aneignung wir sonst Scheu hätten. Oder ich (ein männlich sozialisierter Gärtner) habe den ganzen Tag auf dem Acker verbracht, komme zurück in meine WG und ärgere mich darüber, dass ich, gerade ich (!), es bin, der um neun Uhr Abends noch anfangen „muss“ (!) zu kochen und zu spülen, weil es niemand anderes gemacht hat. Als ob die anderen Mitbewohner_innen nichts zu tun gehabt hätten. Wir wollen die geschlechtliche Arbeitsteilung (produktiv / „männliche“ vs. reproduktiv / „weibliche“) überwinden? Pustekuchen!
Allgemein sei auch noch angemerkt, dass Landnutzung, um sie fachlich gut und angepasst betreiben zu können, ein mehrjähriges Engagement verlangt, das in Zeiten steigender Flexibilisierung und Unverbindlichkeit nicht so leicht organisierbar ist, wie es vielleicht auf den ersten Blick scheinen könnte. Wir haben uns im Kollektiv auch nur für ein Jahr zusammengetan.
In diesem Sinne abschließend noch ein kleiner Seitenhieb in Richtung Revolutionsromantiker: Selbstbestimmung und Selbstverantwortung entstehen also nicht automatisch mit dem Wegfall der kapitalistischen Strukturen. Dies ist zwar eine notwendige Voraussetzung. Hinreichend wird es aber erst, wenn wir uns vom Kapitalismus in unserem Kopf befreien. Und dies ist ein langwieriger, kollektiver genauso wie individueller Prozess.
Problemfeld 2
Lustprinzip und Verantwortung
Auch in einer nicht-kapitalistischen Gesellschaft braucht es Verantwortung und Verbindlichkeit. Wir haben einer Gruppe von 60 Menschen zugesagt, für sie Gemüse zu produzieren. Damit rechnen sie. Zwar kann durch den weiterhin bestehenden Zugang zum kapitalistischen Markt ein Ernteausfall durch den Gang zum Supermarkt oder Container abgefedert werden. Aber die Vermeidung eines solchen Rückgriffs ist ja erklärtes Ziel des Projektes. Zwar ist anzunehmen, dass eine vernetzte, nicht-kapitalistische landwirtschaftliche Produktion entsprechende Lücken in der Versorgung durch Risikostreuung (verschiedene Anbaustandorte etc.) überbrücken kann. Aber (vielleicht) nicht, wenn alle Beteiligten (v.a. die Produzierenden) unbedingt dem Lustprinzip („Ich mach, wozu ich Lust habe.“) folgen. Das Lustprinzip kann zwar eine Leitlinie sein. Allerdings ist Landnutzung vor allem die Kunst, den richtigen Zeitpunkt zu erwischen. Da kann die Witterung ein Handeln erzwingen, auf das mensch gerade keine Lust hat. Das erzeugt Druck. Druck, der aus gegenseitiger Abhängigkeit, Verantwortung und Verbindlichkeit und aus einem Arbeiten mit der Natur entsteht. Auch dieser wird in einer nicht-kapitalistischen Gesellschaft nicht gänzlich verschwinden. Wir mussten uns dieses Jahr zum Beispiel durch eine beispiellose Trockenheit kämpfen: Die Pflanzen warten nicht darauf, bis jemand Lust hat, sie zu gießen. Sie vertrocknen einfach. Diesen Druck erzeugen wir allerdings auch durch uns selbst. Lohnenswert bleibt deshalb darüber nachzudenken, welches Handeln wir gerade für unbedingt erforderlich halten und welches nicht. Wie weit wollen wir das Lustprinzip hinten runterfallen lassen? Was passiert mit meiner Lust, wenn alles vertrocknet und es nix mehr zu ernten gibt? Wie weit geht unsere Verantwortung für andere? Ähnlich wie bei der Balance zwischen Kollektiv und Individuum bleibt es auch bei Lustprinzip und Verantwortung ein Lernprozess, die Situationen richtig einzuschätzen und aus Fehlern zu lernen.
Problemfeld 3
Abhängigkeit vom Kapitalismus und die Frage nach dem technischen Niveau
Es ist leider unmöglich, das technische Niveau einer nicht-kapitalistischen landwirtschaftlichen Produktion abzusehen. Dafür müsste die Grundlage des technischen Potentials, nämlich die Rohstoffe dieser Erde, als globales Gemeingut eingerichtet werden. Dann könnte darüber verhandelt werden, ob überhaupt, wie und für welche Technik wir sie als Menschheit verwenden wollen. Die Ergebnisse dieses hypothetischen Aushandlungprozesses bleiben zwangsläufig unbekannt. Deshalb wird es zu dem Thema, welches technische Niveau einer nicht-kapitalistische Produktion angemessen ist, unterschiedlichste Einschätzungen geben.
Diese Unklarheit spielt in unserem landwirtschaftlichen Projekt folgendermaßen eine Rolle: Durch den Kauf moderner Technik greifen wir erstens auf die kapitalistische Gesellschaft und ihre Durchsetzungsmechanismen von Landraub, Vertreibung und Umweltzerstörung durch Rohstoffgewinnung und industrielle Produktion zurück. Deshalb können wir den Menschen, für deren Nahrungmittelversorgung wir Verantwortung übernehmen, nicht versprechen, dass es Traktoren und Landmaschinen in der heutigen Form in einer nicht-kapitalistischen Welt weiterhin geben wird. Schlimmer noch könnte es sein, dass das Wissen um weniger technisierte Anbauverfahren in der Zwischenzeit verloren geht und damit die Nahrungsmittelversorgung in Frage gestellt wird.
Ganz konkret entsteht durch den Rückgriff auf die kapitalistischen Durchsetzungsmechanismen besonders dann ein Bedürfniskonflikt, wenn ich mich nach Rationalisierung und effektiver „Arbeitswirtschaft“ statt „Selbstausbeutung“, durch arbeitserleichternde Landmaschinen sehne und sich auf der anderen Seite eine Bäuerin in Bergbaugebieten in Chile wünscht, dass ich dem kapitalistischen Zwangssystem, das ihre Lebensgrundlage zerstört, keinen Vorschub leiste, indem ich darauf basierende Waren kaufe.
Wollen oder können wir die Produktion von Landmaschinen nicht selbst organisieren, können wir dem Dilemma aus dem Weg gehen, indem wir die nicht-kapitalistische landwirtschaftliche Produktion mit wenig technisierten Verfahren organisieren und bei der Anschaffung neuer Geräte auf die lange Haltbarkeit, einfache Reparierbarkeit, Recycelbarkeit und Durchschaubarkeit der Technik achten, sowie deren ökologische Verträglichkeit in Produktion und Nutzung, sowie den Enfremdungsgrad für die Produzierenden und Nutzer_innen prüfen. Die eventuell entstehende Mehrarbeit in einem wenig technisierten System könnte auch, wenn gewollt, von der Gemeinschaft um das Projektkollektiv erledigt werden, um einem Gefühl der Selbstausbeutung und Monotonie der Hauptproduzierenden vorzubeugen.
Ein weiterer Schritt, um die Abhängigkeit vom Kapitalismus zu mindern, wäre es, die laufenden Kosten zu minimieren, d.h. das Produktions-System unabhängiger von Geld-Inputs zu machen. Größere Investitionen in Infrastruktur sollten dann nur getätigt werden, wenn sie uns langfristig unabhängiger von Geld-Inputs machen: ausgeklügelte Handmaschinen, Ölpressen zur Kraftstoffgewinnung, Infrastruktur / Geräte zur eigenen Saatgut-Gewinnung; oder andere Betriebe in das Netzwerk integrieren, die diese Möglichkeiten haben.
Problemfeld 4
Fehlende Selbstorganisation im Netzwerk und Erweiterung des Konzeptes
Genauso wie wir Gärtner_innen in unserem Tätigsein Aspekte der „arbeits-wahnsinnigen“ Gesellschaft verinnerlicht haben, so haben die „Begärtnerten“ sehr wahrscheinlich eine Konsumhaltung verinnerlicht. Gerade auch der freiwillige, monatliche finanzielle Beitrag kann diese Haltung verstärken. Während sich einige eine weitreichende Selbstorganisation als radikales Experiment gegen den Kapitalismus wünschen, ist anderen die „alternative Gemüsebeschaffungsmaßnahme“ revolutionär genug. Wichtig, um Enttäuschungen durch diese Tendenz vorzubeugen, kann die Formulierung der gemeinsamen Vision sein und darauf folgend die selbstbestimmte, aber verantwortliche Übernahme von anfallenden Aufgaben (in der oder um die Produktion herum) je nach den Fähigkeiten und Wünschen der „Begärtnerten“. In diesem Dialog können dann auch Hindernisse auf dem Weg der Selbstorganisation (Prioritätensetzung, Zeit- und / oder Geldmangel, fehlende Transparenz, Unlust etc.) gemeinsam beschrieben und überwunden werden.
Wenn die Vision auch eine Ausweitung der schenkökonomischen Prinzipien auf andere Lebensbereiche beinhaltet, macht es Sinn, eine Vernetzung mit anderen umsonstökonomischen Projekten anzustreben und zu forcieren. Innerhalb des Projektes wäre es weiterhin auch möglich, die Bedürfnis-Befriedigung der „Produzierenden“ (d.h. uns Gärtner_innen), nicht durch Geld, sondern durch die Fähigkeiten der Gemeinschaft zu decken. So könnte ein Begärtnerter, der gleichzeitig Arzt ist, andere in der Gemeinschaft, vor allem aber die Gärtner_innen, umsonst behandeln. Oder der Schlosser im Netzwerk könnte unsere Maschinen umsonst reparieren. Damit werden scheinbar erst mal unvermeidbare finanzielle Kosten (hier z.B. Geld für Krankenversicherung oder Werkstattkosten) irgendwann wegfallen.
Problemfeld 5
Investitionen in und Zugang zu Produktionsmitteln
Das oben beschriebene Budget beinhaltet weder den Kauf von Hof und Land noch die Investition in teurere Produktionsmittel. Hierfür müssen Lösungen gefunden werden: Zum Beispiel durch das Abschreiben und Einbeziehen der Investitionen in das Budget oder die Einrichtung eines Fonds für nicht-kapitalistische Projekte, in den geneigte und betuchte Menschen Gelder investieren, die dann entweder eine Sicherheit für Kredite bieten oder direkt für den Kauf von Produktionsmitteln verwendet werden. Beispiele dafür gibt es z.B. in Frankreich.
Diese Produktionsmittel sollten dann für ein langfristig angelegtes nicht-kapitalistisches Experiment unumkehrbar entprivatisiert werden. Dafür braucht es eine Rechtsform, die genau diese nicht-kapitalistischen, ökologischen Nutzungsbestimmungen festschreibt und verankert. Dies würde auch der Forderung Rechnung tragen, dass Land von jenen bewirtschaftet werden sollte, die es am ehesten im Einklang mit den Bedürfnissen der zu versorgenden Gemeinschaft und den ökologischen Gesetzmäßigkeiten nutzen.
Problemfeld 6
Der Zugang zu den zur Zeit begrenzten nicht-kapitalistischen Erzeugnissen
Ähnlich wichtig wäre die Beantwortung der Frage danach, wer Zugang zu den nicht-kapitalistischen landwirtschaftlichen Erzeugnissen bekommt. Nicht-kapitalistisches Gemüse ist unter jetzigen Verhältnissen ein begrenztes Gut. Die Wartelisten von uns ähnlichen Höfen zeigen auch, dass sich das Problem nicht „einfach“ bzw. kurzfristig mit der „Neugründung weiterer Projekte“ oder der „Vergrößerung“ bestehender Projekte lösen lässt. Dies wäre die ideale Lösung und ihr sollte die meiste Energie zufließen.
Wer hat also Zugang zu den Erzeugnissen? Diejenigen, die als erste da waren? Die mit den besseren persönlichen Connections? Auf jeden Fall nicht (nur) diejenigen, die (am meisten) zahlen? Oder jene, die die brauchbarsten Fähigkeiten einbringen? Wohl eher auch nicht. Schließlich geht es um die Entkoppelung von Geben und Nehmen. Ohne die Frage abschließend beantworten zu können, bleibt klar: Das finanzielle Budget des Projektes muss gedeckt werden. Und alle Beteiligten sollen glücklich sein. Im Ergebnis wohl ein weiterer Aushandlungsprozess.
Eine weitere Frage des Zugangs stellt sich, wenn wir reflektieren, dass unser Projekt zumeist aus Menschen der weißen Ober- und Mittelklasse besteht. Was ist mit sozial Ausgegrenzten? Wir stellen unser Gemüse zwar auch illegalisierten Migrant_innen in der Umgebung zur Verfügung. Diese sind allerdings nicht organisiert, wurden an den Stadtrand gedrängt, und es bestehen deshalb Barrieren auf Grund fehlender Mobilität (keine Fahrräder, kein Geld für die Öffentlichen), sozialer Isolation und auch unterschiedlicher Sprachen. Die Abholung und Verteilung der Produkte steht und fällt deshalb mit den wenigen Migrant_innen, bei denen diese Barrieren überwindbar sind und zu denen wir deshalb einen Kontakt aufbauen konnten. Hier wäre kontinuierlicher Austausch mit den Menschen vor Ort nötig. Einfacher hingegen könnte die Arbeit mit organisierten Zusammenhängen sein (z.B. Erwerblosen- und Flüchtlingsinitiativen), zu denen wir Kontakt aufzubauen versuchen.
Die Zukunft. Kommende Herausforderungen
Überzeugt von dem Potential dieser Idee erwarten wir, dass sich in Zukunft Fragen nach der Erweiterung auf zwei Ebenen stellen.
Wir könnten regional mehr Gemüse und auch mehr Produkte nach diesem Modell organisieren. Hier sind Imker_innen und Obstbäuer_innen bereits am Grübeln. Allerdings stellt sich die Frage der Organisierung neu, wenn immer mehr Menschen in einer Region Teil des Projektes werden. Wie können wir uns in Großgruppen methodisch organisieren? Ab wann müssen wir uns aufteilen und wollen wir delegieren?
Außerdem könnten wir uns überregional umschauen, wo unser Wein und unsere Avocados herkommen könnten. Wer stellt diese zu Verfügung? Was für Bedürfnisse haben deren Produzent_innen? Können wir dazu irgendetwas beitragen? Wird es dann nicht wieder zum Tausch? Kohl wollen sie in Spanien als Gegenleistung doch eh nicht haben.
Wenn die beschriebene Gegenseitigkeit also weiter ausgedehnt werden soll, wird es umso komplizierter. Es stellen sich ganze neue Fragen der Organisierung, Bedarfserfassung, Logistik, Ausstattung und Finanzierung. Fragen also, die wohl am besten im Tun beantwortet werden können.
Abschließend sei auch noch auf das „Netzwerk Solidarische Landwirtschaft“ (http://www.solidarische-landwirtschaft.org/) hingewiesen, das versucht bestehende, ähnliche Projekte zu vernetzen, Neugründungen zu unterstützen und die Idee in der Öffentlichkeit bekannter zu machen.
von Jan-Hendrik Cropp
Wir, ein Kollektiv von fünf „Gärtner_innen“, suchten uns eine Gruppe von 60 Personen, die „Begärtnerten“, die von uns durch die Bearbeitung von 5000 qm Ackerfläche im nordhessischen Witzenhausen-Freudenthal mit Gemüse von April bis November versorgt werden wollten. Zusammen formten wir eine verbindliche Gemeinschaft.
Wann und wieviel wir Gärtner_innen in diesem Projekt arbeiten, nein besser, tätig sein wollen, wurde von jedem einzelnen selbstverantwortlich und je nach Bedürfnissen (flexibel) festgelegt und im Kollektiv vereinbart. Der Teil unserer finanziellen Bedürfnisse („Lohn“), der über das Projekt befriedigt werden soll, wurde weitgehend unabhängig von dieser Tätigkeitszeit bestimmt und mit den laufenden Betriebskosten (ohne Investitionen) zu den Gesamtkosten (Budget) einer Jahresproduktion zusammengerechnet.
Die Begärtnerten boten dann anonym einen auf den Zeitraum der Produktion verbindlichen, monatlichen finanziellen Beitrag, der ihren Möglichkeiten entspricht. Von null Euro aufwärts war und ist alles möglich. Diese Zusage und andere Punkte (Entscheidungsfindung, Ausstiegsgründe, Scheiterkriterien, gemeinsame Übernahme von Verantwortung und Risiko, Kommunikation etc.) wurden in einer Vereinbarung schriftlich und verbindlich festgehalten und unterschrieben. Das zuvor beschriebene Budget wurde mit diesen freiwilligen finanziellen Beiträgen gedeckt, woraufhin der genaue Bedarf an Gemüse abgefragt und mit der Produktion des Gemüses begonnen wurde.
Die Ernte wird der Gemeinschaft von Begärtnerten in Depots frei zur Verfügung gestellt. Die Verteilung vor Ort organisiert die Gemeinschaft je nach den individuellen Bedürfnissen. Es gibt keine genormten „Gemüsekisten“, sondern jede_r nimmt, was gebraucht wird. Ein weiteres Mitwirken am Projekt durch Mitarbeit, Erntesicherung / Einmachen und das Einbringen von weiteren Fähigkeiten steht den Mitgliedern frei, ist aber erwünscht und wird gemeinsam organisiert.
Durch dieses Experiment sollen kapitalistische Prinzipien in unserem Verhältnis zueinander überwunden und transformiert werden:
Freiwilliges Beitragen und Schenken statt Tausch, Wert, Ware
- Niemand muss, alle können nach ihren Fähigkeiten (u.a. finanziell) beitragen.
- Bedürfnisse werden erhoben und ihnen entsprechend wird produziert. Daher werden den Leuten keine Waren mehr vor die Füße geschmissen, für die sie dann doch bitte auch ein Bedürfnis haben sollen; sondern Bedürfnisse werden formuliert und die Produktion wird dafür selbst organisiert.
- Die Produkte haben keinen Tausch- bzw. Geldwert. Damit werden Dinge nicht abstrakt gleichgesetzt wie im Kapitalismus: Alles, was einen Euro kostet, ist gleich viel „wert“. Alles, was nix kostet, ist nix „wert“.
- Daher entfällt Geld als primäre Wertschätzung und es kann mit neuen Formen der Wertschätzung experimentiert werden; durch Worte, Gesten und vor allem gegenseitige Verantwortung.
Freies Tätigsein statt abstrakter Arbeit in Konkurrenz
Tätigkeit wird zu Arbeit und Arbeit zur Last, wenn unsere Produkte auf dem Markt einen Wert erzielen müssen oder wir primär für einen Lohn arbeiten.
In unserem Projekt müssen wir beides nicht: Wir liefern keine normierten Waren und unsere finanziellen Bedürfnisse werden von vornherein abgedeckt.
Daher können wir Anbauweise und Arbeitsabläufe frei bestimmen, um unsere und die Bedürfnisse anderer Menschen zu befriedigen.
Kommt es zu Problemen, lösen wir diese nicht wie in der Gesellschaft der Vereinzelten mit dem Ellenbogen und dem „Ausschalten von Konkurrenten“ sondern durch kollektive Lösungsfindung.
*Zur Entstehung dieses Textes: Er wurde von mir selbst als persönliche Reflexion verfasst und spricht deshalb hauptsächlich für mich. Allerdings wurde er auch der gesamten Gemeinschaft vorgelegt und etwaige Kommentare wurden berücksichtigt.
Knapp 11 Monate nach Beginn des Projektes haben sich allerdings einige Problemfelder in unserem Projekt aufgetan. Deren Analyse halte ich für wichtig, wenn Projekte über die Waren- und Tauschgesellschaft hinausweisen wollen:
Problemfeld 1
Der verinnerlichte Kapitalismus im Kollektiv
Das Problemfeld betrifft vor allem uns als Kollektiv von Gärtner_innen. Was Tausch und Geld im Kapitalismus so hervorragend machen, nämlich Menschen und Tätigkeiten zu vergleichen und gleichzusetzen, verschwindet in einem weniger kapitalistischen System nicht sofort. Diese Verhaltensweisen scheinen wir tief verinnerlicht zu haben. Wir, also einmalige Individuen, die im Kollektiv zusammenarbeiten, vergleichen weiterhin, wieviel Zeit wir in das Projekt investieren. Wir bekommen ein schlechtes Gewissen, weil wir „zu wenig“ tun, oder werden grummelig, weil wir „zu viel“ tun. Schnell kommt es zu Situationen, in denen wir uns für unsere Bedürfnisse (die ja so sind wie sie sind) rechtfertigen wollen, oder denken, dass wir es müssen. Oft ist es gar nicht das Kollektiv, das diesen Druck erzeugt, sondern wir, die Individuen selbst. Denn schließlich ist unser Kopf vom allgegenwärtigen Kapitalismus vollkommen durchzogen.
Eine schnelle Abhilfe für das Problem scheinen die üblichen Abstraktionen des Kapitalismus zu bieten. So geschieht es beizeiten auch in unserem Kollektiv: Ein Ruf nach einer Abstraktion der Zeit in greifbare „Arbeitsstunden“ oder „Urlaubszeiten“ wird laut. Und darauf aufbauend: Das Verlangen nach einem abstrakten Gerechtigkeitsbegriff. Statt zu sagen: „Es soll allen gut gehen mit dem, was und wieviel sie tun“, sagen wir schnell: „Alle sollen das gleiche Maß an Arbeit verrichten bzw. die gleiche Anzahl an Urlaubswochen haben“. Nicht nur, dass eine Stunde an einem Tag sich anfühlen kann wie acht Stunden an einem anderen. Nein, wer Arbeitsstunden normieren will, ist auch schnell dabei, die ganze Tätigkeit zu normieren: Was zählt als Arbeitszeit? Welche Tätigkeit ist wichtig, welche nicht? Was, wenn eine Person schneller oder „effizienter“ (was ist das?) arbeitet als die andere? Diese Fragen und Probleme und die Erkenntnis, dass es statt Gleichmacherei darum gehen sollte, dass sich alle Beteiligten wohl fühlen, führen diese Abstraktions-Versuche schnell ad absurdum.
Ähnlich schwierig zu akzeptieren scheint auch die Gleichgewichtung aller Tätigkeit außerhalb der Projektes zu sein. Es sollte schließlich egal sein, ob einzelne außerhalb des Projektes (freiwillig) an der Uni büffeln oder in der Badewanne mit einem Glas Sekt liegen und sich ein gutes Buch zu Gemüte führen. Diese Akzeptanz erfordert allerdings eine hohe Selbstverantwortung und ein gutes Reflexionsvermögen.
Hinzu kommt: Der Acker ist vor der Tür. Wir wohnen zwar in verschiedenen WGs, aber doch zusammen auf einem Hof, und die räumliche Nähe führt zu einem Gefühl sozialer Kontrolle, das die oben beschriebenen Tendenzen verstärkt. Wir bekommen schließlich alles von den anderen mit. Ob eine räumliche Distanz das Problem löst oder nicht vielmehr beiseite schiebt, bleibt dahingestellt. Eine Lösung wären klare Vereinbarungen (z.B. feste Tage und Zeiten, in denen man im Projekt tätig ist) und trotzdem ein flexibler Umgang damit (z.B. andere spontane Absprachen, wenn die Zeiten mal nicht passen), um den Bedürfnissen der einzelnen im Jetzt den angemessenen Respekt zu zollen. Dann kann kollektiv nach einer Problemlösung gesucht werden, statt individuelle Schuldzuweisungen und Selbstausbeutungs-Forderungen zu formulieren. Angenommen, eine_r von uns ist überlastet, dann kann so z.B. gemeinsam nach Mithilfe gesucht werden, um der_dem Betroffenen entsprechenden Freiraum zu gewähren. Dennoch bleibt diese Frage bestehen und muss kontinuierlich neu beantwortet werden: Wie stehen individuelle Bedürfnisse im Jetzt und Verantwortung für im Kollektiv getroffene Vereinbarungen zueinander? Klar ist beides wichtig. Eine Grenze ist allerdings überschritten, wenn selbstbestimmte Tätigkeit zu abstrakter, entfremdeter Arbeit wird und es Menschen dadurch mittelfristig schlecht geht.
Wenn Tätigkeit wieder zur abstrakten Arbeit wird (ein fließender Übergang?), wird „der Rest der Zeit“ schnell wieder zur „Freizeit“. Letzteres macht Spaß. Das erstere „muss getan werden“. Sollte die aktuelle „Arbeits“situation tatsächlich unerträglich sein, kann die Wiedereinführung dieser Trennung in Arbeit und Freizeit ein Rettungsanker sein. Eine Möglichkeit zu sagen: Bis hierher und nicht weiter. Dazu braucht es aber sehr wahrscheinlich die oben beschriebene Normierung von Zeit und Tätigkeit. Wenigstens für eine_n selbst: „Ich hab so und so viel gearbeitet – deshalb hab ich jetzt frei!“ Eine Überwindung dieser Trennung und ein konkretes Tätigsein statt einer abstrakten, entfremdeten Arbeit sollten aber weiterhin die Losung bleiben.
Auch in unserem Tätigsein können sich andere (z.B. feministische) Ansprüche verlieren. Wenn das Gemüse ruft und wir alle Hände voll zu tun haben, stellt sich stereotypes Verhalten ein und bleibt wenig Zeit, unsere Privilegien zu reflektieren und uns gegenseitig Fähigkeiten beizubringen, vor deren Aneignung wir sonst Scheu hätten. Oder ich (ein männlich sozialisierter Gärtner) habe den ganzen Tag auf dem Acker verbracht, komme zurück in meine WG und ärgere mich darüber, dass ich, gerade ich (!), es bin, der um neun Uhr Abends noch anfangen „muss“ (!) zu kochen und zu spülen, weil es niemand anderes gemacht hat. Als ob die anderen Mitbewohner_innen nichts zu tun gehabt hätten. Wir wollen die geschlechtliche Arbeitsteilung (produktiv / „männliche“ vs. reproduktiv / „weibliche“) überwinden? Pustekuchen!
Allgemein sei auch noch angemerkt, dass Landnutzung, um sie fachlich gut und angepasst betreiben zu können, ein mehrjähriges Engagement verlangt, das in Zeiten steigender Flexibilisierung und Unverbindlichkeit nicht so leicht organisierbar ist, wie es vielleicht auf den ersten Blick scheinen könnte. Wir haben uns im Kollektiv auch nur für ein Jahr zusammengetan.
In diesem Sinne abschließend noch ein kleiner Seitenhieb in Richtung Revolutionsromantiker: Selbstbestimmung und Selbstverantwortung entstehen also nicht automatisch mit dem Wegfall der kapitalistischen Strukturen. Dies ist zwar eine notwendige Voraussetzung. Hinreichend wird es aber erst, wenn wir uns vom Kapitalismus in unserem Kopf befreien. Und dies ist ein langwieriger, kollektiver genauso wie individueller Prozess.
Problemfeld 2
Lustprinzip und Verantwortung
Auch in einer nicht-kapitalistischen Gesellschaft braucht es Verantwortung und Verbindlichkeit. Wir haben einer Gruppe von 60 Menschen zugesagt, für sie Gemüse zu produzieren. Damit rechnen sie. Zwar kann durch den weiterhin bestehenden Zugang zum kapitalistischen Markt ein Ernteausfall durch den Gang zum Supermarkt oder Container abgefedert werden. Aber die Vermeidung eines solchen Rückgriffs ist ja erklärtes Ziel des Projektes. Zwar ist anzunehmen, dass eine vernetzte, nicht-kapitalistische landwirtschaftliche Produktion entsprechende Lücken in der Versorgung durch Risikostreuung (verschiedene Anbaustandorte etc.) überbrücken kann. Aber (vielleicht) nicht, wenn alle Beteiligten (v.a. die Produzierenden) unbedingt dem Lustprinzip („Ich mach, wozu ich Lust habe.“) folgen. Das Lustprinzip kann zwar eine Leitlinie sein. Allerdings ist Landnutzung vor allem die Kunst, den richtigen Zeitpunkt zu erwischen. Da kann die Witterung ein Handeln erzwingen, auf das mensch gerade keine Lust hat. Das erzeugt Druck. Druck, der aus gegenseitiger Abhängigkeit, Verantwortung und Verbindlichkeit und aus einem Arbeiten mit der Natur entsteht. Auch dieser wird in einer nicht-kapitalistischen Gesellschaft nicht gänzlich verschwinden. Wir mussten uns dieses Jahr zum Beispiel durch eine beispiellose Trockenheit kämpfen: Die Pflanzen warten nicht darauf, bis jemand Lust hat, sie zu gießen. Sie vertrocknen einfach. Diesen Druck erzeugen wir allerdings auch durch uns selbst. Lohnenswert bleibt deshalb darüber nachzudenken, welches Handeln wir gerade für unbedingt erforderlich halten und welches nicht. Wie weit wollen wir das Lustprinzip hinten runterfallen lassen? Was passiert mit meiner Lust, wenn alles vertrocknet und es nix mehr zu ernten gibt? Wie weit geht unsere Verantwortung für andere? Ähnlich wie bei der Balance zwischen Kollektiv und Individuum bleibt es auch bei Lustprinzip und Verantwortung ein Lernprozess, die Situationen richtig einzuschätzen und aus Fehlern zu lernen.
Problemfeld 3
Abhängigkeit vom Kapitalismus und die Frage nach dem technischen Niveau
Es ist leider unmöglich, das technische Niveau einer nicht-kapitalistischen landwirtschaftlichen Produktion abzusehen. Dafür müsste die Grundlage des technischen Potentials, nämlich die Rohstoffe dieser Erde, als globales Gemeingut eingerichtet werden. Dann könnte darüber verhandelt werden, ob überhaupt, wie und für welche Technik wir sie als Menschheit verwenden wollen. Die Ergebnisse dieses hypothetischen Aushandlungprozesses bleiben zwangsläufig unbekannt. Deshalb wird es zu dem Thema, welches technische Niveau einer nicht-kapitalistische Produktion angemessen ist, unterschiedlichste Einschätzungen geben.
Diese Unklarheit spielt in unserem landwirtschaftlichen Projekt folgendermaßen eine Rolle: Durch den Kauf moderner Technik greifen wir erstens auf die kapitalistische Gesellschaft und ihre Durchsetzungsmechanismen von Landraub, Vertreibung und Umweltzerstörung durch Rohstoffgewinnung und industrielle Produktion zurück. Deshalb können wir den Menschen, für deren Nahrungmittelversorgung wir Verantwortung übernehmen, nicht versprechen, dass es Traktoren und Landmaschinen in der heutigen Form in einer nicht-kapitalistischen Welt weiterhin geben wird. Schlimmer noch könnte es sein, dass das Wissen um weniger technisierte Anbauverfahren in der Zwischenzeit verloren geht und damit die Nahrungsmittelversorgung in Frage gestellt wird.
Ganz konkret entsteht durch den Rückgriff auf die kapitalistischen Durchsetzungsmechanismen besonders dann ein Bedürfniskonflikt, wenn ich mich nach Rationalisierung und effektiver „Arbeitswirtschaft“ statt „Selbstausbeutung“, durch arbeitserleichternde Landmaschinen sehne und sich auf der anderen Seite eine Bäuerin in Bergbaugebieten in Chile wünscht, dass ich dem kapitalistischen Zwangssystem, das ihre Lebensgrundlage zerstört, keinen Vorschub leiste, indem ich darauf basierende Waren kaufe.
Wollen oder können wir die Produktion von Landmaschinen nicht selbst organisieren, können wir dem Dilemma aus dem Weg gehen, indem wir die nicht-kapitalistische landwirtschaftliche Produktion mit wenig technisierten Verfahren organisieren und bei der Anschaffung neuer Geräte auf die lange Haltbarkeit, einfache Reparierbarkeit, Recycelbarkeit und Durchschaubarkeit der Technik achten, sowie deren ökologische Verträglichkeit in Produktion und Nutzung, sowie den Enfremdungsgrad für die Produzierenden und Nutzer_innen prüfen. Die eventuell entstehende Mehrarbeit in einem wenig technisierten System könnte auch, wenn gewollt, von der Gemeinschaft um das Projektkollektiv erledigt werden, um einem Gefühl der Selbstausbeutung und Monotonie der Hauptproduzierenden vorzubeugen.
Ein weiterer Schritt, um die Abhängigkeit vom Kapitalismus zu mindern, wäre es, die laufenden Kosten zu minimieren, d.h. das Produktions-System unabhängiger von Geld-Inputs zu machen. Größere Investitionen in Infrastruktur sollten dann nur getätigt werden, wenn sie uns langfristig unabhängiger von Geld-Inputs machen: ausgeklügelte Handmaschinen, Ölpressen zur Kraftstoffgewinnung, Infrastruktur / Geräte zur eigenen Saatgut-Gewinnung; oder andere Betriebe in das Netzwerk integrieren, die diese Möglichkeiten haben.
Problemfeld 4
Fehlende Selbstorganisation im Netzwerk und Erweiterung des Konzeptes
Genauso wie wir Gärtner_innen in unserem Tätigsein Aspekte der „arbeits-wahnsinnigen“ Gesellschaft verinnerlicht haben, so haben die „Begärtnerten“ sehr wahrscheinlich eine Konsumhaltung verinnerlicht. Gerade auch der freiwillige, monatliche finanzielle Beitrag kann diese Haltung verstärken. Während sich einige eine weitreichende Selbstorganisation als radikales Experiment gegen den Kapitalismus wünschen, ist anderen die „alternative Gemüsebeschaffungsmaßnahme“ revolutionär genug. Wichtig, um Enttäuschungen durch diese Tendenz vorzubeugen, kann die Formulierung der gemeinsamen Vision sein und darauf folgend die selbstbestimmte, aber verantwortliche Übernahme von anfallenden Aufgaben (in der oder um die Produktion herum) je nach den Fähigkeiten und Wünschen der „Begärtnerten“. In diesem Dialog können dann auch Hindernisse auf dem Weg der Selbstorganisation (Prioritätensetzung, Zeit- und / oder Geldmangel, fehlende Transparenz, Unlust etc.) gemeinsam beschrieben und überwunden werden.
Wenn die Vision auch eine Ausweitung der schenkökonomischen Prinzipien auf andere Lebensbereiche beinhaltet, macht es Sinn, eine Vernetzung mit anderen umsonstökonomischen Projekten anzustreben und zu forcieren. Innerhalb des Projektes wäre es weiterhin auch möglich, die Bedürfnis-Befriedigung der „Produzierenden“ (d.h. uns Gärtner_innen), nicht durch Geld, sondern durch die Fähigkeiten der Gemeinschaft zu decken. So könnte ein Begärtnerter, der gleichzeitig Arzt ist, andere in der Gemeinschaft, vor allem aber die Gärtner_innen, umsonst behandeln. Oder der Schlosser im Netzwerk könnte unsere Maschinen umsonst reparieren. Damit werden scheinbar erst mal unvermeidbare finanzielle Kosten (hier z.B. Geld für Krankenversicherung oder Werkstattkosten) irgendwann wegfallen.
Problemfeld 5
Investitionen in und Zugang zu Produktionsmitteln
Das oben beschriebene Budget beinhaltet weder den Kauf von Hof und Land noch die Investition in teurere Produktionsmittel. Hierfür müssen Lösungen gefunden werden: Zum Beispiel durch das Abschreiben und Einbeziehen der Investitionen in das Budget oder die Einrichtung eines Fonds für nicht-kapitalistische Projekte, in den geneigte und betuchte Menschen Gelder investieren, die dann entweder eine Sicherheit für Kredite bieten oder direkt für den Kauf von Produktionsmitteln verwendet werden. Beispiele dafür gibt es z.B. in Frankreich.
Diese Produktionsmittel sollten dann für ein langfristig angelegtes nicht-kapitalistisches Experiment unumkehrbar entprivatisiert werden. Dafür braucht es eine Rechtsform, die genau diese nicht-kapitalistischen, ökologischen Nutzungsbestimmungen festschreibt und verankert. Dies würde auch der Forderung Rechnung tragen, dass Land von jenen bewirtschaftet werden sollte, die es am ehesten im Einklang mit den Bedürfnissen der zu versorgenden Gemeinschaft und den ökologischen Gesetzmäßigkeiten nutzen.
Problemfeld 6
Der Zugang zu den zur Zeit begrenzten nicht-kapitalistischen Erzeugnissen
Ähnlich wichtig wäre die Beantwortung der Frage danach, wer Zugang zu den nicht-kapitalistischen landwirtschaftlichen Erzeugnissen bekommt. Nicht-kapitalistisches Gemüse ist unter jetzigen Verhältnissen ein begrenztes Gut. Die Wartelisten von uns ähnlichen Höfen zeigen auch, dass sich das Problem nicht „einfach“ bzw. kurzfristig mit der „Neugründung weiterer Projekte“ oder der „Vergrößerung“ bestehender Projekte lösen lässt. Dies wäre die ideale Lösung und ihr sollte die meiste Energie zufließen.
Wer hat also Zugang zu den Erzeugnissen? Diejenigen, die als erste da waren? Die mit den besseren persönlichen Connections? Auf jeden Fall nicht (nur) diejenigen, die (am meisten) zahlen? Oder jene, die die brauchbarsten Fähigkeiten einbringen? Wohl eher auch nicht. Schließlich geht es um die Entkoppelung von Geben und Nehmen. Ohne die Frage abschließend beantworten zu können, bleibt klar: Das finanzielle Budget des Projektes muss gedeckt werden. Und alle Beteiligten sollen glücklich sein. Im Ergebnis wohl ein weiterer Aushandlungsprozess.
Eine weitere Frage des Zugangs stellt sich, wenn wir reflektieren, dass unser Projekt zumeist aus Menschen der weißen Ober- und Mittelklasse besteht. Was ist mit sozial Ausgegrenzten? Wir stellen unser Gemüse zwar auch illegalisierten Migrant_innen in der Umgebung zur Verfügung. Diese sind allerdings nicht organisiert, wurden an den Stadtrand gedrängt, und es bestehen deshalb Barrieren auf Grund fehlender Mobilität (keine Fahrräder, kein Geld für die Öffentlichen), sozialer Isolation und auch unterschiedlicher Sprachen. Die Abholung und Verteilung der Produkte steht und fällt deshalb mit den wenigen Migrant_innen, bei denen diese Barrieren überwindbar sind und zu denen wir deshalb einen Kontakt aufbauen konnten. Hier wäre kontinuierlicher Austausch mit den Menschen vor Ort nötig. Einfacher hingegen könnte die Arbeit mit organisierten Zusammenhängen sein (z.B. Erwerblosen- und Flüchtlingsinitiativen), zu denen wir Kontakt aufzubauen versuchen.
Die Zukunft. Kommende Herausforderungen
Überzeugt von dem Potential dieser Idee erwarten wir, dass sich in Zukunft Fragen nach der Erweiterung auf zwei Ebenen stellen.
Wir könnten regional mehr Gemüse und auch mehr Produkte nach diesem Modell organisieren. Hier sind Imker_innen und Obstbäuer_innen bereits am Grübeln. Allerdings stellt sich die Frage der Organisierung neu, wenn immer mehr Menschen in einer Region Teil des Projektes werden. Wie können wir uns in Großgruppen methodisch organisieren? Ab wann müssen wir uns aufteilen und wollen wir delegieren?
Außerdem könnten wir uns überregional umschauen, wo unser Wein und unsere Avocados herkommen könnten. Wer stellt diese zu Verfügung? Was für Bedürfnisse haben deren Produzent_innen? Können wir dazu irgendetwas beitragen? Wird es dann nicht wieder zum Tausch? Kohl wollen sie in Spanien als Gegenleistung doch eh nicht haben.
Wenn die beschriebene Gegenseitigkeit also weiter ausgedehnt werden soll, wird es umso komplizierter. Es stellen sich ganze neue Fragen der Organisierung, Bedarfserfassung, Logistik, Ausstattung und Finanzierung. Fragen also, die wohl am besten im Tun beantwortet werden können.
Abschließend sei auch noch auf das „Netzwerk Solidarische Landwirtschaft“ (http://www.solidarische-landwirtschaft.org/) hingewiesen, das versucht bestehende, ähnliche Projekte zu vernetzen, Neugründungen zu unterstützen und die Idee in der Öffentlichkeit bekannter zu machen.
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Donnerstag, 23. Februar 2012
Grundkurs »Marktwirtschaft«
reblog: http://keimform.de/2012/grundkurs-marktwirtschaft/
Hier anhören (54:36 Minuten):
oder hier als mp3 downloaden!
Galow-Bergemann stellt anschaulich dar, warum die Krise in die Grundkonstruktion der Marktwirtschaft eingebaut ist. Seine zentrale These, die Keimform-Leser_innen nicht wirklich überraschen dürfte, ist, dass stofflicher Reichtum und abstrakter Reichtum (der als Geld erscheint) auseinander fallen.Was bedeutet das?
An der heute zugespitzten Krise seien nicht »die Zocker« schuld (obwohl’s die auch gibt) oder »Staaten, die über ihre Verhältnisse gelebt« hätten, sondern die sich vergrößernde Differenz zwischen den beiden Reichtumsformen. Es müssten exponentiell wachsende Mengen Güter (stofflicher Reichtum) produziert werden, um den erforderlichen abstrakten Reichtum zu erzielen, damit die Marktwirtschaftsmaschine weiterläuft. Für diese Systemlogik könne man niemanden personal verantwortlich machen. Zugespitzt formuliert er am Schluss: »Die Krise ist da, weil sich alle richtig verhalten haben« — nämlich systemkonform.
Am Schluss greift er eine im Kalten Krieg im Westen populäre Forderung auf: »Die Mauer muss weg!« Allerdings meint er aktuell die Mauer zwischen dem riesigen stofflichen Reichtum, der ein gutes Leben für alle ermöglichen könnte, und der Form, in der dieser Reichtum alleine zugänglich ist: über das Geld. Wie aber die »Mauer weg kommt«, dazu sagt der Referent nichts. [via]
Von Stefan Meretz
Lothar Galow-Bergemann hat am passenden Ort (im Karl-Marx-Haus in Trier) einen Vortrag gehalten, der den Titel trägt »Warum kann die Politik die Misere der Wirtschaft nicht stoppen?« Zwar geht der Referent auch auf »die Politik« ein, aber das eigentlich nur am Rande. Der größte Teil des Vortrag ist eine sehr verständliche Einführung in die Marktwirtschaft (aka Kapitalismus).Hier anhören (54:36 Minuten):
Galow-Bergemann stellt anschaulich dar, warum die Krise in die Grundkonstruktion der Marktwirtschaft eingebaut ist. Seine zentrale These, die Keimform-Leser_innen nicht wirklich überraschen dürfte, ist, dass stofflicher Reichtum und abstrakter Reichtum (der als Geld erscheint) auseinander fallen.Was bedeutet das?
An der heute zugespitzten Krise seien nicht »die Zocker« schuld (obwohl’s die auch gibt) oder »Staaten, die über ihre Verhältnisse gelebt« hätten, sondern die sich vergrößernde Differenz zwischen den beiden Reichtumsformen. Es müssten exponentiell wachsende Mengen Güter (stofflicher Reichtum) produziert werden, um den erforderlichen abstrakten Reichtum zu erzielen, damit die Marktwirtschaftsmaschine weiterläuft. Für diese Systemlogik könne man niemanden personal verantwortlich machen. Zugespitzt formuliert er am Schluss: »Die Krise ist da, weil sich alle richtig verhalten haben« — nämlich systemkonform.
Am Schluss greift er eine im Kalten Krieg im Westen populäre Forderung auf: »Die Mauer muss weg!« Allerdings meint er aktuell die Mauer zwischen dem riesigen stofflichen Reichtum, der ein gutes Leben für alle ermöglichen könnte, und der Form, in der dieser Reichtum alleine zugänglich ist: über das Geld. Wie aber die »Mauer weg kommt«, dazu sagt der Referent nichts. [via]
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