Lange Zeit galt Armut in Westeuropa als
überwunden; etwas, das aus den Industrieländern ein für allemal verbannt
schien. Doch nun kehrt sie mit Schärfe zurück, als Folge der Umbrüche
und Umstürze in der Wirtschaftswelt und dem "Umbau" des Sozialstaates.
Die neoliberalen Reformen, die größere ökonomische Effektivität und
größeren Wohlstand bringen sollten, haben viele Menschen in eine
existenzielle Sackgasse geführt. Und das nicht nur in sogenannten
Problemländern wie zum Beispiel Spanien. Dort ist die Lage besonders
bedenklich. Ein Viertel der Bevölkerung ist arbeitslos, Millionen Kinder
leben in Armut oder drohen dahin abzusteigen. Aber auch im reichen
Deutschland, dem europäischen Wirtschaftswunderland, nimmt die Zahl der
Armen zu, ebenso wie in Frankreich. Und nichts deutet darauf hin, dass
diese Situation sich in absehbarer Zukunft zum Besseren wenden wird.
Ganze Bevölkerungsgruppen fühlen sich zunehmend ausgegrenzt. Und die
Armut wird "vererbt". Das stellt auch die Gesamtgesellschaft vor ernste
Herausforderungen: Denn die Kinder sollten eigentlich die Zukunft sein.
Wenn diese aber in den Kreislauf von sozialer Abhängigkeit, Mutlosigkeit
und Perspektivlosigkeit geraten, werden sie nicht in der Lage sein, an
der Zukunft mitzuwirken. Lourdes Picareta beschreibt und analysiert
in ihrem Film die Situation in Spanien, Deutschland und Frankreich. Und
lässt darin unter anderem Sozialforscher und Politikwissenschaftler zu
Wort kommen, die von der "gemachten Armut" sprechen, von einer
Entwicklung, die keineswegs natürlich entstanden ist und vermeidbar
gewesen wäre.
Bangladesch
Tausende protestieren nach Feuer in Textilfabrik
(Video: Reuters, Foto: AP)
Die Frauen nähen wie Getriebene, sie werden beleidigt, sexuell
belästigt, geschlagen. Die Textilproduktion für westliche Konzerne in
Billiglohnländern fußt auf der Ausbeutung von Frauen. Wenn Menschen bei
der Herstellung von Billigtextilien sterben wie jetzt in Bangladesch,
ist der Aufschrei jedes Mal groß. Doch an der Situation ändert sich
nichts.
Von Karin Steinberger und Stefan Weber
Jetzt werden wieder alle aufschreien. So wie im September 2012, als in Pakistan zwei Fabriken abbrannten und mehr als 300 Menschen in den Trümmern erstickten.
Es sind immer die gleichen Bilder: verschmurgelte Nähmaschinen, Männer,
die mit bloßen Händen nach ihren Frauen oder Töchtern graben. Es sind
immer die gleichen Probleme: abgesperrte Notausgänge, vergitterte
Fenster, gefälschte Sicherheitszertifikate, korrupte Fabrikbesitzer. Es
sind immer die gleichen Ausreden: der Druck der Weltwirtschaft.
Jetzt kommen die Bilder also aus Bangladesch.
Jetzt graben die Männer in Savar nach den Resten ihrer Frauen, sammeln
Sandalen und bunte Schals aus der Asche. Mehr als 112 Menschen sind am
Wochenende in der Tazreen-Fashion-Fabrik gestorben, in der jeden Monat
eine Million T-Shirts, 800.000 Polo-Shirts und 300.000 Fleecejacken
produziert wurden, unter anderem für C&A, Carrefour, Kik und
Walmart. Fliederfarben, orange, wie es die Branche gerade wünscht. Jeder
neue Trend in Europa bedeutet, dass die Frauen in Bangladesch
Überstunden machen.
In Bangladesch trauerten sie, Nationalflaggen im ganzen
Land wurden auf Halbmast gesetzt, in den Tempeln beteten die Menschen,
Politiker sagten, was zu sagen ist. Dann schlug die Trauer um in Wut.
Tausende Arbeiter gingen in den vergangenen Tagen auf die Straße,
bewarfen Fabrikgebäude mit Steinen, zerstörten Autos und blockierten
Straßen. Hunderte Fabriken wurden geschlossen.
Ein Mindestlohn von 46 Euro im Monat
Es herrscht eine Stimmung wie im Sommer 2010,
als Zehntausende durch die Straßen der Hauptstadt Dhaka zogen und für
eine bessere Bezahlung in der Branche demonstrierten. Damals kämpften
sie für einen Mindestlohn von 5000 Taka im Monat, 46 Euro. Sie hatten es
satt, mit einem Drittel davon abgespeist zu werden. Sie hatten es satt,
ihr Leben zu riskieren für so wenig Geld. Nichts hatte man von ihnen
gehört in all den Jahren, nichts gelesen außer dem kleinen Schild hinten
in zahllosen T-Shirts und Hosen, in Millionen von knappen
Sommerkleidchen und dicken Winterpullovern: Made in Bangladesch.
Jetzt standen sie auf der Straße, die meisten von ihnen
Frauen. Mit glitzernden Ohrringen und golddurchwirkten Saris. Es war
das erste Mal, dass sie aufbegehrten. Die Fabrikdirektoren jammerten,
dass sie die Forderungen ihrer westlichen Auftraggeber nicht werden
erfüllen können. Es gab Verletzte, Tote. Dann war wieder Ruhe.
Bangladesch
Erneut Brand in einer Textilfabrik
Nur drei Tage nach dem tödlichen Großbrand in einer Textilfabrik
ist in einem weiteren Betrieb in Bangladesch ein Feuer ausgebrochen.
Derweil gingen Tausende Arbeiter auf die Straße, um ihrer Wut über den
verheerenden Großbrand vom Wochenende Luft zu machen.
Millionen von Menschen arbeiten in den
Bekleidungsfabriken Bangladeschs. Die Textilindustrie ist der wichtigste
Industriezweig des Landes. Knapp zehn Prozent aller Textilimporte von
Europa kommen aus Bangladesch, das nach China und der Türkei der
drittgrößte Exporteur von Kleidung nach Europa ist. In einer Umfrage
unter den Einkaufschefs großer Modeunternehmen nannten mehr als drei
Viertel der Befragten Bangladesch als das am stärksten aufstrebende
Einkaufsland für Textil. Aber zu welchem Preis?
Nach Angaben der "Kampagne für Saubere Kleidung" starben in Bangladesch
seit 2006 mehr als 470 Menschen bei Bränden in Textilfabriken. Die
Sicherheitsmaßnahmen aber sind meist noch genau so lausig wie schon
immer. Elektrokabel hängen ungeschützt von der Decke, Notausgänge sind
verschlossen, wenn es überhaupt welche gibt. Fenster sind vergittert.
Übungen zum Brandschutz? Meist unbekannt.
Gisela Burckhardt von der "Kampagne für Saubere
Kleidung" kämpft seit Jahren für bessere Arbeitsbedingungen, für eine
bessere Bezahlung und für bessere Sicherheitsmaßnahmen in der Branche.
Sie hat Diagramme erstellen lassen, in denen gezeigt wird, wie sich der
Preis der Kleider zusammensetzt: 50 Prozent Gewinn und Kosten des
Einzelhandels, 25 Prozent Markenwerbung, 13 Prozent Fabrikkosten, 11
Prozent Transport und Steuern. Und nur ein Prozent Lohnkosten.
Vor ein paar Jahren hat sie Arbeiterinnen aus
Bangladesch nach Deutschland eingeladen. Sie sollten der Ausbeutung ein
Gesicht geben und den deutschen Käufern zeigen, wer den Preis zahlt für
Kleidungsstücke, die so billig sind, dass man sich schämen muss.
Suma Sarker stand in ihrem glitzernden Gewand im
Neonlicht eines Kik-Discounters in Mannheim und fuhr mit der Hand über
die bunten Nähte kleiner Kinderhosen. Winzige Reisverschlüsse, zierliche
Hosentaschen. 60 bis 70 dieser Taschen näht sie in der Stunde. Dann sah
sie das Preisschild: 4,99 Euro. Und konnte es selbst nicht glauben, wie
billig ihre Arbeit ist.
Die Frauen nähen wie Getriebene. Und auch das:
Sie werden beleidigt, sexuell belästigt, geschlagen. Wer einer
Gewerkschaft beitritt, riskiert es, den Job zu verlieren. Gisela
Burckhardt kennt das schon, wenn ihre Telefone nicht mehr stillstehen
nach einer Katastrophe wie dieser. Und in der Zeit dazwischen? Hat sie
Mühe, das Thema zu den Menschen zu bringen.
Brandschutzabkommen werden von H&M und Gap verhindert
Sie sagt: "Es ist dringend notwendig, das Brandrisiko
branchenweit zu bekämpfen. Nur wenn man Gewerkschaften vor Ort mit
einbindet, wird sich etwas ändern." Immerhin: Tchibo und die
US-Bekleidungsfirma PVH, zu der Marken wie Tommy Hilfiger und Calvin
Klein gehören, haben ein Brandschutzabkommen mit
Arbeitnehmervertretern vereinbart.
Es kann allerdings erst in Kraft treten, wenn
mindestens vier große Modefirmen mitmachen. Firmen wie H&M und Gap
weigern sich bis jetzt. Gisela Burckhardt hofft nun auf Metro (Real,
Kaufhof) und Lidl. Beide hat die "Kampagne für Saubere Kleidung" vor
kurzem aufgefordert, das Brandschutzabkommen zu unterzeichnen. Bis jetzt
- keine Antwort.
Das Problem ist nicht, dass es keine
Zertifizierungssysteme gibt. Im Gegenteil. Allein deutschen Unternehmen
stehen etwa 80 verschiedene Instrumente zur Verfügung. Viele Firmen
haben außerdem selbst einen Code of Conduct oder Compliance-Richtlinien
festgelegt. Aber Aufträge werden von Subunternehmer zu Subunternehmer
weitergereicht. Die wenigsten Firmen kennen ihre Lieferkette. Gisela
Burckhardt macht das wütend, wie sich die große Firmen seit Jahren
herausreden. Sie will verhindern, dass es so ist wie immer: Es werden
alle aufschreien.
Aber passieren wird - nichts.
Gaza und Goma: Die Eskalation im Nahen Osten wird stark beachtet, jene im Kongo jedoch kaum. Die Hintergründe.
«Wenn das, was bei uns passiert, im Nahen Osten geschähe, gäbe es
einen weltweiten Aufschrei», sagte ein Kongolese in Goma. Das war vor
ein paar Jahren, als gerade die x-te Gewaltwelle über den Ostkongo
hereinbrach. Einmal mehr wurden Unschuldige ermordet, Kindersoldaten
verschleppt und Frauen jeden Alters vergewaltigt. Das kümmere niemanden,
stellte der Hilfswerksmitarbeiter resigniert fest. Schon damals fiel es
schwer zu widersprechen.
Seither hat sich nicht viel geändert.
Das zeigt sich dieser Tage exemplarisch, weil die beiden Konflikte
gleichzeitig eskaliert sind: Der Krieg zwischen Israel und der Hamas
wird breit thematisiert, die Demokratische Republik Kongo ist hingegen
nur ein Randthema. Damit kontrastieren die Opferzahlen: Während zuletzt
gut hundert Palästinenser und einzelne Israelis getötet wurden, kamen
allein bei einem Massaker in der Provinz Nord-Kivu fast 300 Menschen ums
Leben.
Fünf Millionen Tote
Ohne
Zweifel ist jedes Opfer, hier wie dort, eines zu viel, und ohne Zweifel
ist der Schmerz der Angehörigen überall enorm. Trotzdem frappiert die
unterschiedliche Resonanz, insbesondere wenn man die Zahl der Toten
insgesamt vergleicht: Im arabisch-israelischen Konflikt kamen seit 1948,
dem Jahr, als Israel gegründet wurde, 110'000 bis 150'000 Menschen ums
Leben. Im Kongokrieg starben allein seit 1998 über 5 Millionen Menschen –
das öffentliche Interesse ist umgekehrt proportional.
Weshalb
besteht dieses Ungleichgewicht des Schreckens? Einleuchtend ist erstens
die Erklärung, dass uns Israel politisch und vor allem historisch und
kulturell näher steht als ein afrikanisches Land. Deshalb schnellt der
Puls bei jeder Eskalation im Gazastreifen in die Höhe, egal, ob nun
Israel oder die Hamas kritisiert wird. Kommt hinzu, dass sich fast alle
westlichen Regierungschefs äussern, wenn in Nahost geschossen wird,
angefangen beim US-Präsidenten über die EU-Aussenbeauftragte bis zum
Bundesrat. Und soeben ist der UNO-Generalsekretär wieder einmal in die
Region gereist, um zu vermitteln; wird hingegen wie gestern Goma
angegriffen, äussert sich allenfalls sein Sprecher in New York.
Unterschätzter Krieg im Kongo
Zweitens
erlaubt der Konflikt im Nahen Osten im Gegensatz zu jenem im Kongo eine
Identifikation. Je nach Standpunkt kann man Partei ergreifen. Die einen
sind die Guten, die anderen die Bösen. Dagegen tritt im Kongo alle paar
Monate eine neue Rebellengruppe auf, die Begriffe wie Demokratie oder
Freiheit in ihrem Namen trägt, aber mordet und vergewaltigt. Das gilt
selbst für die Regierungstruppen. Vor diesem scheinbaren Durcheinander
haben die westlichen Medien längst kapituliert. Beachtung erhalten
dagegen allerlei moderne Wunderwaffen, die im Nahen Osten vorgeführt
werden – der dritte Punkt, der die Aufmerksamkeit fördert. Derzeit ist
es der «Iron Dome», das neue Raketenabwehrsystem der Israelis. Ausserdem
kommunizieren beide Seiten neuerdings über die digitale Gerüchteküche
Twitter. In Goma hingegen wird nicht mit Hightech gemordet, sondern mit
Macheten und ohne trendigen Tweet darüber.
Trotzdem ist der Fokus
auf den Nahost-Konflikt nur bedingt nachvollziehbar. Denn er hat kaum
jene globale Bedeutung, die ihm zugeschrieben wird. So galt nach 9/11
die Lösung des Palästinaproblems als Voraussetzung, um die al-Qaida zu
besiegen. Inzwischen ist Osama bin Laden tot und seine
Terrororganisation zumindest eingedämmt, Frieden in Nahost aber ferner
denn je. Und auch die Mullahs in Teheran würden kaum ihre
Atomwaffenpläne schubladisieren, wenn die Palästinenser endlich ihren
Staat erhielten.
Die internationale Bedeutung des Krieges im Kongo
hingegen wird unterschätzt. Dabei ist jeder, der auf seinem Smartphone
die News aus dem Gazastreifen abruft, abhängig vom Kongo: Die
Kondensatoren, die tropfenförmigen Perlen im labyrinthischen Inneren
jedes Mobiltelefons und jedes Laptops, sind aus dem Metall Tantal
hergestellt, das aus Coltan gewonnen wird, und dieses stammt
hauptsächlich aus dem Ostkongo.
Rohstoffreservoir für den Reichtum des Westens
Damit
hat der Kongo den Rohstoff für die Informationsrevolution geliefert,
wie zuvor Kupfer und Kautschuk für die industrielle Revolution; auch das
Uran für den Startschuss ins atomare Zeitalter kam aus dem Kongo. Seit
dem 19. Jahrhundert ist der Subkontinent das Rohstoffreservoir für den
Reichtum des Westens. Entsprechend haben hier die europäischen
Grossmächte sowie Washington und Moskau um Einfluss gekämpft. Inzwischen
hat China die Nase vorn; Anfang Woche hat Peking gar angekündigt,
eigens für den Kongo einen Kommunikationssatelliten ins All zu schiessen
– das ärmste Land der Welt ist von enormer strategischer Bedeutung. Das
wird oft ignoriert, ganz zu schweigen vom Leid, das seinen Bewohnern
regelmässig widerfährt, derzeit in Goma.
Nirgendwo sonst in Afrika wird so viel Kupfer produziert wie in
Mufulira. Der Schweizer Rohstoffkonzern Glencore betreibt in dieser
Stadt in Sambia mehrere Untertageminen und eine riesige Kupferhütte.
Mufulira heisst zu Deutsch „Ort des Reichtums“. «Reporter» zeigt ein
Portrait der Minenstadt und geht der Frage nach, wie die Einwohner vom
Rohstoffreichtum profitieren.
Glencore hat die Mine in Sambia
2001 übernommen und die Kupferproduktion massiv gesteigert. Dabei sind
die Schwefeldioxid-Emissionen des Werks derart angestiegen, dass sie
Gesundheitsschäden verursachen, wie der Chefarzt des Spitals, Makasa
Sichela, erzählt: „Wenn die Fabrik viel Abgase ausstösst, werden hier
Neugeborene mit Atemnot und Lungeninfektionen eingeliefert.“
Die
Schweizer Besitzer sind daran die Kupferhütte zu erneuern. Dabei werden
einige der Umweltprobleme nicht gelöst, sondern verlagert, wie Reporter
Res Gehriger in Mufulira feststellt.
Letzen Freitag veranstaltete die Besitzerin der BaZ, die
Medienvielfalt Holding AG, einen geschlossenen Anlass zum Thema «Die
Rolle der Medien in der Demokratie». Referenten waren Markus Spillmann,
Chefredaktor der NZZ, Ruedi Matter, Direktor von Radio und Fernsehen,
Roger Köppel, Verleger der «Weltwoche», und ich. Hier meine Rede.
Sehr geehrte Frau Präsidentin Masoni,
Sehr geehrter Herr Tettamanti,
Sehr geehrte Damen und Herren,
ich danke Ihnen für Ihre Einladung. Es ist ein Privileg, hier kurz
über Journalismus und Demokratie nachzudenken, denn Journalismus ist ein
Handwerk und Demokratie eine grosse Sache, und normalerweise sitzt man
in seinem Büro mit halb geleerten Eisteeflaschen und halb fertigen
Texten und denkt nicht an Demokratie.
Im Grund braucht es das auch nicht. Denn bei den spektakuläreren
Momenten des Schreibens – den Momenten der Erkenntnis, des Zorns, des
Witzes – ist man ganz bei sich und das ist gut so. Denn am stärksten ist
Journalismus, wenn er so einfach wie möglich ist: Wenn er die Stimme
eines einzelnen Menschen ist, der sagt, was er gesehen oder gedacht hat.
Der wichtigste Moment, wo ich im Alltag an die Wirkung, also das
Publikum, also im weitesten Sinne an die Demokratie denke, passiert in
den stillsten, unspektakulärsten Teilen des Textes. Dort, wo ich
unauffällig Erklärungen nachschiebe, etwa, was zum Teufel ein Derivat
ist oder wie sich eine Transaktion genau abspielt hat.
Ich feile oft am längsten an diesen stillen Passagen, denn sie müssen
klar und genau sein, trotz aller Knappheit. Sie müssen Volkshochschule
sein, ohne dass sie nach Volkshochschule klingen.
Denn das ist meine wichtigste Aufgabe als Journalist, mein Service an
die Öffentlichkeit: präzis die Grundlagen zu liefern, von denen aus
diskutiert werden kann. Mein Job ist, eine komplexe Welt verständlich zu
machen, ohne ihre Komplexität zu verraten. Der Rest, nicht zuletzt
meine Meinung, ist sekundär: Es ist der Anstrich des Hauses, nicht sein
Fundament.
Die Anti-Mainstream-Strategie
Deshalb zweifle ich auch an der Art Journalismus, den Sie als Verein
fördern. Sowohl handwerklich, als auch, ob dieser die Demokratie stützt.
Ihre Medienvielfalt Holding AG hat bisher in ähnlicher Besetzung zwei
Blätter neu lanciert: die «Weltwoche» und die «Basler Zeitung». Beide
mit Herrn Tettamanti als Hauptaktionär, Herrn Matter als Banker, Herrn
Wagner als Anwalt, Herrn Leutenegger als Verlagschef. Und mit Herrn
Blocher als Hauptgesprächspartner des Chefredaktors.
Ihre Zeitungen sollen, wie Ihr Verein im Namen schon sagt, die
Medien- und die Meinungsvielfalt fördern. Dazu, wie man in Interviews
liest, wollen Sie Transparenz schaffen und Denkblockaden abbauen. Doch
mit welchen Mitteln tun sie das?
Nun, wenn man die «Weltwoche» ansieht, so ist deren technischer
Haupttrick, das Gegenteil vom sogenannten Mainstream zu schreiben. Das
erscheint zunächst als gute Idee: Das Gegenteil der allgemeinen Gedanken
ist oft ein inspirierender Gedanke. Die Frage ist nur, ob es auf lange
Sicht eine kluge Strategie ist.
Ich glaube das nicht, aus folgenden Gründen:
Zunächst ist schon die Annahme seltsam, dass der Mainstream immer falsch liegt. Noch seltsamer ist die Annahme, dass er immer genau falsch liegt: um 180 Grad, so wie eine Kompassnadel, die stets nach Süden zeigt.
Am Anfang kann man mit Anti-Mainstream die Leute verblüffen, ärgern,
vielleicht sogar zum Denken, ja zum Ändern der eigenen Meinung bringen.
Aber ziemlich bald ist diese Strategie nichts als negativer
Opportunismus: Man sagt stets das Gegenteil des vermuteten Konsenses.
Und ist dadurch im Kopf vom Mainstream genau so abhängig wie sonst nur
der modischste Mensch. Und genau so blind: Denn es geht einem nicht um
die Tatsachen, nur um die Meinungen über die Tatsachen in der
Öffentlichkeit.
Die Themenwahl eines solchen Blattes wird extrem berechenbar: Die
eskalierende Finanzkrise – existiert nicht; Fukushima – war keine
Katastrophe; Berlusconi und Putin – sind ehrenwerte Männer; das
Weltklima – kühlt sich ab; Frauen – sind das regierende Geschlecht;
Radioaktivität – ist gesund.
Die Folge: Sie werden unglaubwürdig. Zwar wären viele Thesen – etwa
dass Radioaktivität gesund, Bundesrätin Widmer-Schlumpf eine
Landesverräterin oder der Klimawandel eine Massenverblendung von
tausenden Experten ist – interessant. Aber dadurch, dass gar nichts
anderes in dem Blatt stehen kann – also kein positives Wort über
Widmer-Schlumpf, nicht, dass Fukushima doch eine Katastrophe war – ist
ihr Dynamit nass geworden: Man hat nun bei jeder These in der
«Weltwoche» das Gefühl, man müsse sie erst persönlich nachrecherchieren.
Und dazu fehlt einem die Zeit. Ich habe ein Kind, einen Job, einen Blog
und eine Liebe. Da bleibt kein Platz für die «Weltwoche».
Das auch, weil das Blatt durch seine Berechenbarkeit längst kaum mehr aufregt. Es langweilt. Es langweilt immer mehr.
Um die «Weltwoche» überhaupt lesen zu können, muss man ihr also
glauben. Durch ihre Strategie des konstanten Anti-Mainstreams ist die
ganze Zeitung en bloc zur Glaubenfrage geworden: Man glaubt ihr alles
oder nichts. Kein Zufall, beschreiben sie einige Anhänger als: ihre
Bibel. Doch mit diesem Sprung von Informationsmedium zur Glaubenssache
verkörpert sie nicht nur das Gegenteil von Kritik. Sondern ist auch das
Gegenteil von Service für die Demokratie.
Der Bau von Paralleluniversen
Denn die Aufgabe der Presse ist es ja, mal recht, mal schlecht, einen
Mainstream herzustellen: eine holprige, vage, aber dennoch brauchbare
Einigung über Fakten und Einschätzungen, auf Grund deren man debattieren
kann.
Wenn aber nun mit Mainstream und Anti-Mainstream zwei
Paralleluniversen mit je eigenen Fakten und Logiken bestehen, ist das
ein Schaden für die Demokratie. Dann gibt es keine Gemeinsamkeiten,
keine Grundlagen mehr, sondern nur noch Meinungen. Und Anhänger davon.
Also zwei Lager, die nicht verschiedene Ansichten, sondern verschiedene
Wirklichkeiten haben.
Es ist kein Wunder, dass die «Weltwoche» dieses Lagerdenken intern wie in ihren Artikeln immer stärker betont: Es gibt nur noch wir und ihr.
Kein Wunder, schleichen sich paranoide Züge in ihre Weltsicht ein:
Etwa, wenn sie ernsthaft behauptet, die seit mehr als 150 Jahren solid
bürgerliche Schweiz werde in Wahrheit von getarnten Sozialisten regiert.
Und typisch wie für jedes Lagerdenken ist ihre zunehmende
Polizeimentalität: Politiker, Publizisten, Professoren erscheinen auf
wie Fahndungsplakate gestalteten Titelblättern als Irrlehrer oder
Landesverräter. Diese Art Grafik ist kein Scherz. Es ist ein Zeichen der
Verachtung für alle, die die Meinung des Blatts nicht teilen.
So kommt es auch, dass – wegen ihrer Berechenbarkeit, aber auch ihrer
Isolation – zwar die Kraft der «Weltwoche», Themen durchzusetzen,
zunehmend erodiert. Nichts, was sie schreibt, überrascht mehr. Aber Ihr
Drohpotential ist gewachsen: Schon wegen des engen Bündnisses mit dem
reichsten Politiker des Landes wird die «Weltwoche» gefürchtet. Das
nicht zuletzt in der Partei von Christoph Blocher selbst.
Investieren in den Realitätsverlust
Der Aufbau einer Parallelwelt ist aber auch gefährlich für Sie, meine
Damen und Herren. Für alle, die an die «Weltwoche» glauben. Das grosse
Vorbild für alle Medien, die vor allem politischen Einfluss suchen, ist
Fox News. Fox hat den Durchbruch geschafft: Die republikanische Partei
der USA hat mit der Speerspitze Fox ein eigenes, geschlossenes
Mediensystem aus Radioshows, Magazinen und Blogs errichtet. Und damit
ihre eigene Wahrheit, ihre eigenen Fakten, ihr eigenes Universum. Und
hat sich dadurch zunehmend radikalisiert. So radikalisiert, dass nicht
nur die Politik des ganzen Landes durch zwei Wirklichkeiten gelähmt ist.
Sondern auch die republikanische Partei sich selbst sabotiert: Bei der
jüngsten Wahl sorgten etwa vier ultrakonservative, steinreiche
Milliardäre im Bündnis mit ultrakonservativen Fox-Moderatoren dafür,
dass in den parteiinternen Vorwahlen die untauglichen Konkurrenten von
Herrn Romney fast bis zum Schluss im Rennen blieben. Und ihn weit in
ihre Parallelwelt nach Rechts trieben. Obwohl Präsidentschaftswahlen in der Mitte gewonnen werden.
Am Ende glaubte der unglückliche Kandidat Romney selbst an die Fox-Welt: Wie man jetzt liest,
glaubte er tatsächlich, dass sämtliche Zahlen von neutralen
Umfrageinstituten falsch seien. Also dass in Wahrheit er weit vorne
liege, weil alle ausser den parteieigenen Spezialisten und den
Fox-Experten sich irrten. Darauf baute Romney dann eine vollkommen
falsche Kampagnentaktik. Die Niederlage traf den Kandidaten, sein Team,
seine Geldgeber, die ganze Partei dann völlig unerwartet. Das
Paralleluniversum zerschellte an der Wirklichkeit.
Sie, meine Damen und Herren, riskieren also als Investoren in eine
mediale Gegenwelt mehr als nur viel Geld: den Realitätsverlust.
Denn die Denkverbote sind heute längst auf Ihrer Seite. Etwa wenn Roger Köppel sagt:
Die Wirtschaft wird durch den Wettbewerb kontrolliert.
Als Journalist kann ich mir nicht anmassen, Unternehmen oder das
Management zu kritisieren. Kritische Unternehmensberichterstattung ist
nicht Sache des Journalismus.
Wenn ein Profi-Beobachter die halbe Welt aus der Kritik, ja überhaupt
aus dem Blick ausschliesst, und dies einfach aus Prinzip, dann sollten
Sie gewarnt sein: Das ist die Haltung eines bereits blinden Ideologen.
Die zwei grössten Probleme der BaZ
Damit zu Ihrem aktuellen Projekt, der «Basler Zeitung». Es ist
unschwer zu erkennen, dass Sie damit versuchen, das Projekt «Weltwoche»
zu kopieren, «die ja schon das Richtige tut», wie Ihr Hauptaktionär Tito
Tettamanti sagt.
Und tatsächlich läuft alles wieder gleich ab: Sie haben Köppels
langjährige Nummer zwei als Chefredaktor eingesetzt, wie in der ersten
Zeit nach der Machtübernahme Köppels gibt es Verwirrung und Protest
überall, der neue Chef beschwört – wie einst Köppel – den «Pluralismus»:
und zwar mit demselben Konzept von Pluralismus als Polemik von beiden
Seiten. In der Praxis heisst das: Einige linke Alt-Politiker schreiben
Feigenblatt-Kolumnen, während wie damals bei der «Weltwoche» mehrere
Säuberungswellen durch die Zeitung jagen. Die alten Redaktoren gehen,
linientreues Personal kommt.
Die Frage bleibt, wie Sie hier Ihre grossen Ziele Medienvielfalt,
Transparenz, Pluralismus verwirklichen wollen. Sie haben dabei
mindestens zwei Probleme:
Ihr Chefredaktor, Markus Somm, ist ein Mann, der sein halbes Leben
lang sämtliche Leute als zu wenig links kritisierte. Heute kritisiert er
sie als zu wenig rechts. Dieser Mann ist im Kern kein Journalist. Er
ist nicht einmal ein politischer Mensch. Denn sein Standpunkt ist immer –
links wie rechts – jenseits des politisch Möglichen. Sie haben als Boss
einen Prediger gewählt.
Sie, meine Damen und Herren, stehen selbst im Verdacht, Marionetten
zu sein. Nehmen wir die berühmte Vorgeschichte Ihrer Übernahme der
«Basler Zeitung»: Ein Parteiführer und Milliardär lässt im Geheimen
seine Tochter eine Zeitung kaufen und schiebt gegenüber der
Öffentlichkeit einen Flugunternehmer als Besitzer vor und gegenüber den
Banken den ehemaligen Chef einer Grossbank. Und all das, um seinen
Biographen als Chefredaktor einzusetzen. Das ist eine Geschichte, die
klingt wie aus Russland. So etwas tun Oligarchen.
Zwar behaupten Sie, Herr Blocher habe in Ihrem Unternehmen nichts
mehr zu sagen. Er würde nur noch das Defizit decken. Was ich dann nicht
verstehe, ist: Warum haben Sie den gesamten Jasstisch eines seiner
beiden Strohmänner, des Ex-UBS-Chefs Marcel Ospel, in den Verwaltungsrat
gesetzt, wenn Ihnen Ihre Reputation als Unabhängige lieb ist?
Kein Wunder, haben Sie mit ihrer Zeitung furchtbare Probleme: Die
Auflage hat einen Viertel verloren, Herr Blocher hat bereits 20
Millionen eingeschossen und fungiert – wie erst letzte Woche in der «NZZ
am Sonntag» – als Unternehmenssprecher, der die Strategie – eine
«nackte Zeitung ohne Druckerei» – bekannt gibt. Und der politische
Erfolg hält sich auch in Grenzen: Nach einer monatelangen
Kriminalitätskampagne in der “Basler Zeitung” wurde kein einziger der
Politiker, die in der BaZ darauf einstiegen, in die Regierung gewählt;
und im Parlament gewann die SVP nur zwei kümmerliche Sitze dazu.
Diese Rechnung ist sogar für einen Milliardär teuer: 10 Millionen Franken pro gewonnenen Sitz in einem Regionalparlament.
Drei Ratschläge
Zum Schluss: Was sollten Sie tun?
Nun, wenn Ihnen – trotz allen Argumenten – eine rechtskonservative Parallelwelt
am Herzen liegt, dann deklarieren Sie die «Basler Zeitung» offen als
Parteiblatt. Die Schweiz hat eine lange Tradition von Parteiblättern.
Zwar waren diese meist gemässigter als die «Basler Zeitung», weil sie
sich an der Basis der Partei orientierten. Und nicht am Chef. Aber es
gibt enorm Kraft, nicht mehr dauernd Verstecken spielen zu müssen.
Wenn Ihnen hingegen die Pressevielfalt am Herzen liegt,
dann schaffen Sie mit Ihrem Geld, statt es in Basel zu verbrennen, eine
Stiftung, die bestehenden kritischen Journalismus unterstützt.
Meinetwegen auch nur konservativen. Denn die von Ihnen zu Recht
kritisierte Uniformität in einigen Teilen der Presse geht nicht auf
Denkverbote oder Ideologie zurück, sondern meist auf die
Arbeitsbedingungen: auf Zeit-, also auf Geldmangel.
Wenn Ihnen aber politische Ziele wie Deregulierung, Stärkung der Banken und Konzerne, sowie Einfluss von finanzkräftigen Individuen
am Herz liegen, so tun sie am allerbesten: gar nichts. Denn Erfahrung
zeigt: Je schlechter die Leute informiert sind, desto mächtiger sind die
bereits Mächtigen. (Ein Beispiel hier.)
Und bei der wirtschaftlich bedingten Schrumpfung der Presse regelt Ihr
Anliegen diesmal tatsächlich am besten der, der angeblich alles regelt:
der Markt.
Ich danke Ihnen für Ihre Einladung. Eine kritische Stimme einzuladen,
beweist Toleranz, zumindest Neugier. Deshalb bedaure ich sehr, Ihnen
sagen zu müssen, dass ich für Ihr Projekt, so wie es sich derzeit
darstellt, keine Chance auf Erfolg sehe: nicht publizistisch, nicht
finanziell, nicht politisch. Und dass ich auch zweifle, dass ein Erfolg
Ihres Projekts – sowohl für die Presse wie für die Demokratie –
überhaupt wünschbar wäre.
Korrektur: Die SVP Basel gewann nach der ersten
Auszählung der Briefstimmen 2 Sitze im Basler Grossrat. Doch das änderte
sich. Nachdem zusätzlich auch die Urnen ausgezählt waren, war es nur
einer. Das lässt die Kosten des gewonnenen Sitzes auf 20 Millionen
Franken hochschnellen. So viel wie die Kosten des landesweiten
SVP-Wahlkampfs in den Wahlen 2011. (Mit Dank an Renato Beck)