Dienstag, 30. August 2016
Ethics of Consumption - cultural capitalism
In this RSA Animate, renowned philosopher Slavoj Zizek investigates the surprising ethical implications of charitable giving.
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Dienstag, 9. August 2016
Kinder in den USA
Original: https://www.dasmagazin.ch/2016/08/05/das-bose-lauert-uberall/
Das Böse lauert überall
Amerikas
Vorstadtstrassen sind wie leer gefegt, weil Eltern ihre Kinder nicht
mehr allein vor die Tür lassen, aus Angst, verhaftet zu werden.
Vertrauen ist das grösste Tabu, Paranoia oberste Pflicht. In den USA
grassiert die Furcht vor allem und jedem.
Das Magazin N°31/32 – 6. August 2016
In den
ersten Wochen fällt es einem gar nicht auf. Wer neu aus Europa in eine
durchschnittliche amerikanische Vorstadt zieht, der ist zunächst von der
geballten Ladung Idylle erschlagen, den netten Holzveranden, den
freundlichen Nachbarn, Jack und Cindy, die immerzu lächeln und Kuchen
vorbeibringen und am 4. Juli ihren Garten mit amerikanischen Fahnen
schmücken. Es müssen erst ein paar Monate vergehen, bis man merkt, dass
hier etwas nicht stimmt. Noch aber kommt man nicht drauf, blickt dafür
immer öfter verstohlen aus dem Fenster, weil man etwas sucht, weil hier
einfach etwas fehlt. Nur: was denn? Bis einem endlich die Augen
aufgehen.
Bei mir dauerte das ungefähr ein Jahr.
Als ich an einem späten Nachmittag mit dem Auto durch unser Quartier
fuhr, vorbei an Vorgärten mit Rasensprinklern, vorbei an adretten
Backsteinhäusern mit Basketballkorb an der Garage, sah ich es plötzlich
ganz deutlich. Es war, als hätte ich auf einmal eines dieser
Vexierbilder entschlüsselt und das andere Bild entdeckt im Bild. Nicht
mehr den alten Mann mit Glatze und Bart, sondern die nackte Frau. In
diesem Moment brach die amerikanische Vorstadtidylle zusammen, denn ich
sah – Tschernobyl.
Alles war wie immer, Cindys Blumen
strahlten um die Wette, in der Luft lag der Geruch von gemähtem Gras
dividiert durch gegrilltes Fleisch, doch endlich erkannte ich, was hier
fehlt: Kinder. Keine Mädchen mit Zöpfen. Keine Jungs mit aufgeschlagenen
Knien. Keine Kreidezeichnungen am Boden, lachende Sonnen und
Marienkäfer auf zwei Beinen. Kein Geschrei zu hören, kein «18–19–20, ich
koommeeee». In der Vorstadt, in der wir wohnen, zwanzig Minuten vom
Weissen Haus entfernt, ist es so gespenstisch leer wie in einem
dieser Roland-Emmerich-Filme über die Postapokalypse.
Jeden Donnerstag kommt bei uns die
Müllabfuhr vorbei, was bedeutet, dass sämtliche Anwohner am
Mittwochabend ihren Müll an die Strasse stellen. Und wenn man heimlich
in ihre Säcke schaut, dann sieht man durchaus Spuren von Kinderleben,
blaue Legokartons, Cornflakes-Schachteln in XXL-Familiengrösse,
Babynahrung mit Bananengeschmack – allein die Kinder sieht man nie.
Man kennt das Klischee, das die
Anti-Amerikaner unter uns, und davon gibt es in der Schweiz ja einige,
immer wiederholen: Amerikaner würden ihre Kinder halt lieber vor den
Fernseher setzen, während wir unsere draussen im Dreck wühlen lassen.
Doch es ist, wie bei allen Klischees, komplexer.
Man kennt auch die Berichte über
Helikoptereltern, die ihre Kinder überwachen und in Watte packen, als
würden sie unter der Glasknochenkrankheit leiden. Doch auch hier ist der
elterliche Überprotektionismus nur ein Symptom eines tiefer liegenden
Phänomens, das nicht nur die Kindererziehung, sondern das ganze Land
bestimmt: Die Angst geht um in Amerika.
Und plötzlich ergibt vieles Sinn, was man
anfänglich als anders oder seltsam empfand: Warum man in der Schule
täglich ein Formular unterschreiben muss, bevor man seine Kinder abholt.
Warum auf Kindergeburtstagen nur die aufs Trampolin dürfen, deren
Eltern eine schriftliche Bewilligung einreichen. Warum auf den
Spielplätzen und in Parks, wo sich durchaus Kinder finden lassen, immer
so viele Erwachsene herumstehen, die bei Not eingreifen und bei
Streitereien schlichten. Warum die Liste mit möglichen Nebenwirkungen,
auch wenn es sich nur um Kindermückenspray handelt, so endlos lang ist.
Und warum man vor allem so selten Kinder sieht, die sich ohne Aufsicht
irgendwo aufhalten. Weder in Bussen noch im Wald oder vor dem
Supermarkt. Im Schwimmbad sowieso nicht.
Erotische Beziehung zur Angst
Keine Woche vergeht ohne neue Angst.
Angst vor Terror, vor Muslimen und Mexikanern; vor zu vielen Waffen oder
davor, keine Waffen mehr tragen zu dürfen; vor heimischen Zecken,
südamerikanischen Zika-Viren und Atombomben aus Nordkorea; vor dem
sozialen Abstieg, schlechten Schulnoten, hohen Cholesterinwerten und vor
Schneefällen, die sich zu «Monsterstürmen» auftürmen könnten, wie es im
vergangenen Winter im Fernsehen hiess. Worauf die Anwohner in meiner
Vorstadt sämtliche Supermärkte leer kauften und sich im Keller
Notunterkünfte einrichteten, als würden sie sich auch ein wenig drauf
freuen. Als dann nach ein paar Tagen doch nur harmlose Schneeflocken vom
Himmel fielen, die sich puderzuckrig auf die Vorgärten legten, da waren
unsere Nachbarn Jack und Cindy nicht etwa empört, weil man sie in die
Irre geführt hatte und sie sich umsonst Sorgen machten. Sie waren
erleichtert und froh, dass alles noch einmal gut ausging. Kinder beim
Schlitteln allerdings sah ich keine.
Dafür wurden in jenem Winter sämtliche Sitzbänke vor den Schulen in der Umgebung abgeschraubt, weil man nicht will, dass die Kinder nach dem Unterricht auf dem Schulhof spielen und
sich die Eltern auf den Bänken ausruhen – wie man das bei Bahnhöfen
macht, um die Penner zu vertreiben. So will man aus
Versicherungsgründen, dass sich Eltern wie Kinder ohne Umwege sofort
nach Hause begeben, es könnte ja sonst etwas passieren.
Es ist eine Unart dieser Tage, dass kein einziger Bericht
über die USA ohne Verweis auf Donald Trump auskommt. Doch hier muss der
Immobilienspekulant, der sich durch die Vorwahlen pöbelte und nun gegen
Hillary Clinton antritt, erwähnt sein, denn natürlich ist der Aufstieg
Trumps ohne Amerikas erotische Beziehung zur Angst nicht zu verstehen.
Die Angst ist ein Lustgewinn, deshalb wird sie zelebriert und gepflegt,
und sie ist der Kitt in der amerikanischen Gesellschaft.
Mehrmals schon liess Danielle Meitiv ihre Kinder Rafi, 11, und Dvora, 8, allein in den Park, was hier ähnliche Reaktionen auslöst, als hätte sie ihnen zum Geburtstag Zigaretten geschenkt.
Während Barack Obama seit acht Jahren
vorgibt, alles immer im Griff zu haben, schürt Trump Ängste, wo er nur
kann. «Wir sind ein Land der Verlierer geworden und werden verspottet»,
sagt er dauernd, worauf seine Anhänger johlen, als hätte er ihnen eine
Gehaltserhöhung versprochen. Die Furcht vor dem eigenen Niedergang entfacht gleichzeitig Begeisterung, weil sie zusammenhält:
Wir gegen die. Und wo kräftig mit Angst gedüngt wird, da gedeiht Hass,
das weiss man aus der europäischen Geschichte.
Nüsse sind verboten, Schokolade ist erlaubt
Die Angst um die Kinder ist aber vielleicht die intimste,
sie sagt viel aus über den Zustand dieses Landes und verunsichert eine
ganze Generation junger Eltern, die doch nur das Beste für ihre Kinder
wollen, aber bei all den Schauermärchen und ob all der Panikmache nicht
mehr wissen, was das Beste ist. Hinzu kommt, dass sie sich mit einer
Fülle von Gesetzen herumschlagen müssen, die von Staat zu Staat
variieren: Wer Kinder ohne Aufsicht auch nur für wenige Minuten im Auto
lässt, in einem Park oder nur schon zu Hause, wer fremden Schulmädchen
auf dem Spielplatz beim Klettern hilft und sie zufällig auch noch
berührt, läuft Gefahr, von Beamten der Child Protective Services (CPS)
ins Visier genommen zu werden, und das möchte niemand. C-P-S – diese
drei Buchstaben lassen amerikanischen Eltern das Blut in den Adern
gefrieren.
Dabei sind die USA doch das «land of the free»,
so dachte man jedenfalls, als man neu aus Europa herzog. Dass Eltern
alles andere als frei sind, merkt man, wenn man die Kinder zur Schule
anmeldet und sich durch die seitenlange Liste von Regeln kämpft: Die
Badekappe muss weiss sein, das Kind gegen Hepatitis geimpft und die
Lunchbox natürlich aus Plastik, sonst könnten sich die Kinder damit ja
noch die Nasen blutig schlagen. An Nüssen könnten sie sich verschlucken,
an Äpfeln die Zähne ausbeissen, Schokolade ist erlaubt.
Die ganze Verunsicherung führt ja nicht
nur zu dieser gespenstischen Leere in meinem Quartier und dem Umstand,
dass wir drei Tage lang alle Geschäfte nach weissen Badekappen
absuchten. Die Folgen sind weitreichender und über das ganze Land
verteilt. Wobei das nicht ganz stimmt. Kinder aus ärmeren Familien sind
durchaus auf der Strasse, in Schwarzenvierteln von D.C., Chicago oder
Baltimore etwa klettern sie ohne Aufsicht auf Gerüste und Bäume, weil
die Eltern keine Zeit haben, sich um sie zu kümmern. Weil sie arbeiten
und abends zu müde sind. Angst zu haben und teilzunehmen an der
nationalen Panik ist ein Privileg und gehört auf die Liste von Christian
Landers hervorragendem Blog: «Stuff White People Like».
Revolutionärin oder Rabenmutter
In Connecticut überhörte Maria Hasankolli eines Morgens im
November ihren Wecker, worauf sich ihr Sohn, 8 Jahre alt, allein auf
den Weg machte. Zwei Polizisten hielten ihn an, begleiteten ihn zur
Schule, fuhren daraufhin zur verschlafenen Mutter zurück und legten ihr
Handschellen an. Die Anklage lautete, sie habe ihr Kind willentlich in
Gefahr gebracht, es war von einer 10-jährigen Gefängnisstrafe die Rede.
Hasankolli kam gegen 2500 Dollar Kaution wieder frei. Sie geht jetzt
jeden Abend mit der Angst ins Bett, sie könnte den Wecker noch einmal
überhören, schreibt sie: «Dann nehmen sie mir meinen Sohn weg.»
In Arizona fuhr Brenda Mayers mit ihrem
Mann und ihren vier Kindern vom Schwimmbad nach Hause, es war später
Nachmittag, und sie wollten noch etwas essen. Die Jüngeren schliefen,
die beiden Älteren folgten dem Vater in eine Filiale von Burger King.
Mayers stieg aus dem Auto und setzte sich an einen der Tische neben den
Parkplätzen, der Wagen keine fünf Meter von ihr entfernt, die Fenster
offen. Nur einmal ging sie kurz hinein, um Servietten zu holen und sich
die Hände zu waschen, doch das reichte: Ein Gast am Nebentisch rief die
Polizei.
Mayers erhielt eine Busse, weil es verboten ist, Kinder
unter sieben Jahren mehr als fünf Minuten allein im Auto zu lassen.
«Dass es nicht mal eine Minute war, tat nichts zur Sache.» Ein paar
Wochen später führten Beamte der Kinderschutzbehörde CPS mit den Lehrern
von Mayers’ Kindern Gespräche. Auch die Kinder wurden vernommen,
ohne dass Mayers dabei sein durfte. Sie hat nun eine dicke Akte und
musste einen mehrtägigen Elternkurs besuchen, obwohl sie vier Kinder hat. Und als sie neulich in einem Park von einem Polizisten gerügt wurde, weil ihr Sohn zu nahe am Ufer lief, wollte sie sich erst wehren, liess es dann aber bleiben und entschloss sich, von nun an zu Hause zu bleiben. «Burger essen und im Park spazieren gehen, das ist in diesem Land zu gefährlich geworden.»
Mittagessen mit Danielle Meitiv, Mutter von Rafi, 11, und
Dvora, 8. Meitiv ist entweder Revolutionärin oder Rabenmutter, je
nachdem, wie man es betrachtet. Sie selbst will gegen «diese
Totalhysterie» ankämpfen, die in Amerika grassiere und die Städte «in
tote Kulissen verwandelt», für die sich keiner mehr zuständig fühle,
«weil wir ja immer zu Hause sind».
Dank einer nationalen Kampagne gelten Kastenwagen, die langsam im Quartier herumschleichen, als verdächtig.
Mehrmals schon liess Meitiv ihre Kinder
allein in den Park, was hier ähnliche Reaktionen auslöst, als hätte sie
ihnen zum Geburtstag Zigaretten geschenkt. Meitiv hörte auch nicht damit
auf, nachdem die Polizei bereits interveniert hatte und die Männer von
der Jugendschutzbehörde CPS begannen, sie auszuspionieren. Sie nahm sich
einen Anwalt und hielt dagegen. Die Meldung der renitenten Mutter, die
sich nicht verbieten lassen will, ihre Kinder ohne Aufsicht in der
Nachbarschaft herumlaufen zu lassen, ging vor einem Jahr um die Welt,
selbst das russische Fernsehen hat darüber berichtet. «In anderen
Ländern ist das doch ganz normal. Was also soll die Aufregung?»
Danielle Meitiv ist in den
Siebzigerjahren in einem jüdischen Viertel in Queens aufgewachsen.
«Einen gefährlicheren Ort gab es damals nicht in den USA», Bandenkriege,
Cracktote, «und dennoch liessen mich meine Eltern draussen spielen. Und
wenn ich die sechsspurige Strasse zur Synagoge überqueren musste, da
habe ich jemanden um Hilfe gefragt.» Das Bauchgefühl habe sich
verändert, so Meitiv, man gehe heute immer davon aus, dass etwas
passiert; und wer das schlimmstmögliche Szenario nicht einkalkuliert,
der gelte als schlechte Mutter oder mieser Vater.
Die Angst mit Löffeln gegessen
Wann war der Tag, die Woche, das Jahr, als sich die Angst
in den Köpfen der Amerikaner ausbreitete und immer häufiger auch in
jenen der Schweizer? Warum hat sich unser Blick derart verändert? Wie
ist es möglich, dass dieses Bauchgefühl allen Statistiken trotzt und
sich so hartnäckig hält? Mord, Raub, Vergewaltigung, Entführung, das
Leben in den USA war nie sicherer als heute. Selbst für Schwarze. Und
dennoch wurden noch nie so viele Ortungsgeräte verkauft. Handy-Apps und
Zimmerkameras, mit denen man seinen Nachwuchs jederzeit überwachen kann,
sind mittlerweile Standard im Kinderzimmer. Mit der Angst der Eltern
lässt sich Geld verdienen.
Als Meitiv in den Siebzigerjahren
aufwuchs, wurden Bilder verschwundener Kinder auf Milchflaschen
gedruckt, die auf den Frühstückstischen standen: «Hast du mich
gesehen?», war auf den Flaschen zu lesen, mit denen Millionen von
Amerikanern ihre Cornflakes-Schüsseln füllten – sie assen die Angst mit
dem Löffel. Damals begann man, den Kindern zu verbieten, mit Fremden
mitzugehen, «Stranger Danger» hiess die nationale Kampagne, und fortan
galten Kastenwagen, die langsam im Quartier herumschleichen, als
verdächtig. Auch dafür gibt es, wie für so vieles, eine Bezeichnung:
«Man in a Van» – diese Warnung vor Fremden kennt hier jedes Kind. Obwohl
90 Prozent der Kindsmisshandlungen von Verwandten oder Freunden
begangen werden, aber das nur nebenbei.
Als dann das Fernsehen 24 Stunden pro Tag
zu senden begann, explodierte die elterliche Paranoia, sagt Danielle
Meitiv. «Die emotionalen Einzelschicksale, die pausenlos auf uns
niederprasseln, haben unser Denken und unsere Risikowahrnehmung
verändert und uns alle in einen permanenten Schreckenszustand versetzt.»
Denn die Botschaft, die alle diese Geschichten in die Wohnzimmer
transportieren, sei: Pass bloss auf, es könnte auch deinen Kindern
passieren. Mit dem Resultat, dass alle überall Gefahr wittern. «Wer ein
Kind allein auf der Strasse sieht, der denkt sich: Was ist denn mit dem
passiert?, anstatt sich zu fragen: Und wo, bitte schön, sind all die
anderen?»
Mit dem Aufstieg der Angst, so Meitiv,
erhielt die Jugendschutzbehörde CPS, so etwas wie die Schweizer Kesb,
immer mehr Macht. Sie habe keine Angst vor Einbrechern, sagt Meitiv, sie
habe Angst davor, dass Nachbarn die CPS anrufen, weil sie ihre Kinder
wieder mal allein spielen lässt. «Die Leute von den CPS sind
unantastbar. Sie können Familien entzweien, Kinder in Internate stecken,
Männer als potenzielle Vergewaltiger abstempeln. Ein Wort der CPS
genügt, und dein Leben stellt sich auf den Kopf.»
Weil keiner Ärger will, würden Amerikaner
alles für ihre Kinder tun, daher der Überprotektionismus. «Wir züchten
eine Generation polierter Kids, für die wir alles tun und die wir
möglichst lang von der Welt abschotten. Mit 16 kiffen sie zwar heimlich
und haben Oralsex, aber vom Leben keine Ahnung.»
Ruhe statt Panik – ein Tabu in Amerika
Die geistige Mutter des Widerstands gegen
Meitivs «Totalhysterie» heisst Lenore Skenazy und lebt in New York. Sie
liess ihren 9-jährigen Sohn in Manhattan allein mit der U-Bahn fahren
und schrieb 2008 eine Kolumne darüber, mit dem Titel: «Here’s Your
Metrocard, Kid». Damit löste sie eine landesweite Empörung aus.
«Andauernd wurde ich gefragt, was ich getan hätte, wenn er nicht zu
Hause angekommen wäre. Aber das ist ja gar keine Frage. Es ist
eine Verurteilung.» Sie habe sich erlaubt, nicht mit dem
Schlimmstmöglichen zu rechnen, sondern damit, dass alles gut kommt. Ruhe
statt Panik. Ein Tabu in Amerika.
Seitdem wird Skenazy jährlich zur schlechtesten Mutter des
Landes gewählt, in den USA gibt es ja für alles eine Liste. Sie führt
einen Blog, hilft Eltern, die mit Behörden Schwierigkeiten haben, weil
sie etwa ihr Kind für eine Minute im Auto liessen, und sie hat die «Free
Range Kids»-Bewegung gegründet – so etwas wie die Freilandhaltung bei
Hühnern. Skenazy nennt es «Streifradius». Kinder sollen umherstreunen
und ihr Viertel entdecken, statt die Jugend im elterlichen Käfig
abzusitzen. Zudem unterstützt sie Projekte in Schulen, die die
Selbstständigkeit der Kinder fördern, und spricht an Tagungen von
«diesem total überhitzten Land» und den Auswirkungen auf die Kleinsten.
Dieser Überhitzung bin ich vor Kurzem wieder begegnet, als ich von einer freundlichen Fahrkartenverkäuferin daran gehindert wurde, mit meinen drei Kindern in den Zug zu steigen: «So
sind nun mal die Regeln.» Und die Regel lautet, dass ein Erwachsener
nur mit maximal zwei Kindern reisen darf, weil man allein auf drei nicht
aufpassen könne, was streng genommen ja auch stimmt. Falls etwa ein
Helikopter auf den fahrenden Zug stürzen würde und es zur Entgleisung käme, hätte ich tatsächlich Mühe, mich um alle zu kümmern. «Dann nehme ich halt das Auto», sagte ich, und sie nickte.
Jährlich kommt es zu 1,5 Millionen
Unfällen auf den Strassen der USA, 35 000 Menschen sterben, das Auto ist
das gefährlichste Verkehrsmittel von allen. Aber hey, keine Panik.
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Samstag, 6. August 2016
Wer den Wind sät… Was westliche Politik im Orient anrichtet | Michael Lüders
https://www.youtube.com/watch?v=syygOaRlwNE
Michael Lüders untersucht in seinem Vortrag die Folgen westlicher Politik in der arabisch-islamischen Welt. Er beginnt mit dem von britischen und amerikanischen Geheimdiensten inszenierten Putsch gegen die demokratisch gewählte Regierung von Mossadegh im Iran 1953, die als "Ursünde" westlicher Interventionen in der Region angesehen werden kann. Denn auf Mossadegh folgte die Diktatur des Schah, die wiederum durch die Islamische Revolution 1979 hinweggefegt wurde. Ohne Putsch gegen Mossadegh keine islamische Revolution - in dieser Einschätzung sind sich die Historiker weitgehend einig. Doch der Westen hat aus seinen Fehlern nichts gelernt, wie Lüders aufzeigt. So hatte das Eingreifen in den Krieg in Afghanistan, das 1979 von den Sowjets besetzt worden war, ebenfalls weitreichende Folgen. Aus der Unterstützung für die Mudschahedin, die Glaubenskämpfer, die gegen die Sowjets kämpften, erwuchsen später Al-Qaida und Osama bin Laden. Der Aufstieg des "Islamischen Staates" wiederum ist nicht zu erklären ohne die US-geführte Militärintervention zum Sturz Saddam Husseins 2003. Was also tun? Wie kann eine konstruktive Politik in der Region aussehen? Wie ist das Erstarken radikaler islamistischer Strömungen zu bekämpfen?
Mehr Infos: http://www.tele-akademie.de/begleit/video_ta150412.php
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Warum müssen Fünftklässler sonntags büffeln statt Freunde zu treffen?
Original aus zeit.de: http://www.zeit.de/2011/22/DOS-G8
Schulzeitverkürzung: Liebe Sophie,
Warum müssen Fünftklässler sonntags büffeln statt Freunde zu
treffen? Weshalb dieser Unsinn? Henning Sußebach versucht, es seiner
Tochter in einem Brief zu erklären.
Von Henning Sußebach
DIE ZEIT Nr. 22/2011
510 Kommentare
Liebe Sophie,
erinnerst Du Dich noch an den Tag, an dem wir das letzte Mal im Kino
waren? An diesen Tierfilm, den Du so gerne sehen wolltest? Wie
hieß der bloß noch? Ich glaube, Tiger, Bären und Vulkane,
aber sicher bin ich mir nicht. Denn unser Ausflug liegt schon ein
paar Monate zurück. Wir sind alle zusammen mit dem Auto in die
Stadt gefahren: Mama, Henri, Du und ich. Es war Sonntag – und wir
beide saßen mit Karteikarten auf der Rückbank und haben gelernt. Wie viel ist 172? Wie viel 56? Wie viel 28? Auf dem Weg nach Hause dann noch mal: 27 = 128, 182 = 324, 56 = 15625. Und noch mal. Und zur Sicherheit gleich noch mal.
Wir hätten so viel
Sinnvolleres tun können auf unserem Heimweg! Den Bildern der Bären
nachhängen und Bonbons lutschen zum Beispiel. In dem Zauber verweilen,
den jeder kennt, der aus dem Kinodunkel ins Licht tritt – als
laufe man erwachend durch einen Traum. Aber noch nicht mal an
einem Sonntag ist es mir gelungen, Dich das Kind sein zu lassen, das Du
sein solltest mit zehn Jahren.
Bitte mach mir diesen Mist nicht nach, wenn Du erwachsen bist, Sophie!
Du merkst schon: Der
Brief, den ich Dir schreibe, ist eine verzwickte Angelegenheit. Du wirst
ihn genau lesen müssen, damit Du alles verstehst. Und dass Du
verstehst, ist wichtig: Denn es geht um Dein Leben und um das, was
wir Erwachsenen daraus machen.
Ich werde Dir von
Schülern berichten, die krank werden vom dauernden Üben. Von
Bildungsexperten, die Euch vorm Lernen warnen. Und von Eltern, die ihre
Kinder trotzdem nicht in Ruhe lassen. Von Zeile zu Zeile werde ich
wütender werden – weil ich wütend bin auf mich und auf ein Land,
das Euch alle zu Strebern macht.
Deshalb habe ich
meinen Brief auch nicht auf Deinen Platz gelegt, dort am Küchentisch, an
dem wir morgens Einkaufszettel schreiben und abends Vokabeln
lernen: Wie lautet das englische Wort für
Gummistiefel, Stiefvater, Drachenfestival, Schiffsausguck, Küstenstadt,
Karaoke-Gerät, Schatzkarte, Gartenschuppen, Geschmacksrichtung
Hühnchen? Ich schreibe diesen Brief in der Zeitung,
weil es noch 275.000 andere Fünftklässler in Deutschland gibt, die
ein Gymnasium besuchen wie Du. Die gerade wie Du für die letzten
Arbeiten vor den Zeugnissen büffeln. Und die wie Du trotzdem nur
mit halbem Ohr diese rätselhaften Wörter hören: "Turbo-Abi", "Schulzeitverkürzung", "G8".
In diesem Brief,
Sophie, möchte ich Dir und Tausenden anderer Schulkinder etwas verraten.
Es gibt da ein paar Geheimnisse, von denen Ihr nichts ahnt, denn
jedes Kind nimmt die Welt ja erst einmal als gegeben hin.
Stopp, das war zu
kompliziert! Ich meine: Ein Kind hält sein Leben, so wie es ist, für
ganz normal. Woher soll es wissen, dass alles auch anders sein
könnte? Oder wie die Erwachsenen gelebt haben, als die noch klein
waren? Dieses Hinnehmen ist schön, weil Ihr nicht so viel grübeln
müsst: "Was wäre, wenn...?" Aber es macht Euch auch da fügsam, wo
Auflehnung angebracht wäre.
Du hast jeden Tag
sieben Stunden Schule und weißt nicht, dass ich als Kind niemals täglich
sieben Stunden hatte, in keinem einzigen Schuljahr. Dass ich
nachmittags allenfalls vor dem Abitur so viel gelernt habe wie Du
jetzt in der fünften Klasse, und niemals auf dem Weg ins Kino. Und
dass ich heute manchmal so tue, als müsste ich noch arbeiten, wenn ich
abends nach Hause komme und sehe, wie Du über
Grammatik-Arbeitsblättern sitzt: Kreuze die richtigen
Aussagen an! Der Genus ist das grammatische Geschlecht eines Nomens /
Nomen können im Singular und im Plural auftreten. Dies nennt man
den Kasus des Nomens / Der Numerus ist der Fall, in dem ein
Nomen steht / Man kann Präpositionen steigern / Der bestimmte Artikel
gibt im Nominativ Singular das grammatische Geschlecht eines
Nomens an / Der Imperativ gehört zu den finiten Verbformen /
Präsens wird benutzt, wenn man über etwas sagen kann: Es war
gestern so, ist heute so und wird auch morgen so sein / Das Partizip I
gehört zu den infiniten Verbformen / Verben kann man
deklinieren. Ich hefte dann Rechnungen ab, schreibe
EMails und sortiere Zeugs. Ich will nicht freihaben, solange Du noch
arbeitest. Ist das nicht verrückt? Irgendjemand hat die Welt
verdreht! Nur wer?
Weißt Du: Das alles
ist nicht einfach so passiert. Die freie Zeit ist nicht einfach so
verschwunden. Wir Erwachsenen haben Euch ein Jahr Eurer Kindheit
gestohlen. Aus Eile und Angst.
Wie soll ich Dir das erklären?
Ich versuche es mal
so: Unser Leben ist voller Reichtum und Mangel zugleich. Es gibt so viel
Essen, dass wir die Reste wegwerfen. Nichts ist richtig knapp,
außer manchmal Klopapier. Doch was uns fehlt, ist Zeit. Jedenfalls
glauben wir das.
Wir Erwachsenen
schauen selten im Kühlschrank nach, ob noch Käse oder Wurst da ist –
aber wir gucken ständig auf die Uhr. Wir klagen dauernd über
"Stress" – doch wenn wir nichts zu tun haben, fühlen wir uns
nutzlos. Wir sind genervt, wenn der Chef uns auch am Wochenende anruft –
aber eifersüchtig, wenn ein anderer Kollege mehr Anrufe bekommt.
Unsere Computer sind voller Updates und Reminder,
unsere Köpfe können Wichtiges von Drängendem nicht mehr
unterscheiden – und den Sonntag nicht vom Montag. Das ist die Hast, die
ich meine. Deine Großeltern haben seit 40 Jahren dieselbe
Telefonnummer, wir haben unsere seit Deiner Geburt zweimal
gewechselt – und noch zwei Handynummern dazugekriegt, damit wir immer
erreichbar sind. Ein Brief war früher Tage unterwegs, eine Mail
ist heute augenblicklich da. Die ganze Welt ist in einen Wettlauf
geraten, den wir Erwachsenen "Globalisierung" nennen: Wer näht die
billigsten T-Shirts? Wer baut die schnellsten Autos? Wer erfindet
zuerst neue Telefone und Computer, die uns noch rasanter updaten und reminden können?
Irgendwann haben wir
Deutschen gemerkt, dass die Kinder in anderen Ländern noch schneller
lernen als unsere. Dass sie in China früher damit anfangen und in
Amerika früher damit aufhören. Und gleich arbeiten. Da hat uns die
Angst gepackt. Wir haben uns nicht gefragt, ob es klug ist, zu
lernen wie die Chinesen. Wir haben nur gedacht: Bevor die uns einholen,
beeilen wir uns auch.
Wir Erwachsenen haben nie Zeit – und haben Euch ein Schuljahr geklaut
Und noch etwas kam hinzu. Etwas, das mit Deutschland zu tun hat: das sogenannte Demografieproblem. Es gibt zu wenige Kinder und zu viele Alte.
Aber das siehst Du ja, weil zu unseren Familienfesten mehr Onkel
und Tanten kommen als Cousins und Cousinen. Ich hatte lange
gedacht, dieses Demografieproblem werde Dein Leben als Erwachsene
prägen. Jetzt bestimmt es schon Deine Kindheit. Denn wer früher
die Schule verlässt, kann länger arbeiten. Und wer länger
arbeitet, kann uns, wenn wir alt und müde sind, länger Geld für die
Rente geben.
Schon 1993 (als uns
die Chinesen noch egal waren und es keine Schulvergleiche gab) passierte
es: Da empfahlen die Finanzminister aller deutschen Bundesländer,
Euch ein Schuljahr wegzunehmen. Nicht die Kultusminister, die
sich um die Schulen kümmern! Sondern die Politiker, die aufs Geld
aufpassen, die Zahlen statt Menschen sehen und deshalb wissen: Jeder
Gymnasiast kostet 5000 Euro im Jahr. Geld für die Lehrer, den
Hausmeister, die Tafeln und Turnmatten. Allein an Dir und Deinen
27 Klassenkameraden konnten sie also 140.000 Euro sparen.
Deshalb wurde Euch
ein Jahr aus der Schulzeit gestrichen – aus dem Lernstoff aber strich
man nur wenig. Ihr sollt auf dem Gymnasium in acht Jahren
begreifen, wofür Eure Eltern noch neun Jahre Zeit hatten. Unseren
Mangel an Zeit – wir haben ihn zu Eurem gemacht.
Deshalb hast Du jetzt
eine 40-Stunden-Woche voller Unterricht und Hausaufgaben. Deshalb hast
Du vor wenigen Monaten das Gitarrespielen aufgegeben. Deshalb
telefonierst Du die halbe Klassenliste rauf und runter, bis Du
jemanden zum Spielen findest. Alle sind beschäftigt.
So kommt ein kleiner Raub
an Freizeit und Freiheit zum anderen, jeder für sich kaum der Rede
wert. Aber wenn man alle zusammenrechnet, in jeder Familie zwischen
Nordsee und Alpen, kommt
eine große Statistik der Überforderung dabei heraus: Ein Viertel
aller Gymnasiastinnen klagt regelmäßig über Kopfweh, das hat die
Krankenkasse DAK
herausgefunden. Kinder sagen ihre Teilnahme an Geburtstagsfeiern
ab. Sie treten aus Sportvereinen und Chören aus. In
Schleswig-Holstein, unserem Bundesland, sind die Teilnehmerzahlen bei
"Jugend forscht" eingebrochen, dabei wollte Deutschland doch
möglichst schnell möglichst viele möglichst junge Ingenieure. In
Baden-Württemberg hat sich die Zahl der Fünft- und Sechstklässler, die
nachmittags in Nachhilfe-Instituten nachsitzen, fast verdreifacht.
Sie haben plötzlich das Gefühl, nicht gut genug zu sein – obwohl
sie gar nicht schlechter geworden sind! Drei Milliarden Euro
investieren nervöse Eltern jedes Jahr in die Nachhilfe, 20 Prozent von
ihnen mehr als 200 Euro im Monat. Das sind 2400 Euro im Jahr. Fast
so viel, wie die Finanzminister an Euch gespart haben. Das macht
den Reichen nichts aus, aber den Armen umso mehr. In Internetforen
werden "Pillen fürs Abi" empfohlen: Ampakin – eigentlich für alte Leute mit Alzheimer – für mehr Gehirnleistung. Fluoxetin – eigentlich gegen Depressionen – für mehr Leistungsbereitschaft. Metroprolol
– eigentlich gegen Bluthochdruck – für weniger
Prüfungsangst. Und an Deinem Gymnasium hat eine "Wirtschaftspsychologin"
uns Eltern vor einigen Tagen erklärt, woran wir bei Euch einen
Burn-out erkennen. Das bedeutet, dass manche Kinder jetzt schon ausgebrannt sind – wie überarbeitete Erwachsene.
Ich habe einen
Professor für Soziologie angerufen. Soziologen erforschen, warum die
Gesellschaft so ist, wie sie ist. Warum wir so leben, wie wir leben.
Der Professor heißt Hartmut Rosa und ist 45 Jahre alt, hat aber
noch nicht vergessen, wie es ist, ein Kind zu sein. Deshalb hat er
etwas geschafft, was Professoren selten schaffen: Er hat ein Buch
geschrieben, das auch normale Menschen lesen können. Es heißt Beschleunigung und handelt von unserer täglichen Raserei.
Hartmut Rosa sagt, er
macht sich Sorgen, weil Eure Kindheit so "vernutzt" ist. Dass alles
einen Zweck hat, einen Sinn erfüllen muss. Dass wir Euch sogar dann,
wenn wir Euch Gutes tun wollen, bloß wieder auf ein Leben als
Erwachsene vorbereiten. "Es ist wichtig, körperlich fit zu sein
und musikalisch, gesund zu essen, Freunde zu haben – und sich entspannen
zu können!", sagt er. Hartmut Rosa will, dass wir Erwachsenen Euch endlich in Ruhe lassen.
Ein Kind soll im Jetzt leben und nicht dauernd ans Morgen denken.
Ein Kind soll ganz bei sich sein dürfen, nicht für andere da sein
müssen. Ein Kind soll die Muße haben, mit etwas zusammen zu wachsen.
Das kann ein Baum sein, eine Straße, ein Fußballplatz, ein Tier.
Vor allem fordert
Hartmut Rosa: Ihr Kinder müsst Euch wieder langweilen dürfen. Denn
irgendwann wird aus Langeweile Bewegung, ein Stromern und Streunen, das
ziellos ist und doch an tausend Orte führt. Den schönsten
Augenblicken der Kindheit geht die Langeweile voraus. Wer
Langeweile hat, kommt auf die verrücktesten Ideen. "Die allermeisten
Menschen würden im Rückblick doch sagen: Die endlos langen
Sonntagnachmittage, an denen eigentlich nichts passierte, waren
die Momente, in denen ich meine Seele spürte. In denen ich lernte, mich
selber zu ertragen." So sagt es Hartmut Rosa.
Ganz sicher ist der
Rückblick in die eigene Kindheit weichgezeichnet von Gefühlsduselei.
Aber ich kann nur von meiner Kindheit erzählen: Ich bin groß
geworden in einer Welt, in der es nicht pausenlos piepte und
ploppte, niemand twitterte und livetickerte, in der Computer dick
und braun waren wie Brotkästen und nur bei pickligen Stubenhockern in
verdunkelten Kinderzimmern standen. Wenn ich mit jemandem spielen
wollte, habe ich keine Klassenliste abtelefoniert, sondern beim
Nachbarn geklingelt und gefragt: "Kommt der Christian raus?"
Wie viel Platz lässt Dir der Alltag für Hobbys? Für die Pubertät? Für Protest?
Als
Fünftklässler habe ich endlose Nachmittage in der festen Überzeugung
verbracht, der berühmte Fußballspieler Karl-Heinz Rummenigge zu
sein – auch wenn ich meinen Lederball nur gegen Garagentore
gedroschen habe. Mal allein, mal mit Freunden, mal mit fremden Jungen
aus fremden Vierteln, rauen Burschen mit rauer Sprache,
Hauptschülern, die der Zufall in meine Straße geführt hatte. Ich
habe mich auf aufregende Weise gelangweilt! Jeden Schritt, jeden
Schuss kommentierte eine innere Reporterstimme: "Was für eine
Körpertäuschung! Mit diesem Volleykracher sichert sich Kalle
Rummenigge die Torjägerkanone! Inter Mailand hat hundert Millionen
für ihn geboten!" Später war ich Boris Becker, Tennisstar, der im
Finale gegen eine bis dahin unbesiegte Brandmauer antrat. Ich ließ
vor meinem Aufschlag den Ball auftitschen wie er. Ich leckte
meine Lippen wie er. Ich schälte sogar meine Bananen wie er. "6:1, 6:0,
6:1!", brüllte die innere Stimme jetzt, "anders als der falsche
Boris Becker gewinnt der echte zum dritten Mal in Folge Wimbledon!
Und jetzt überreicht ihm die Herzogin von Kent auch schon den
goldenen Pokal!"
Heute klingt das
alles bescheuert, oder? Aber als Kind habe ich mir Baugenehmigungen für
Luftschlösser erteilt. Wenn ich an früher denke, schlendere ich
als Fußballgott und Tenniskönig durch gleißend helle Nachmittage.
Ich habe immer Zeit. Und es ist immer Sommer. Ein größeres
Kompliment kann die Erinnerung der Kindheit nicht machen.
Wenn
es regnete? Habe ich den Tropfenrennen am Fenster zugesehen oder die
Holzvertäfelung neben meinem Bett angestarrt. So lange, bis sich
aus der Maserung Berge erhoben und sich die Astlöcher in
Vulkankrater verwandelten. Kennst Du das auch?
Ich habe mal
gerechnet: Du wirst in den Schulklassen fünf bis zwölf 1200 Stunden mehr
Schule haben, als ich es hatte. 1200 Schulstunden! 1200-mal 45
Minuten. Das sind 600 Fußballspiele. Das ist die Zeit, in der ich
Karl-Heinz Rummenigge und Boris Becker war. In der ich zum
Golfplatz radelte und mit einem flinken Griff durch den Zaun eine
Handvoll Bälle klaute, weil ich das für rebellisch hielt. In der
ich mir ein Segelboot aus Holz baute, das dann leider
auseinanderfiel. Erfahrung entsteht nur beim Gehen von Umwegen, heißt
es. Ich hatte Zeit, um Zeit zu verschwenden! Mich zu irren. Fehler
zu machen. In eine Sackgasse zu laufen und wieder zurückzugehen.
Mach auch mal Fehler,
Sophie! Sachen, die wir Eltern für falsch halten. Du bist ja schon
vernünftiger als wir: Als ich Dich neulich gefragt habe, ob ich
mittwochs mal schwänzen soll, den Kollegen bei der Zeitung sagen,
ich würde zu Hause arbeiten, in Wahrheit aber mit Dir schwimmen
gehen, hast Du geantwortet: "Ich habe keine Zeit. Ich kann nur an
Wochenenden."
An Deinen Lehrern
liegt das kaum. Deine Schule erscheint mir als eine der besseren in
einem schlechten System – fast wie das Richtige im Falschen. Du
hast zwei Klassenlehrer, nicht nur einen. Die beiden strahlen eine
Gelassenheit aus wie Teetrinker in der Espresso-Gesellschaft. Du
hast bei ihnen zunächst das Lernen gelernt: Ich beginne meine Hausaufgaben mit etwas Einfachem und Interessantem. Ich lege Pausen bei meinen Hausaufgaben ein.
Ihr bekommt Übungsarbeiten mit nach Hause, damit Ihr wisst,
was Ihr Euch einprägen müsst (und was nicht...). Ihr bewertet
Euch mit Selbstkontrollbögen: Was kann ich schon? Was noch nicht?
Auf den Elternabenden fragen Eure Lehrer uns: "Sollen wir weniger
Hausaufgaben aufgeben, damit den Kindern mehr Zeit bleibt? Oder
mehr, damit sie den Stoff besser verstehen?"
Auf dem anderen
Gymnasium in unserer kleinen Stadt hagelt es Fünfen und Sechsen, und
Kinder geben halb leere Arbeitsblätter ab.
An deiner Schule
haben die Lehrer hier und da die Lehrpläne entrümpelt. Und sie haben das
Fach "Science" erfunden: Biologie, Physik und Chemie in einem.
Wenn Ihr über Vögel sprecht (Biologie!), lernt Ihr auch, wie an
ihren Flügeln Auftrieb entsteht (Physik!). Wenn Ihr über die Lunge
und das Atmen sprecht (Biologie!), redet Ihr gleich über Sauerstoff und
Stickstoff (Chemie!). Es gibt Lehrer anderer Gymnasien, die bei
Euch lernen, wie man Science unterrichtet. Es gibt Verlage, die
ihre Schulbücher den Ideen Deiner Lehrer anpassen. Ihr habt in
Klasse fünf jeweils sechs Stunden Englisch, Mathe und Deutsch pro Woche,
damit Ihr in Klasse sechs nur mehr vier braucht – denn dann kommt
ja noch Französisch oder Latein hinzu. Eure Klassenlehrerin hat
sich drei statt zwei Stunden Musik erkämpft, in denen sie mit Euch
singt und lacht. Deine Lehrer nennen das "Stunden zum Ausatmen". Auch
deshalb also habt Ihr so viel Unterricht.
Warum sollten Lehrer
Euch auch von der Schule fernhalten? Uns Eltern aber hat der Soziologe
Hartmut Rosa Hausaufgaben aufgegeben: "Es muss Nachmittage geben,
an denen nichts im Terminkalender steht. Oder an denen NICHTS! im Terminkalender steht."
Ich hätte zwar lieber
mit den Finanzministern, diesen Sparschweinen, gestritten, als schon
wieder in Dein Leben einzugreifen, Sophie – aber als Du das
Gitarrespielen aufgegeben hast, war das nicht nur Dein Wunsch,
sondern auch der von uns Eltern. Damit Du weiter Basketball
spielst. Denn da bist Du mal keine Einzelkämpferin.
Jetzt hängt Deine
Gitarre an einem Haken neben Deinem Schreibtisch, und ich frage mich:
Wirst Du uns später einmal übel nehmen, dass Du nur zuhören
kannst, wenn andere Musik machen?
Ist es Zufall, dass
Dein Freundeskreis nur noch aus Klassenkameradinnen besteht? Oder liegt
es daran, dass Ihr im selben Rhythmus lernt und lebt?
Wie viel Platz wird Dir Dein Alltag für Liebeskummer lassen? Für die Pubertät? Für den Aufstand?
Wird Dir jemals ein
Lehrer erzählen, dass das Wort Schule aus dem Griechischen stammt und
eigentlich "freie Zeit" bedeutet?
Abitur mit 17 Jahren, Bachelor mit 20 – wem ist damit geholfen?
Warum wird
das Buch einer verkniffenen chinesisch-amerikanischen Mutter, die über
das Drillen ihrer Töchter schreibt, in Deutschland ein Bestseller?
Wieso beschäftigen wir uns ernsthaft mit dieser Frau, die ihren
Töchtern droht, die Stofftiere zu verbrennen, wenn sie faul sind?
Woher kommt unsere
Globalisierungsangst? Die Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland ist viel
geringer als in Frankreich, Italien, Spanien. Unser Land ist
klein, aber unsere Wirtschaft ist die viertgrößte der Welt. Wir
verkaufen Autos, Windräder und Medikamente überallhin. Und sind
all die Erfinder, Konzernchefs und Gewerkschaftsführer nicht dreizehn
Jahre aufs Gymnasium gegangen?
In
wie vielen Familien kreisen die Gespräche nur noch um Schule? Hast Du
die Vokabeln drauf? Bist Du fit für die Arbeit? Schreibe
eine möglichst kleine Zahl auf, indem Du jedes der folgenden
römischen Zahlzeichen genau einmal verwendest: M, C, I, X, V.
Nicht dass Du mich
falsch verstehst, Sophie: Die Schule ist nicht fürs Kinderglück
verantwortlich. Dafür sind wir Eltern zuständig. Und Schüler müssen nun
mal lernen. Aber sie müssen auch Zeit haben für eigene
Entdeckungen.
Wir üben jetzt oft
gemeinsam. Manchmal gibt es Krach, manchmal erleben wir innige Momente:
dieses wärmende Glück, wenn wir beide wieder etwas begriffen
haben, wenn die Erkenntnis durchbricht wie die Sonne nach drei
Tagen Regen! Du hast gelernt, wie die Ägypter ihre Pyramiden
bauten. Warum ein Londoner Vorort mit Namen Greenwich weltbekannt ist.
Dass es am Horizont einen Fluchtpunkt gibt, auf den alle Linien
zulaufen. Jede Schulstunde kann ein Geschenk sein. Und alles
zusammen fügt sich zu einem Schatz. Kostet es zu viel Kraft, zu viel
Zeit, zu viel Leben, ihn zu heben?
Euer Schuldirektor
sagt: Nein. Das sei nur die übliche Sorge der Eltern, deren Kinder von
der Grundschule aufs Gymnasium wechseln. Das größte Problem der
Schulzeitverkürzung sei "mangelnde Akzeptanz". Also Leute wie ich!
Er sagt das aus einer
privilegierten Position heraus, so wie ich diesen Brief aus einer
bevorzugten Lebenslage schreibe: Dein Direktor leitet ein
Vorstadtgymnasium in einer besseren Gegend. In Eurer Schulkantine
servieren "Kochmütter" das Mittagessen. Es gibt aber auch Frauen,
die bis abends arbeiten möchten (Du später vielleicht auch!).
Alleinerziehende Eltern, die das müssen. Und Väter und Mütter, die
keine Lust haben, mit ihren Kindern zu lernen, die gibt es auch.
Was wird aus diesen Schülern?
"Die Übungsphasen,
die dazu da sind, Stoff zu vertiefen, sind nach Hause verlagert worden.
Kinder, die niemanden haben, der ihnen bei den Hausaufgaben hilft,
kommen schlecht weg", sagt Heinz-Peter Meidinger. Er ist
Vorsitzender des Deutschen Philologenverbandes. Das ist ein
Zusammenschluss von Lehrern, die an Gymnasien arbeiten.
Ich habe im
schleswig-holsteinischen Bildungsministerium nachgefragt: Der Anteil der
Schüler, die nach der sechsten Klasse die Gymnasien verlassen
müssen, hat sich verdreifacht. In Bayern macht die erste
G-8-Generation gerade Abitur – seit der fünften Klasse sind dort 31
Prozent aller Schüler auf der Strecke geblieben. Bei G9 waren es
22 Prozent. Diese Kinder wurden "abgeschult", so nennt man das in
den Statistiken.
Es klingt fast
weltfremd, wenn die Kirche gegen dieses eiskalte Wort protestiert und
daran erinnert, dass "jeder Mensch mit reichen und vielseitigen
Anlagen beschenkt" sei. Bildung müsse auch die "Kräfte der
Fantasie, der Liebe, des seelischen Erlebens und des moralischen
Wertens" wecken.
Der Pädagoge Andreas
Gruschka sagt: "Es kommt nicht mehr Saft aus einer Zitrone, wenn man
mehr presst." Gruschka selber ist zweimal sitzen geblieben und
trotzdem Professor geworden. An der Goethe-Universität in
Frankfurt am Main erforscht er, wie Lehrer unterrichten und wie
Kinder lernen. Er meint: Ihr paukt zwar viel, aber Ihr habt nicht viel
davon. Euch fehlt die Zeit, wirklich zu kapieren, was die Lehrer
Euch erzählen. Und darüber eine eigene Meinung zu bilden. Er sagt:
"Die Kinder heute lernen Organisation und Präsentation." Referate,
Wochenpläne – er hält das alles für eine Vorbereitung auf ein
kritikloses Büroleben, in dem der Chef in der Tür steht und sagt:
"Frau Müller, stellen Sie mir bis Freitag bitte alles über die
indischen Märkte zusammen!"
G8 habe "für 25 bis
30 Prozent der Gymnasiasten mehr gebracht – für die anderen wäre G9
vorteilhafter gewesen", sagt der Münchner Bildungsforscher Kurt
Heller, ein Pädagoge und Psychologe. Das ist besonders
interessant, weil niemand in Deutschland so gründlich zu dem Thema
geforscht hat wie er: In den neunziger Jahren hat Heller in ein paar
baden-württembergischen Gymnasien G8 ausprobiert – mit
durchschnittlich 16 Schülern pro Klasse. Am Ende empfahl er: Es
sollte G8-Schulen und G9-Schulen geben. Aber dann, sagt Heller
heute, habe die Politik überall das Turbo-Abi eingeführt. Der Professor
hat sehr frustriert geklungen, als er mir gesagt hat: "Ist leider
so gelaufen."
Wo sind die Querköpfe und die Nervensägen? Wer hat sie aussortiert?
Philologen
und Psychologen, Pädagogen und Prozente – wie schnell wird der Streit um
Eure Schulzeit abstrakt und entfernt sich wieder aus der
Wahrnehmung der Kinder. Und weg von tausend kleinen
Lebenswirklichkeiten.
Es gibt einen Arzt in
Bremen, der heißt Stefan Trapp und hat vor drei Jahren einen Brief an
die Bildungssenatorin seiner Stadt geschrieben. Darin steht: "Als
niedergelassener Kinder- und Jugendarzt wie auch als betroffener
Vater erlebe ich die Folgen der Verkürzung des Gymnasiums auf acht
Jahre täglich in Praxis und Familie." Seine Patienten zeigten Symptome,
die sonst bei gestressten Managern auftreten. Kopfschmerzen und
Erschöpfungszustände, auch Traurigkeit und Angst. Die Senatorin
hat ihm bis heute nicht geantwortet. Aber weil Trapp in seiner Stadt ein
bekannter Mann ist und den Bremer Berufsverband der Kinder- und
Jugendärzte leitet, hat eine Zeitung seinen Brief abgedruckt.
Trapp
ist noch jung. Er trinkt Cola und isst gerne Kuchen, obwohl das nicht
gesund ist. Er ist ein fröhlicher Arzt, solange er nicht von den
müden Mädchen und Jungen in seinem Sprechzimmer erzählt. Er sagt:
"Früher hatten Kinder Kopfschmerzen, weil sie eine Brille
brauchten. Heute, weil sie beim Gedanken an die Schule mittlerweile die
Gefahr des Scheiterns mitdenken." Er behandelt Schüler mit
Schlafstörungen und Depressionen. Das sind Krankheiten, die früher
bloß Erwachsene bekamen, die richtig Pech hatten. "Die Rolle des
Gymnasiasten als Sorgenkind ist neu", sagt Trapp. Gymnasiasten
sind seltener dick, essen meist gesünder und prügeln sich kaum.
"Aber die Schulzeit ähnelt immer mehr einer anspruchsvollen
Bürotätigkeit – kein Wunder, dass sich auch die Krankheitsbilder
ähneln." Wie sollen Jugendliche mit Anforderungen fertigwerden, an
denen Erwachsene scheitern? Zumal sie dauernd beobachtet und
benotet werden. Alle sind unzufrieden: Schüler, Eltern und Lehrer. Alle
haben Stress. Und in diesem Gezerre sind die Kinder die
Schwächsten.
Warum schützen wir
die Schwächsten nicht mehr? Auch nicht die Aufmüpfigen, die Sperrigen,
die unser Tempo bremsen? Ich sage Dir, Sophie: weil wir
Erwachsenen die wahren Streber sind! Weil wir zu feige sind, mal
richtig wütend, richtig sperrig, richtig uncool zu sein.
Vor einigen Monaten hat
der neue Bildungsminister in unserem Bundesland alle Gymnasien
abstimmen lassen, ob sie das neunte Schuljahr zurückhaben wollen. Die
Lehrer Deiner Schule haben sich entschieden, bei G8 zu bleiben.
Einstimmig, sagt der Direktor. Ich kann mir vorstellen, dass viele
aus Stolz auf ihre eigenen Ideen so entschieden haben. Manche aus
Erschöpfung nach all den Konferenzen. Andere, weil sie finden, dass
nicht nach jeder Landtagswahl alles geändert werden sollte, dass
zu viele Rollen rückwärts schwindlig machen. Und einige vielleicht
auch aus Respekt vor dem Direktor.
Wochenlang habe ich
versucht, mit der Schulpsychologin unseres Landkreises zu reden. Aber
sie hat mir in kurzen Mails geantwortet, für ein ausführliches
Gespräch habe sie keine Zeit – und für ein kurzes Telefonat sei
das Thema zu wichtig. Auch das meine ich mit Feigheit, Sophie.
In Bremen fragt der
Kinderarzt Stefan Trapp die Schüler in seiner Praxis: Warum kommst du zu
mir? Was machst du in deiner Freizeit? Was tust du gern? Was
würdest du gern tun? Wann fühlst du dich wohl? Wenn die Antwort
lautet: Ich war das letzte Mal in den Ferien froh, dann ist das
ein Problem. Auch für ihn. Ein Arzt will heilen, nicht nur herumdoktern.
Mit Scharlach oder Läusen ist Trapp immer fertiggeworden, aber
wie kann er einem mutlosen Kind helfen? "Wenn jemand krank wird
durch die Schule, ist eine Therapie, eine ursächliche Therapie, nicht
möglich", sagt Trapp. Das bedeutet: Wer sich einen Arm gebrochen
hat, bekommt einen Gips und braucht Geduld. Wer eine
Pferdeallergie hat, kann mit dem Reiten aufhören. Aber wen das Lernen
krank macht, der kann nicht die Schule abschaffen.
Unsere Gesellschaft
ist dringend auf jedes einzelne Kind angewiesen – aber es wird so getan,
als ginge es immer nur um die Stärksten und Schlausten. Als
könnten wir auf alle anderen Kinder verzichten.
Weißt Du, was
passiert ist, als eine Mutter eine Lehrerin Eurer Schule gefragt hat, ob
sie nicht zu schnell zu viel von Euch verlangt? Da hat die – eine
junge Frau – kühl geantwortet: "Sicher ist dieses Lernen nicht
für alle geeignet." Und Klassenarbeiten seien dazu da, "zu
überprüfen, ob die Kinder auf dem Gymnasium Schritt halten können".
Weißt Du, was das bedeutet, Sophie?
Ich werde es Dir
erklären: Es bedeutet, Klassenarbeiten sollen nicht nur helfen,
herauszufinden, welcher Schüler wo Schwächen hat – um dafür zu sorgen,
dass es beim nächsten Mal besser klappt. Nein: Sie sollen auch
helfen, die Schwächsten zu finden und auszusortieren. Deine
Lehrerin hat nicht gesagt, es gehe ihr darum, alles zu tun, "damit"
Kinder Schritt halten können. Sondern zu prüfen, "ob".
Meine Lehrer hätten
so etwas nie gesagt, selbst wenn sie heimlich so dachten. Du wirst das
verrückt finden, Sophie: Als vor 25 Jahren in der Ukraine ein
Atomkraftwerk explodierte, schickten meine Lehrer uns zum
Demonstrieren! Als vor 20 Jahren in Kuwait ein Krieg losbrach,
ließ mein Mathelehrer uns aus Protest nicht mit Äpfeln und Birnen
rechnen, sondern in der Recheneinheit "Leichensäcke". Das hört
sich ziemlich grotesk an, was? Einige meiner Lehrer sprachen im
Unterricht voller Pathos, wie ein Pastor in der Sonntagspredigt. Aber es
ging ihnen darum, uns mitzureißen. Uns zu gewinnen. Wenn auch nur
für ihre eigenen Träume von einer besseren Welt.
Und jetzt? Spricht
diese Lehrerin wie die Jurypräsidentin einer gigantischen Castingshow –
in der nicht Werbeverträge vergeben werden, sondern Lebenschancen.
Und zwar nur an die Passgenauen.
Das macht mich
wütend. Sie hat G8 zwar nicht erfunden – aber sie hat sich damit
abgefunden. Mindestens das. Andererseits gibt sie nur den Druck
weiter, den andere aufgebaut haben. Und zu diesen anderen gehöre –
ich. Die Versuchung, mit Dir auf die Jagd nach immer besseren Noten zu
gehen, ist so groß. Wie schnell passiert es, dass ich eine gute
Klassenarbeit nach den wenigen Fehlern ausspähe, nicht nach den
korrekt gelösten Aufgaben. Es gibt Eltern in unserer Stadt, die
ihren Kindern das Taschengeld kürzen, wenn die keine Eins heimbringen.
Die mit all den fleißigen Chinesenkindern drohen, von denen wir
noch gar nicht wissen, ob die ganze Paukerei sie wirklich schlau
macht oder bieder.
Wenn Du Geburtstag
feierst und Deine Klassenkameradinnen kommen, freue ich mich über all
die wohlerzogenen Kinder, die den ganzen Tag keine Mühe machen –
aber ich wundere mich auch. Wo sind die Querköpfe, die
Nervensägen, die Rotznasen? Wer hat sie aussortiert?
Du bist mehr als die Summe deiner Leistungen
Vor fünf
Jahren hat ein Kollege in dieser Zeitung geschrieben, er finde die
verkürzte Schulzeit gut, denn es sei noch "Luft im System". Schon
möglich. Aber ist Luft schlecht? Ist sie nicht zum Atmen da? Und
lernt, wer atmen darf, nicht sogar mehr? Oder jedenfalls lieber?
Das Gerede von der
"Luft im System" ist gefährlich, Sophie. Man kann so lange sagen, es sei
"Luft im System", bis keine mehr da ist.
Wir
haben Euer Leben den Regeln der Wirtschaft unterworfen: In einem Motor
kann Luft schaden, in einem Windkanal ist Druck sinnvoll. Aber wer
hat uns eingeredet, dass ein beschleunigtes Leben ein gelingendes
Leben ist? Wenn ich sehe, wie Manager auf Flughäfen und in ICE-Abteilen
ihre iPhones und BlackBerrys anstarren, auf eingehende Mails so
angewiesen wie Junkies auf Rauschgift, und wenn ich höre, wie sie
endlos von "Quartalszahlen", "Jahresabschlüssen" und der
Marktforschung faseln, die sie nur noch "Mafo" nennen, wie sie von
Hamburg nach München fahren, ohne dabei auch nur einen einzigen
eigenen Gedanken zu äußern – dann glaube ich, wir sollten uns kein
Beispiel an ihnen nehmen.
Es wäre schön, wenn
Ihr später nicht nur Zahlen lesen könntet. Sondern auch die Menschen
hinter den Zahlen erkennen würdet. Wenn Bildung hieße: mit Wissen
vernünftig umgehen. Der Schriftsteller Erich Kästner, von dem Du
Das doppelte Lottchen kennst, hat das viel schöner gesagt: "Der Mensch soll lernen, nur die Ochsen büffeln."
Wir haben Eure
Lebensläufe begradigt wie die Flüsse. Wo wir noch mäandern konnten, uns
treiben ließen, rauscht Ihr geradeaus durch. Es wäre schade, wenn
dabei alles an Euch glatt geschliffen würde, wenn von Eurer
Persönlichkeit nicht mehr viel übrig bliebe. Das hört sich sehr
hässlich an, Sophie, aber: Ich habe nicht nur Mitleid mit Euch als
Kindern. Ich habe auch ein bisschen Angst vor Euch als
Erwachsenen.
Wenn Du Abitur
machst, wirst Du 17 sein. Mit 17 lassen wir Euch nicht alleine Auto
fahren und keine Mietverträge unterschreiben. Wenn Du Pech hast,
musst Du Dich für ein Leben als Lehrerin, als Mathematikerin, als
Managerin entscheiden, bevor Du überhaupt weißt, was Du kannst, was Du willst,
wer Du bist. Falls Du dann ein eiliges Bachelorstudium durchhastest,
wirst Du mit 20 die Universität verlassen. Worauf haben wir uns da
nur eingelassen? Wollen wir, dass unsere Enkel von 21-jährigen
Lehrern unterrichtet werden, die kaum mehr von der Welt gesehen
haben als Legehennen? Wollen wir uns von 22-jährigen Bankern mit
Geradeausbiografien betreuen lassen? Uns von 23-jährigen
Unternehmensberatern begutachten lassen?
Wenn Dich Deine
Lehrer, unsere Nachbarn oder die Eltern Deiner Freundinnen jetzt fragen,
warum Dein Vater so aufgebracht ist, dann musst Du wissen: Es
liegt nicht an Dir. Wer glaubt, ich schreibe hier gegen schlechte
Noten an, der hat nichts begriffen. Deine Zensuren sind gut. Ich
bin zornig, weil wir Eure Kinderzimmer zu Büros gemacht haben, Eure
Schreibtische zu Werkbänken, Eure Köpfe zu Lagerhallen.
Wenn sie Dir sagen,
es ist doch nur das eine Jahr, dann antworte ihnen, es geht um Millionen
beschleunigter Leben. Und wenn sie Dich fragen: "Acht oder neun
Jahre, ist das nicht einerlei?", dann sag ihnen: Was wäre los,
wenn die Lokführer plötzlich 15 Prozent mehr arbeiten müssten?
Dieses Land stünde still, über Wochen. Die Tagesschau
würde Abend für Abend mit Streikmeldungen beginnen. Es gäbe
Demonstrationen, auf denen wütende Männer rote Fahnen schwenken.
Es gäbe aufgeregte Talkrunden im Fernsehen, in denen die Erwachsenen
"Ausbeutung" und "Raubtierkapitalismus" brüllten.
Natürlich frage ich
mich: Ist eine Sache nicht nur dann schlimm, wenn Du, Sophie, sie selber
schlimm findest? Habe ich Dich mit diesem Brief zum Faulenzen
aufgefordert, Dir Ausreden und Ausflüchte in den Mund gelegt? Habe
ich Dich verwirrt? Dir überflüssige Sorgen gemacht? Ich hoffe
fast, dass Du diesen Brief inzwischen zur Seite geschoben hast und
irgendwo Waveboard fährst, weil Du das Geschreibsel hier dröge
findest und sowieso Quatsch ist, was von den Eltern so kommt.
Aber Du sollst ruhig wissen, warum wir auf dem Weg ins Kino 17², 56 und 28 gelernt haben.
Du sollst wissen,
warum ich Dich manchmal dressiere wie ein Dompteur sein Zirkuspferd –
und mir dann wieder auf die Lippen beiße, statt nach der Schule zu
fragen.
Du sollst wissen, dass Du mehr bist als die Summe deiner Leistungen.
Du sollst wissen,
warum es manche Deiner Freundinnen nicht schaffen werden, warum ihre
Stühle irgendwann leer bleiben werden.
Du sollst wissen, dass Depression keine Kinderkrankheit ist.
Du sollst wissen, dass die Schulzeit mehr sein sollte als ein Trainingslager fürs Berufsleben.
Du sollst wissen, dass die Gesellschaft an denen wächst, die sie infrage stellen.
Und Du sollst wissen,
dass ich Dir das gestohlene Jahr zurückgeben möchte. An jedem Tag, an
jedem Wochenende – und nach dem Abitur. Am besten kein
Auslandsstudium. Kein Sommerseminar. Sondern einfach eine Reise
ohne Weg und ohne Ziel. Denn wenn Du Deine Seele bis dahin nicht in
einem Klassenzimmer gefunden hast, wirst Du sie auch in einem Hörsaal
nicht finden. Aber vielleicht tief in einem finnischen Wald,
mitten in einem äthiopischen Dorf oder auf der Sitzbank eines
amerikanischen Überlandbusses. Irgendwo, irgendwann, wenn Du es nicht
erwartest.
Und ich hoffe, dass
Du mich dann, wenn es losgehen soll, nicht mitleidig anschaust und
sagst: "Das ist doch reine Zeitverschwendung."
Dein Papa
* Name von der Redaktion geändert
Vera F. Birkenbihl: "Trotz Schule lernen", Ariston
Vera F. Birkenbihl: "Trotz Schule lernen", Ariston
Sabine Czerny: "Was wir unseren Kindern in der Schule antun", Südwest Verlag
Kurt A. Heller (Hrsg.): "Begabtenförderung im Gymnasium", Leske & Budrich
Remo H Largo / Martin Beglinger: "Schülerjahre: Wie Kinder besser lernen", Piper
Birgitta vom Lehn: "Generation G8", Beltz
Julia Strelow: "Ratgeber Nachhilfe", Books von Demand
Labels:
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